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17. Allegra – unterwegs – 08.07.2145

Ihren Ge­burts­tag hat­te sie sich an­ders vor­ge­stellt. Nicht un­be­dingt gla­mou­rös, aber mit ein paar klei­nen Ge­schen­ken und ei­ni­gen Cup­ca­kes mit ro­sa­far­be­nem Guss und Zucker­wat­te­ge­schmack.

Statt­des­sen war sie über­mü­det, weil sie auf dem un­be­que­men Flug­bahn­hofs­sitz kaum ge­schla­fen hat­te, ih­re Fü­ße schmerz­ten im­mer noch vom un­ge­wohn­ten Ren­nen. Der vor Smog ro­sa­far­be­ne Son­nen­auf­gang ver­kün­de­te be­reits das na­he En­de der Sperr­stun­de. Das Geräusch ei­nes Stra­ßen­rei­ni­gungs­fahr­zeugs hat­te sie ge­weckt.

Has­tig stand sie auf, streck­te sich und klopf­te un­auf­fäl­lig ih­re Ho­sen­ta­schen dar­auf ab, ob sie noch al­les Nö­ti­ge bei sich hat­te. Wenn sie den UniCom auf dem Weg nach New Or­leans ver­lor … was dann?

Noch konn­te sie sich frei be­we­gen, sie war sich si­cher, dass Miss Tan ihr Ver­schwin­den noch nicht ge­mel­det hat­te. Ei­ne Ver­miss­ten­mel­dung muss­te nach Ablauf von 72 Stun­den ab­ge­ge­ben wer­den, was Miss Tan be­stimmt aus­rei­zen wür­de. Bis da­hin konn­te sie die An­nehm­lich­kei­ten der Zi­vi­li­sa­ti­on – voll­au­to­ma­ti­sche Ul­tra­schall­hy­gie­ne­an­la­gen, Strom, In­ter­net – nut­zen.

Al­le­gra kauf­te über den UniCom ein Zug­ticket nach Cam­den, Ala­ba­ma. Wei­ter ließ der UniCom sie nicht bu­chen und grau­te die ent­spre­chen­den Fel­der aus. Das brach­te sie im­mer­hin nicht nur über meh­re­re Coun­ty-Gren­zen, son­dern auch über die Gren­ze des Bun­des­staa­tes, und so wie sie die Ver­wal­tung in der Uni­ted World ein­schätz­te, reich­te das, um zu­min­dest der Mu­tan­ten-Raz­zia in un­mit­tel­ba­rer Nä­he zu ent­ge­hen.

Schnell rief sie ihr Gut­ha­ben ab. Nur noch 17 Units, trotz Schü­ler­ra­batt für das Ticket. Das reich­te noch für ein paar Hal­te­stel­len mit ei­ner der Bah­nen vor Ort. Und dann hat­te sie oh­ne­hin kei­ne Ver­wen­dung mehr für Geld, in New Or­leans konn­te man mit den Units nicht zah­len, des­sen war sie sich si­cher.

Was sie in Cam­den ma­chen wür­de, wuss­te sie noch nicht. Au­ßer zu du­schen und ih­ren UniCom auf­zu­la­den, aber da­für wür­de sie kei­ne Stun­de brau­chen. Und dann muss­te sie schau­en, dass sie ir­gend­wie fort­kam. Vo­rerst muss­te es rei­chen, sich in Rich­tung Loui­sia­na zu be­we­gen.

Der Zug hat­te kei­ne Fens­ter, ver­mut­lich, um den Rei­sen­den den An­blick ei­ner Land­schaft zu er­spa­ren, die in schwin­del­er­re­gen­der Ge­schwin­dig­keit vor­bei­rausch­te.

Sie spür­te nur ein lei­ses Zie­hen im Ma­gen, wie beim Fahr­stuhl­fah­ren, auf Dau­er et­was un­an­ge­nehm, und sie hoff­te, dass es ver­ge­hen wür­de.

»Hap­py bir­th­day to me, hap­py bir­th­day to me …«

Im Zug sa­ßen Pend­ler, Ge­schäfts­leu­te und ei­ne gan­ze Schul­klas­se vol­ler krei­schen­der Kin­der samt Leh­re­rin.

