Ihren Geburtstag hatte sie sich anders vorgestellt. Nicht unbedingt glamourös, aber mit ein paar kleinen Geschenken und einigen Cupcakes mit rosafarbenem Guss und Zuckerwattegeschmack.
Stattdessen war sie übermüdet, weil sie auf dem unbequemen Flugbahnhofssitz kaum geschlafen hatte, ihre Füße schmerzten immer noch vom ungewohnten Rennen. Der vor Smog rosafarbene Sonnenaufgang verkündete bereits das nahe Ende der Sperrstunde. Das Geräusch eines Straßenreinigungsfahrzeugs hatte sie geweckt.
Hastig stand sie auf, streckte sich und klopfte unauffällig ihre Hosentaschen darauf ab, ob sie noch alles Nötige bei sich hatte. Wenn sie den UniCom auf dem Weg nach New Orleans verlor … was dann?
Noch konnte sie sich frei bewegen, sie war sich sicher, dass Miss Tan ihr Verschwinden noch nicht gemeldet hatte. Eine Vermisstenmeldung musste nach Ablauf von 72 Stunden abgegeben werden, was Miss Tan bestimmt ausreizen würde. Bis dahin konnte sie die Annehmlichkeiten der Zivilisation – vollautomatische Ultraschallhygieneanlagen, Strom, Internet – nutzen.
Allegra kaufte über den UniCom ein Zugticket nach Camden, Alabama. Weiter ließ der UniCom sie nicht buchen und graute die entsprechenden Felder aus. Das brachte sie immerhin nicht nur über mehrere County-Grenzen, sondern auch über die Grenze des Bundesstaates, und so wie sie die Verwaltung in der United World einschätzte, reichte das, um zumindest der Mutanten-Razzia in unmittelbarer Nähe zu entgehen.
Schnell rief sie ihr Guthaben ab. Nur noch 17 Units, trotz Schülerrabatt für das Ticket. Das reichte noch für ein paar Haltestellen mit einer der Bahnen vor Ort. Und dann hatte sie ohnehin keine Verwendung mehr für Geld, in New Orleans konnte man mit den Units nicht zahlen, dessen war sie sich sicher.
Was sie in Camden machen würde, wusste sie noch nicht. Außer zu duschen und ihren UniCom aufzuladen, aber dafür würde sie keine Stunde brauchen. Und dann musste sie schauen, dass sie irgendwie fortkam. Vorerst musste es reichen, sich in Richtung Louisiana zu bewegen.
Der Zug hatte keine Fenster, vermutlich, um den Reisenden den Anblick einer Landschaft zu ersparen, die in schwindelerregender Geschwindigkeit vorbeirauschte.
Sie spürte nur ein leises Ziehen im Magen, wie beim Fahrstuhlfahren, auf Dauer etwas unangenehm, und sie hoffte, dass es vergehen würde.
»Happy birthday to me, happy birthday to me …«
Im Zug saßen Pendler, Geschäftsleute und eine ganze Schulklasse voller kreischender Kinder samt Lehrerin.
Allegra saß abseits und fühlte sich einsam. Dass nach und nach alle außer ihr ausstiegen und sie in nahezu vollkommener Stille zurückließen, machte es nicht besser.
Sie war allein, als sie am Endbahnhof den Zug verließ und nach dem viel zu langen und beengten Sitzen auf den Bahnsteig stakste. Gierig atmete sie die frische Luft ein und lehnte sich an eine animierte Werbetafel. Ihr Magen musste sich erst noch daran gewöhnen, dass sich nichts mehr bewegte.
Nur ein paar Teenager standen in einiger Entfernung bei den Recyclingstationen herum und gaben voreinander mit blinkenden Turnschuhen an.
Eilig ließ sie ihren Rucksack auf ihre Füße gleiten und zog ihre Wasserflasche heraus.
Sie war gerade dabei, einen Schluck zu trinken, als ein Jugendlicher sich an die gleiche Werbetafel lehnte und ihr viel zu nahe kam. »Ist das eine Jogginghose oder eine Pyjamahose?«
Allegra sah ihn direkt an. »Jogginghose. Kann man aber auch drin schlafen.« Sie konnte keinen Ärger gebrauchen, nicht jetzt! Sie musste nur einen Zug erwischen, wann fuhr denn einer von diesem Kaff aus irgendwo an einen brauchbaren Ort?
»Schläft es sich ohne nicht bequemer?«
»Nicht wirklich.«
»Und wenn ich dir einheize?«
Sie musterte ihn vom silbern gefärbten Scheitel bis zu den blinkenden Sohlen seiner Turnschuhe. »Nein, danke.«
»Nein, danke?«
»Sage ich doch.« Sie versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Es war mittags. Wieso waren hier keine anderen Leute? Gab es nicht irgendwo einen Knopf, um die Security zu alarmieren? Sie tastete mit der freien Hand an der Werbetafel herum.
»Du hast mich nicht verstanden. Es geht nicht darum, was du willst oder was du nicht willst, Jogginghose. Entweder du gehst mit mir auf die Bahnhofstoilette und stellst dich da ein wenig geschickt an oder ich nehme dir deinen Rucksack ab.« Er grinste breit und zwinkerte ihr zu.
»Hey, da ist nur Essenskram drin!«
»Dann hast du nichts außer deinem Körper zu bieten. Wie schade … Jungs?« Er packte Allegra am Arm. »Guckt mal! Frischfleisch!«
Allegra holte aus und schlug ihm mit der halb leeren Flasche heftig auf die Nase.
Er schrie überrascht auf und ließ sie los. Blut spritzte auf sein lächerliches T-Shirt.
Allegra schnappte sich ihren halboffenen Rucksack und rannte in Richtung Bahnhof, aber das war anscheinend nicht die beste Idee – dort kamen ihr zwei weitere Gestalten in grell blinkenden Turnschuhen entgegen und schnitten ihr grinsend den Weg ab.
»Na, Püppi? Unterwegs zum Yoga? Wir könnten üben!« Ein Kerl mit zinnoberrotem Pony streckte die Zunge heraus und leckte sich über die Lippen.
»Nur über meine Leiche.«
»Kannst du haben.«
Sie schlug dem einen ihren Rucksack ins Gesicht und schleuderte ihn dann dem anderen entgegen.
Die Kerle gingen auseinander und Allegra hechtete zwischen ihnen hindurch, ohne zurückzuschauen. Sie musste weg, einfach nur weg, und das so schnell wie möglich!
Waren immer so viele Cops auf den Straßen oder patrouillierten sie verstärkt seinetwegen? Er wusste es nicht. Und es lag nicht in seinem Interesse, es herauszufinden. Auch den Mutantenmilizen, die in Gruppen die Stadt durchkämmten, musste er auf eine möglichst lockere Art aus dem Weg gehen, sodass es nicht verdächtig erschien. Beiläufig.
Also tat er das, was Touristen so taten. Wann immer Polizisten ihn zu lange beobachteten, blieb er vor Sehenswürdigkeiten stehen und schoss Fotos mit dem UniCom. Oder stellte sich in eine Reihe vor den Kaffeebot, um überteuerten Kaffee zu trinken.
Irgendwann fühlte er sich erschöpft, traute sich jedoch nicht, auf einer Bank auszuruhen. Wenn er wie ein Penner wirkte, griff man ihn bestimmt auf. Also hatte er sich ein Ticket für irgendeinen 5D-Film gekauft und war genau an der Stelle eingeschlafen, an der ein Bösewicht dem eingesperrten Helden seinen finsteren Plan darlegte. Erst beim überlauten Einsetzen des Abspanns schreckte er auf und wankte aus dem Kino an die frische Luft.
Abenddämmerung. Bald begann die Sperrstunde. Zeit, sich zu seiner Zieladresse zu begeben.
Er umrundete den Häuserblock und näherte sich dem Haus von der anderen Seite. Tat so, als würde er die Werbesäule anschauen, und überlegte, ob er sofort bei Ariane klingeln sollte.
Da verließ eine Blondine – wie sollte er herausfinden, ob sie es war? – das Haus, schloss ab und näherte sich zielstrebig dem Zigarettenautomaten, an dem er sein Leihauto geparkt hatte. Sie hantierte mit ihrer Karte, doch der Automat blinkte in einem wütenden Rot. Die altmodischen Blondlöckchen wippten im Rhythmus ihrer wütenden Flüche und als sie es endlich schaffte, zu zahlen, fielen die zwei Packungen auf den Boden.
Am liebsten wäre er zu ihr gerannt, aber Avriel hielt sich zurück. Sein Herz klopfte schmerzhaft. Wenn sie das war! Er durfte sie auf keinen Fall verschrecken. Also normale Spaziergeschwindigkeit.
Die Blondine kämpfte immer noch mit den Folgen der Schwerkraft. »Mist, Mist, Mist!« Sie versuchte, trotz High Heels und kurzem Rock nach den Zigaretten zu angeln.
Das war die Gelegenheit, sie anzusprechen. »Einen Moment, ich helfe Ihnen.« Avriel trat zu ihr, beugte sich schnell hinunter und reichte ihr die Zigarettenpackungen. Dabei blickte er ihr ins Gesicht. Das musste sie sein!