Al­le­gra saß ab­seits und fühl­te sich ein­sam. Dass nach und nach al­le au­ßer ihr aus­stie­gen und sie in na­he­zu voll­kom­me­ner Stil­le zu­rück­lie­ßen, mach­te es nicht bes­ser.

Sie war al­lein, als sie am End­bahn­hof den Zug ver­ließ und nach dem viel zu lan­gen und be­eng­ten Sit­zen auf den Bahn­steig staks­te. Gie­rig at­me­te sie die fri­sche Luft ein und lehn­te sich an ei­ne ani­mier­te Wer­be­ta­fel. Ihr Ma­gen muss­te sich erst noch dar­an ge­wöh­nen, dass sich nichts mehr be­weg­te.

Nur ein paar Tee­na­ger stan­den in ei­ni­ger Ent­fer­nung bei den Re­cy­cling­s­ta­tio­nen her­um und ga­ben vor­ein­an­der mit blin­ken­den Turn­schu­hen an.

Ei­lig ließ sie ih­ren Ruck­sack auf ih­re Fü­ße glei­ten und zog ih­re Was­ser­fla­sche her­aus.

Sie war ge­ra­de da­bei, einen Schluck zu trin­ken, als ein Ju­gend­li­cher sich an die glei­che Wer­be­ta­fel lehn­te und ihr viel zu na­he kam. »Ist das ei­ne Jog­ging­ho­se oder ei­ne Py­ja­ma­ho­se?«

Al­le­gra sah ihn di­rekt an. »Jog­ging­ho­se. Kann man aber auch drin schla­fen.« Sie konn­te kei­nen Är­ger ge­brau­chen, nicht jetzt! Sie muss­te nur einen Zug er­wi­schen, wann fuhr denn ei­ner von die­sem Kaff aus ir­gend­wo an einen brauch­ba­ren Ort?

»Schläft es sich oh­ne nicht be­que­mer?«

»Nicht wirk­lich.«

»Und wenn ich dir ein­hei­ze?«

Sie mus­ter­te ihn vom sil­bern ge­färb­ten Schei­tel bis zu den blin­ken­den Soh­len sei­ner Turn­schu­he. »Nein, dan­ke.«

»Nein, dan­ke?«

»Sa­ge ich doch.« Sie ver­such­te, das Zit­tern aus ih­rer Stim­me zu ver­ban­nen. Es war mit­tags. Wie­so wa­ren hier kei­ne an­de­ren Leu­te? Gab es nicht ir­gend­wo einen Knopf, um die Se­cu­ri­ty zu alar­mie­ren? Sie tas­te­te mit der frei­en Hand an der Wer­be­ta­fel her­um.

»Du hast mich nicht ver­stan­den. Es geht nicht dar­um, was du willst oder was du nicht willst, Jog­ging­ho­se. Ent­we­der du gehst mit mir auf die Bahn­hof­stoi­let­te und stellst dich da ein we­nig ge­schickt an oder ich neh­me dir dei­nen Ruck­sack ab.« Er grins­te breit und zwin­ker­te ihr zu.

»Hey, da ist nur Es­sens­kram drin!«

»Dann hast du nichts au­ßer dei­nem Kör­per zu bie­ten. Wie scha­de … Jungs?« Er pack­te Al­le­gra am Arm. »Guckt mal! Frisch­fleisch!«

Al­le­gra hol­te aus und schlug ihm mit der halb lee­ren Fla­sche hef­tig auf die Na­se.

Er schrie über­rascht auf und ließ sie los. Blut spritz­te auf sein lä­cher­li­ches T-Shirt.

Al­le­gra schnapp­te sich ih­ren halb­of­fe­nen Ruck­sack und rann­te in Rich­tung Bahn­hof, aber das war an­schei­nend nicht die bes­te Idee – dort ka­men ihr zwei wei­te­re Ge­stal­ten in grell blin­ken­den Turn­schu­hen ent­ge­gen und schnit­ten ihr grin­send den Weg ab.

»Na, Püp­pi? Un­ter­wegs zum Yo­ga? Wir könn­ten üben!« Ein Kerl mit zin­no­ber­ro­tem Pony streck­te die Zun­ge her­aus und leck­te sich über die Lip­pen.

»Nur über mei­ne Lei­che.«

»Kannst du ha­ben.«

Sie schlug dem einen ih­ren Ruck­sack ins Ge­sicht und schleu­der­te ihn dann dem an­de­ren ent­ge­gen.

Die Ker­le gin­gen aus­ein­an­der und Al­le­gra hech­te­te zwi­schen ih­nen hin­durch, oh­ne zu­rück­zu­schau­en. Sie muss­te weg, ein­fach nur weg, und das so schnell wie mög­lich!

18. Avriel Adamski – Atlanta – 08.07.2145

Wa­ren im­mer so vie­le Cops auf den Stra­ßen oder pa­trouil­lier­ten sie ver­stärkt sei­net­we­gen? Er wuss­te es nicht. Und es lag nicht in sei­nem In­ter­es­se, es her­aus­zu­fin­den. Auch den Mu­tan­ten­mi­li­zen, die in Grup­pen die Stadt durch­kämm­ten, muss­te er auf ei­ne mög­lichst lo­cke­re Art aus dem Weg ge­hen, so­dass es nicht ver­däch­tig er­schi­en. Bei­läu­fig.

Al­so tat er das, was Tou­ris­ten so ta­ten. Wann im­mer Po­li­zis­ten ihn zu lan­ge be­ob­ach­te­ten, blieb er vor Se­hens­wür­dig­kei­ten ste­hen und schoss Fo­tos mit dem UniCom. Oder stell­te sich in ei­ne Rei­he vor den Kaf­fee­bot, um über­teu­er­ten Kaf­fee zu trin­ken.

Ir­gend­wann fühl­te er sich er­schöpft, trau­te sich je­doch nicht, auf ei­ner Bank aus­zu­ru­hen. Wenn er wie ein Pen­ner wirk­te, griff man ihn be­stimmt auf. Al­so hat­te er sich ein Ticket für ir­gend­ei­nen 5D-Film ge­kauft und war ge­nau an der Stel­le ein­ge­schla­fen, an der ein Bö­se­wicht dem ein­ge­sperr­ten Hel­den sei­nen fins­te­ren Plan dar­leg­te. Erst beim über­lau­ten Ein­set­zen des Ab­spanns schreck­te er auf und wank­te aus dem Ki­no an die fri­sche Luft.

Abend­däm­merung. Bald be­gann die Sperr­stun­de. Zeit, sich zu sei­ner Zie­l­adres­se zu be­ge­ben.

Er um­run­de­te den Häu­ser­block und nä­her­te sich dem Haus von der an­de­ren Sei­te. Tat so, als wür­de er die Wer­be­säu­le an­schau­en, und über­leg­te, ob er so­fort bei Aria­ne klin­geln soll­te.

Da ver­ließ ei­ne Blon­di­ne – wie soll­te er her­aus­fin­den, ob sie es war? – das Haus, schloss ab und nä­her­te sich ziel­stre­big dem Zi­ga­ret­ten­au­to­ma­ten, an dem er sein Lei­h­au­to ge­parkt hat­te. Sie han­tier­te mit ih­rer Kar­te, doch der Au­to­mat blink­te in ei­nem wü­ten­den Rot. Die alt­mo­di­schen Blond­löck­chen wipp­ten im Rhyth­mus ih­rer wü­ten­den Flü­che und als sie es end­lich schaff­te, zu zah­len, fie­len die zwei Pa­ckun­gen auf den Bo­den.

Am liebs­ten wä­re er zu ihr ge­rannt, aber Avri­el hielt sich zu­rück. Sein Herz klopf­te schmerz­haft. Wenn sie das war! Er durf­te sie auf kei­nen Fall ver­schre­cken. Al­so nor­ma­le Spa­zier­ge­schwin­dig­keit.

Die Blon­di­ne kämpf­te im­mer noch mit den Fol­gen der Schwer­kraft. »Mist, Mist, Mist!« Sie ver­such­te, trotz High Heels und kur­z­em Rock nach den Zi­ga­ret­ten zu an­geln.