»Danke.« Sie lächelte vage. Vermutlich war sie älter, als sie aussah, ihre Kleidung wirkte modisch gesehen nicht ganz auf der Höhe. Auch ihr Lockenhaarschnitt war eher von der Art, wie ihn wesentlich ältere Frauen trugen. Dennoch … richtete er seine Augen auf die langen Beine der Fremden und folgte ihnen langsam mit dem Blick nach oben, bis der Saum ihres Minirocks seine ›Wanderung‹ stoppte.
»Meine Augen sind weiter oben. Noch weiter … Ja, genau.«
Ich weiß! Peinlich berührt starrte er ihr ins Gesicht, das sich zu einem spöttischen Lächeln verzog. Ihre blauen Augen leuchteten leicht im Dunkeln.
»Also, ähm … Ich sollte dann mal los.« Wieso benahm er sich so lächerlich?
»Ja, danke für deine Hilfe.« Die Frau stakste auf ihren High Heels davon.
Avriel zählte bis zehn, dann atmete er tief ein. Sie war es, und wenn er diese winzige Chance nicht verstreichen lassen wollte, musste er ihr nach! Sofort!
Er lief hinter ihr her. »Warten Sie!«
Die Frau machte sich nicht die Mühe, langsamer zu gehen.
Avriel spürte ein heftiges Stechen in seiner Seite. Benommen lehnte er sich an eines der Häuser.
Sie drehte sich am Ende doch noch um. »Kann ich Ihnen helfen, junger Mann? Bald ist Sperrstunde, soll ich Sie nach Hause bringen?«
Avriel schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, es geht. Alles in Ordnung. Es ist nur … Ich muss mit Ihnen sprechen.« Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Mit mir?« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Warum?«
»Das kann ich hier draußen nicht sagen.« Er schaute sich gehetzt um.
Es gab nicht viel zu sehen. Ein paar Einfamilienhäuser wie die in Gordon City.
Wie das von Valentine.
Der Gedanke an sie, an das, was er getan hatte, nahm ihm die Luft zum Atmen. Ariane warf ihm einen seltsamen Blick zu und nickte. »Beeil dich.« Sie packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich. »Du hast mich beobachtet, oder? Ich habe dich gesehen.«
Er nickte.
Ariane schloss die Haustür auf. Es war eines dieser zweistöckigen Häuser, die man sich in den 2120ern aus dem Katalog aussuchen und auf ein Grundstück stellen lassen konnte, eines sah aus wie das andere und diesem hier schien niemand besondere technische Modifikationen verpasst zu haben.
Eine der allgegenwärtigen Außenkameras schwenkte in seine Richtung. Jeder seiner Schritte wurde gefilmt, und Avriel konnte nur hoffen, dass sie dem verschwommenen Gesicht hinter einem Vorhang aus Locken immer noch keinen Namen zugeordnet hatten. Sonst war er verloren.
Ariane staunte – der junge Mann hätte genauso gut Riú sein können!
Doch nein, er war wesentlich jünger, und seine Augen waren grün. Außerdem zeigte sein Gesicht bereits ganz leichte Zeichen der Umstellung durch die Mutanten-Gene in seinem Körper. Für Arianes geschulten Blick war deutlich zu sehen, dass sein Gesicht sich noch stark verändern würde.
Das war schließlich nicht der junge Riú, sondern ein Mutant, die Ähnlichkeit konnte nur zufällig sein. Und doch bildete sie sich immer wieder ein, seine Augen wären dunkelgrau …
»Sie wollten mit mir reden?«
Er nickte ernst.
»Wir haben wenig Zeit.«
»Ich weiß. Sind Sie …« Er fuhr sich über den Militärhaarschnitt, und die Geste wirkte, als wäre er die Kürze nicht gewohnt.
Lange Haare. Der Junge hatte bis vor Kurzem noch lange Haare.
»Sind Sie Ariane Faw?«
»Die bin ich.«
»Darf ich mich setzen?« Er trat sichtlich verlegen von einem Fuß auf den anderen.
Auf einmal wusste sie, wer er war.
»Natürlich.«
Das war der Junge aus der Nachricht des Präsidenten.
»Sprich nicht so förmlich.« Ariane drückte einen Knopf im Flur, sodass sich sämtliche Vorhänge schlossen. Wortlos folgte Avriel ihr leicht schlurfend in ihre saubere Küche, wo Ariane Wasser aufsetzte und Teebeutel aus dem Küchenschrank holte. Erst als der Tee fertig war, setzte sie sich neben ihn auf einen der blauen Küchenstühle.
»Ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie du heißt.«
Sie starrte ihn an.
»Avriel.« Er verzog das Gesicht, presste die Antwort zögernd hervor. »Mein Name ist Avriel Adamski.« Er verschränkte die Arme und blickte stumpf auf einen Punkt irgendwo neben ihr.