Das war die Ge­le­gen­heit, sie an­zu­spre­chen. »Ei­nen Mo­ment, ich hel­fe Ih­nen.« Avri­el trat zu ihr, beug­te sich schnell hin­un­ter und reich­te ihr die Zi­ga­ret­ten­pa­ckun­gen. Da­bei blick­te er ihr ins Ge­sicht. Das muss­te sie sein!

»Dan­ke.« Sie lä­chel­te va­ge. Ver­mut­lich war sie äl­ter, als sie aus­sah, ih­re Klei­dung wirk­te mo­disch ge­se­hen nicht ganz auf der Hö­he. Auch ihr Lo­cken­haar­schnitt war eher von der Art, wie ihn we­sent­lich äl­te­re Frau­en tru­gen. Den­noch … rich­te­te er sei­ne Au­gen auf die lan­gen Bei­ne der Frem­den und folg­te ih­nen lang­sam mit dem Blick nach oben, bis der Saum ih­res Mi­ni­rocks sei­ne ›Wan­de­rung‹ stopp­te.

»Mei­ne Au­gen sind wei­ter oben. Noch wei­ter … Ja, ge­nau.«

Ich weiß! Pein­lich be­rührt starr­te er ihr ins Ge­sicht, das sich zu ei­nem spöt­ti­schen Lä­cheln ver­zog. Ih­re blau­en Au­gen leuch­te­ten leicht im Dun­keln.

»Al­so, ähm … Ich soll­te dann mal los.« Wie­so be­nahm er sich so lä­cher­lich?

»Ja, dan­ke für dei­ne Hil­fe.« Die Frau staks­te auf ih­ren High Heels da­von.

Avri­el zähl­te bis zehn, dann at­me­te er tief ein. Sie war es, und wenn er die­se win­zi­ge Chan­ce nicht ver­strei­chen las­sen woll­te, muss­te er ihr nach! So­fort!

Er lief hin­ter ihr her. »War­ten Sie!«

Die Frau mach­te sich nicht die Mü­he, lang­sa­mer zu ge­hen.

Avri­el spür­te ein hef­ti­ges Ste­chen in sei­ner Sei­te. Be­nom­men lehn­te er sich an ei­nes der Häu­ser.

Sie dreh­te sich am En­de doch noch um. »Kann ich Ih­nen hel­fen, jun­ger Mann? Bald ist Sperr­stun­de, soll ich Sie nach Hau­se brin­gen?«

Avri­el schüt­tel­te den Kopf. »Nein. Nein, es geht. Al­les in Ord­nung. Es ist nur … Ich muss mit Ih­nen spre­chen.« Er zwang sich zu ei­nem Lä­cheln.

»Mit mir?« Sie zün­de­te sich ei­ne Zi­ga­ret­te an. »Wa­rum?«

»Das kann ich hier drau­ßen nicht sa­gen.« Er schau­te sich ge­hetzt um.

Es gab nicht viel zu se­hen. Ein paar Ein­fa­mi­li­en­häu­ser wie die in Gor­don Ci­ty.

Wie das von Va­len­ti­ne.

Der Ge­dan­ke an sie, an das, was er ge­tan hat­te, nahm ihm die Luft zum At­men. Aria­ne warf ihm einen selt­sa­men Blick zu und nick­te. »Be­eil dich.« Sie pack­te ihn am Hand­ge­lenk und zog ihn mit sich. »Du hast mich be­ob­ach­tet, oder? Ich ha­be dich ge­se­hen.«

Er nick­te.

Aria­ne schloss die Haus­tür auf. Es war ei­nes die­ser zwei­stö­cki­gen Häu­ser, die man sich in den 2120ern aus dem Ka­ta­log aus­su­chen und auf ein Grund­stück stel­len las­sen konn­te, ei­nes sah aus wie das an­de­re und die­sem hier schi­en nie­mand be­son­de­re tech­ni­sche Mo­di­fi­ka­tio­nen ver­passt zu ha­ben.

Ei­ne der all­ge­gen­wär­ti­gen Au­ßen­ka­me­ras schwenk­te in sei­ne Rich­tung. Je­der sei­ner Schrit­te wur­de ge­filmt, und Avri­el konn­te nur hof­fen, dass sie dem ver­schwom­me­nen Ge­sicht hin­ter ei­nem Vor­hang aus Lo­cken im­mer noch kei­nen Na­men zu­ge­ord­net hat­ten. Sonst war er ver­lo­ren.

19. Ariane Faw – Atlanta – 08.07.2145

Aria­ne staun­te – der jun­ge Mann hät­te ge­nau­so gut Riú sein kön­nen!

Doch nein, er war we­sent­lich jün­ger, und sei­ne Au­gen wa­ren grün. Au­ßer­dem zeig­te sein Ge­sicht be­reits ganz leich­te Zei­chen der Um­stel­lung durch die Mu­tan­ten-Ge­ne in sei­nem Kör­per. Für Aria­nes ge­schul­ten Blick war deut­lich zu se­hen, dass sein Ge­sicht sich noch stark ver­än­dern wür­de.

Das war schließ­lich nicht der jun­ge Riú, son­dern ein Mu­tant, die Ähn­lich­keit konn­te nur zu­fäl­lig sein. Und doch bil­de­te sie sich im­mer wie­der ein, sei­ne Au­gen wä­ren dun­kel­grau …

»Sie woll­ten mit mir re­den?«

Er nick­te ernst.

»Wir ha­ben we­nig Zeit.«

»Ich weiß. Sind Sie …« Er fuhr sich über den Mi­li­tär­haar­schnitt, und die Ges­te wirk­te, als wä­re er die Kür­ze nicht ge­wohnt.

Lan­ge Haa­re. Der Jun­ge hat­te bis vor Kur­zem noch lan­ge Haa­re.

»Sind Sie Aria­ne Faw?«

»Die bin ich.«

»Darf ich mich set­zen?« Er trat sicht­lich ver­le­gen von ei­nem Fuß auf den an­de­ren.

Auf ein­mal wuss­te sie, wer er war.

»Na­tür­lich.«

Das war der Jun­ge aus der Nach­richt des Prä­si­den­ten.

»Sprich nicht so förm­lich.« Aria­ne drück­te einen Knopf im Flur, so­dass sich sämt­li­che Vor­hän­ge schlos­sen. Wort­los folg­te Avri­el ihr leicht schlur­fend in ih­re sau­be­re Kü­che, wo Aria­ne Was­ser auf­setz­te und Tee­beu­tel aus dem Kü­chen­schrank hol­te. Erst als der Tee fer­tig war, setz­te sie sich ne­ben ihn auf einen der blau­en Kü­chen­stüh­le.

»Ich ha­be dich noch gar nicht ge­fragt, wie du heißt.«

Sie starr­te ihn an.

»Avri­el.« Er ver­zog das Ge­sicht, press­te die Ant­wort zö­gernd her­vor. »Mein Na­me ist Avri­el Adam­ski.« Er ver­schränk­te die Ar­me und blick­te stumpf auf einen Punkt ir­gend­wo ne­ben ihr.

Adam­ski! Das ist Fa­bis Sohn! Sie selbst hat­te den falschen Nach­na­men vor­ge­schla­gen, da­mit der Jun­ge nicht zu Fa­bri­cia zu­rück­ver­folgt wer­den konn­te. Nun ging ihr auch der Grund für sei­ne Ähn­lich­keit mit Riú auf. Es bro­del­te in ihr, aber sie zwang sich, ru­hig zu blei­ben. »Du kannst mir ver­trau­en. Wenn du willst, kannst du mir so­gar ins Ge­sicht leuch­ten, ich bin ei­ne Mu­tan­tin.« Sie schmun­zel­te. Gleich­zei­tig frag­te sie sich, warum sie ihm so­fort ver­traut hat­te. Sie wa­ren ein­an­der so­eben be­geg­net und er hat­te ihr am Au­to­ma­ten auf­ge­lau­ert. War es die Ähn­lich­keit mit Riú?

Lang­sam hob er sei­nen UniCom und fo­to­gra­fier­te sie mit Blitz. »Stimmt. Mu­tan­tin.« Er ent­spann­te sich sicht­lich.

Sie wuss­te nicht, was sie sa­gen soll­te. Fa­bri­ci­as und Riús Sohn in ih­rer Kü­che mit ei­ner Tas­se Tee vor der Na­se.

Aria­ne muss­te hier weg und nach­den­ken, aber drin­gend, ehe sie vor sei­nen Au­gen durch­dreh­te.

»War­te auf mich, ich ho­le mein Pad.« Oh­ne ihm Zeit zum Ant­wor­ten zu ge­ben, has­te­te sie nach oben in ihr Schlaf­zim­mer, um das al­te Gerät zu ho­len. Auf der Trep­pe wur­de ihr schwind­lig und sie muss­te sich am Ge­län­der fest­klam­mern, um nicht zu fal­len.

Avri­el – Riús Sohn! Ge­füh­le, die sie längst ver­drängt ge­glaubt hat­te, bra­chen an die Ober­flä­che, hei­ße Wel­len der Ei­fer­sucht droh­ten sie zu über­wäl­ti­gen.

Fa­bri­cia hat­te nie ge­wusst, dass Aria­ne ihr den Freund nei­de­te, sie hat­te nicht ein­mal ge­ahnt, wie ger­ne Aria­ne an ih­rer Stel­le ge­we­sen wä­re, und jetzt stand der Be­weis vor ihr, dass Riú und ih­re bes­te Freun­din … nein. Nicht dar­an den­ken, die Bil­der woll­te sie ganz ge­wiss nicht in ih­rem Kopf ha­ben.

Has­tig tipp­te sie ei­ne Nach­richt an Fa­bri­cia und kehr­te dann erst zu Avri­el zu­rück.

Als sie die Kü­che er­neut be­trat, zuck­te Avri­el nicht ein­mal mit der Wim­per. Jetzt al­ler­dings schi­en er aus sei­ner Lethar­gie zu­min­dest so­weit er­wacht zu sein, dass er das für ihn hoff­nungs­los ver­al­te­te Gerät mit halb­of­fe­nem Mund an­gaff­te. »Was ist das denn?«

Aria­ne leg­te das Pad auf den Kü­chen­tisch und ak­ti­vier­te es, in­dem sie zwei­mal schnell auf den Bild­schirm tipp­te. »Schreibt ihr in der Schu­le nicht auch auf sol­chen Din­gern? Nur müss­ten eu­re Mo­del­le ein we­nig neu­er sein.« Sie dreh­te das Gerät um. »Siehst du? Das hält fast nur noch mit Pan­zer­band und Spu­cke zu­sam­men. Es wur­de von mir ge­hackt und ist Teil ei­nes Ne­xus-Net­zes, für die gan­zen mo­der­nen Über­wa­chungs­pro­gram­me hat es nicht ge­nug Saft und die al­ten ha­be ich run­ter­ge­schmis­sen. Die ein­zi­ge Mög­lich­keit, un­be­scha­det auf m-mail.com zu­zu­grei­fen.«

»Äh, Mail-was?«

»Der Mail­dienst von und für Mu­tan­ten in al­ler Welt, samt So­ci­al Net­work au­ßer­halb der staat­li­chen Kon­trol­le.«

»Was sind die­se So­ci­al-Din­ger?«

Ah, Ju­gend­li­che. Ver­mut­lich hat­te er kein Wort von dem ver­stan­den, was sie er­klärt hat­te. »Ein So­ci­al Net­work ist ein Ort, an dem man Bil­der, Vi­deos und noch mehr Nach­rich­ten aus­tau­schen kann. Auch wenn das heu­te nicht mehr ak­tu­ell ist – was bringt man euch in der Schu­le bei?«

»Ge­schich­te, Ma­the, Ras­sen­kun­de …«

Sie seufz­te. »Schon gut. Al­so. Die­ses Pad ist je­den­falls ge­gen staat­li­che Über­wa­chung ge­schützt und kann da­mit für den Wi­der­stand be­nutzt wer­den.«

»Wie soll das ge­hen?«

Er schloss die Au­gen und drück­te die Fin­ger auf die Li­der.

Aria­ne ver­stand, dass sie sich lang­sam auf das Se­hen im Dun­keln spe­zia­li­sier­ten. »Ne­xus-Netz, sag­te ich doch. Schwie­rig auf die Schnel­le zu er­klä­ren, es kommt je­den­falls nie­mand rein, der nichts da­von weiß und nicht ein­ge­la­den ist.«

»Wa­rum er­zählst du mir das al­les? Das gan­ze ver­bo­te­ne Zeug?« Sei­ne Stim­me hat­te jetzt einen dumpf-ge­quäl­ten Klang.

»Weil du oh­ne­hin ge­sucht wirst und es auf einen Ge­set­zes­ver­stoß mehr oder we­ni­ger nicht an­kommt?«

Er seufz­te. Dann hob er sei­ne Tee­tas­se an die Lip­pen und trank ih­ren In­halt in ei­nem lan­gen Schluck leer.

»Aber ich glau­be nicht«, fuhr Aria­ne fort, »dass du her­ge­kom­men bist, um Tee zu trin­ken.«

»Nein. Es ist kom­pli­zier­ter.«

20. Avriel Adamski – Atlanta – 08.07.2145

Er ver­trau­te Aria­ne. Et­was in ih­rem Ge­sicht schi­en ihm auf ei­ne in­stink­ti­ve Art ver­traut, auch wenn er es nicht be­nen­nen konn­te.

»Wa­rum bist du al­so hier?« Sie nipp­te an ih­rem Tee und lä­chel­te ihn freund­lich an.

»Wa­rum hast du mich ins Wai­sen­haus ge­bracht?«

»Wo­her weißt du das?« Sie hob bei­de Au­gen­brau­en.

»Ich ha­be mei­ne Ak­te ge­se­hen.«

»Es war der ein­zi­ge Weg, um dich zu ret­ten. Ich ha­be be­haup­tet, dass du vor mei­ne Tür­schwel­le ge­legt wur­dest. Es ist nicht mög­lich, Ba­bys auf das Mu­tan­ten­gen zu tes­ten. Es kann erst bei Tee­na­gern nach­ge­wie­sen wer­den. Wenn man al­so nicht weiß, wer dei­ne El­tern sind, dann giltst du au­to­ma­tisch als Mensch.«

Er schluck­te im­mer wie­der, aber der Kloß in sei­nem Hals blieb und drück­te ihm die Luft ab. Sie wuss­te, wer sei­ne El­tern wa­ren. Sie wuss­te, wer er war.

Sie wuss­te es.

»Al­les in Ord­nung? Du bist so still.«

»Es wä­re bes­ser ge­we­sen, wenn ich ge­stor­ben wä­re.«

Sie streck­te die Hand aus, über den Tisch hin­weg, strich über sei­nen Är­mel. »Nein. Wä­re es nicht.«

»Doch, wä­re es.« Mit ei­nem Mal ver­spür­te er das drin­gen­de Be­dürf­nis, sich al­les von der See­le zu re­den. »Ich weiß erst seit ges­tern, dass du exis­tierst. Aber an­de­re Hin­wei­se zu mei­ner Her­kunft ha­be ich nicht.«

Er fühl­te sich selt­sam, als wür­de sein Ge­hirn in ei­ner viel zu en­gen, mit Wat­te ge­füll­ten Kis­te lie­gen, als wür­den sei­ne Ge­dan­ken nicht funk­tio­nie­ren, wie er woll­te. Avri­el fühl­te sich hilf­los, woll­te un­be­dingt spre­chen und konn­te nicht, streck­te Aria­ne statt­des­sen ein­fach sei­ne ID ent­ge­gen.

Aria­ne las die Da­ten laut vor: »Avri­el Adam­ski, ge­bo­ren am 8. Ju­li 2128 in At­lan­ta, Ver­wal­tungs­ein­heit Ge­or­gia, Groß­raum Nord­ame­ri­ka, gül­tig bis zum 21. Ja­nu­ar 2148, wohn­haft in Gor­don Ci­ty, 1.70m groß, blond, grü­ne Au­gen, Ras­se ho­mo sa­pi­ens sa­pi­ens.«

Sei­ner Mei­nung nach sah er auf dem bio­me­tri­schen Fo­to nicht wirk­lich aus wie er selbst, aber wer tat das schon? Den­noch er­kann­ten ihn die Ka­me­ras in der Schu­le, je­den­falls be­grüß­te ihn im­mer ei­ne Ro­bo­ter­stim­me am Ein­gang.

»In ei­nem Punkt hat sich der Aus­s­tel­ler ge­irrt. Du bist ei­gent­lich ein ho­mo sa­pi­ens mu­t­ans, wie die Eu­ge­ni­ker un­se­re Ras­se be­zeich­nen. Ich fin­de das, wenn ich ehr­lich bin, reich­lich wi­der­lich, klingt mehr nach Zom­bie-Apo­ka­lyp­se als nach We­sen, die sich von Men­schen kaum un­ter­schei­den.«

Avri­el nick­te nur. Seit er wuss­te, was er wirk­lich war, hat­te er sich schmut­zig ge­fühlt, oh­ne einen Grund da­für an­ge­ben zu kön­nen. Vi­el­leicht fand Avri­el ih­re Aus­sa­ge des­we­gen so tröst­lich, dass er sie spon­tan um­arm­te.

Sie wur­de leicht rot und schob ihn sanft von sich. Ih­re Au­gen wur­den feucht, als ob er et­was Trau­ri­ges ge­tan hät­te, da­bei war es nur ei­ne Umar­mung ge­we­sen. Oder hat­te er sich das nur ein­ge­bil­det? Denn im nächs­ten Mo­ment war ihr Ge­sicht wie­der völ­lig ge­fasst.

»Hast du kei­nen Ver­dacht ge­schöpft? Ich mei­ne, man spürt über­deut­lich, dass man mu­tiert.«

»Doch, schon. Ich woll­te es aber igno­rie­ren. Vor ei­ni­gen Wo­chen ha­be ich halt Pro­ble­me mit der Ge­sund­heit be­kom­men. Ich konn­te auf ein­mal schlecht at­men, wenn die Luft sehr tro­cken war. Und wenn die Son­ne im Som­mer her­un­ter­knall­te, war ich wie blind. Dann konn­te ich im­mer schlech­ter schla­fen und war aus die­sem Grund in der Schu­le mü­de. Mei­ne Freun­din Va­len­ti­ne …« Er schluck­te. Es tat weh, an Va­len­ti­ne zu den­ken, raub­te ihm fast wie­der die Spra­che.

»Was hat sie ge­sagt?«

»Sie hat ge­sagt, dass sie glaubt, ich wä­re ein Mu­tant, und ich woll­te ihr nicht so recht glau­ben. Weil … ich ei­gent­lich vor­hat­te, mit ihr ei­ne Fa­mi­lie zu grün­den, al­so was Erns­tes … und ich wuss­te ganz ge­nau, dass das nicht geht, wenn ich wirk­lich ein Mu­tant bin … Als ich sie an­ge­grif­fen ha­be, war es ein Un­fall, und da­nach … Ich bin auf der Flucht.« Et­was an sei­ner ei­ge­nen Ge­schich­te ver­wirr­te ihn. Nur was?

Auch Aria­ne schi­en in Ge­dan­ken zu sein. »Wa­rum hast du sie an­ge­grif­fen? Ein­fach so pas­siert das nicht, so­weit ich weiß.«

Avri­el spür­te, wie er rot wur­de. »Ich ha­be sie ge­küsst und sie hat mich geohr­feigt.«

Aria­ne nick­te. »Und das hat es get­rig­gert. So et­was pas­siert lei­der häu­fi­ger …«

»Wie kannst du …« Er konn­te nicht wei­ter­spre­chen. Sie hat­te das so ge­sagt, als wä­re es et­was Nor­ma­les, als wä­re nichts da­bei, wenn ein Mensch ge­tö­tet wur­de. »Sie ist tot! Tot! Und ich …« Er sprang auf und starr­te sie an. »Ich will wis­sen …«

Sie er­hob sich und drück­te ihn auf den Stuhl. »Sei doch still, ich er­klä­re dir ja al­les, so­weit ich kann.«

Aber wie konn­te er still sein, wenn es in ihm schrie?

382,08 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
312 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783742709752
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
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