Adamski! Das ist Fabis Sohn! Sie selbst hatte den falschen Nachnamen vorgeschlagen, damit der Junge nicht zu Fabricia zurückverfolgt werden konnte. Nun ging ihr auch der Grund für seine Ähnlichkeit mit Riú auf. Es brodelte in ihr, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. »Du kannst mir vertrauen. Wenn du willst, kannst du mir sogar ins Gesicht leuchten, ich bin eine Mutantin.« Sie schmunzelte. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie ihm sofort vertraut hatte. Sie waren einander soeben begegnet und er hatte ihr am Automaten aufgelauert. War es die Ähnlichkeit mit Riú?
Langsam hob er seinen UniCom und fotografierte sie mit Blitz. »Stimmt. Mutantin.« Er entspannte sich sichtlich.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Fabricias und Riús Sohn in ihrer Küche mit einer Tasse Tee vor der Nase.
Ariane musste hier weg und nachdenken, aber dringend, ehe sie vor seinen Augen durchdrehte.
»Warte auf mich, ich hole mein Pad.« Ohne ihm Zeit zum Antworten zu geben, hastete sie nach oben in ihr Schlafzimmer, um das alte Gerät zu holen. Auf der Treppe wurde ihr schwindlig und sie musste sich am Geländer festklammern, um nicht zu fallen.
Avriel – Riús Sohn! Gefühle, die sie längst verdrängt geglaubt hatte, brachen an die Oberfläche, heiße Wellen der Eifersucht drohten sie zu überwältigen.
Fabricia hatte nie gewusst, dass Ariane ihr den Freund neidete, sie hatte nicht einmal geahnt, wie gerne Ariane an ihrer Stelle gewesen wäre, und jetzt stand der Beweis vor ihr, dass Riú und ihre beste Freundin … nein. Nicht daran denken, die Bilder wollte sie ganz gewiss nicht in ihrem Kopf haben.
Hastig tippte sie eine Nachricht an Fabricia und kehrte dann erst zu Avriel zurück.
Als sie die Küche erneut betrat, zuckte Avriel nicht einmal mit der Wimper. Jetzt allerdings schien er aus seiner Lethargie zumindest soweit erwacht zu sein, dass er das für ihn hoffnungslos veraltete Gerät mit halboffenem Mund angaffte. »Was ist das denn?«
Ariane legte das Pad auf den Küchentisch und aktivierte es, indem sie zweimal schnell auf den Bildschirm tippte. »Schreibt ihr in der Schule nicht auch auf solchen Dingern? Nur müssten eure Modelle ein wenig neuer sein.« Sie drehte das Gerät um. »Siehst du? Das hält fast nur noch mit Panzerband und Spucke zusammen. Es wurde von mir gehackt und ist Teil eines Nexus-Netzes, für die ganzen modernen Überwachungsprogramme hat es nicht genug Saft und die alten habe ich runtergeschmissen. Die einzige Möglichkeit, unbeschadet auf m-mail.com zuzugreifen.«
»Äh, Mail-was?«
»Der Maildienst von und für Mutanten in aller Welt, samt Social Network außerhalb der staatlichen Kontrolle.«
»Was sind diese Social-Dinger?«
Ah, Jugendliche. Vermutlich hatte er kein Wort von dem verstanden, was sie erklärt hatte. »Ein Social Network ist ein Ort, an dem man Bilder, Videos und noch mehr Nachrichten austauschen kann. Auch wenn das heute nicht mehr aktuell ist – was bringt man euch in der Schule bei?«
»Geschichte, Mathe, Rassenkunde …«
Sie seufzte. »Schon gut. Also. Dieses Pad ist jedenfalls gegen staatliche Überwachung geschützt und kann damit für den Widerstand benutzt werden.«
»Wie soll das gehen?«
Er schloss die Augen und drückte die Finger auf die Lider.
Ariane verstand, dass sie sich langsam auf das Sehen im Dunkeln spezialisierten. »Nexus-Netz, sagte ich doch. Schwierig auf die Schnelle zu erklären, es kommt jedenfalls niemand rein, der nichts davon weiß und nicht eingeladen ist.«
»Warum erzählst du mir das alles? Das ganze verbotene Zeug?« Seine Stimme hatte jetzt einen dumpf-gequälten Klang.
»Weil du ohnehin gesucht wirst und es auf einen Gesetzesverstoß mehr oder weniger nicht ankommt?«
Er seufzte. Dann hob er seine Teetasse an die Lippen und trank ihren Inhalt in einem langen Schluck leer.
»Aber ich glaube nicht«, fuhr Ariane fort, »dass du hergekommen bist, um Tee zu trinken.«
»Nein. Es ist komplizierter.«
Er vertraute Ariane. Etwas in ihrem Gesicht schien ihm auf eine instinktive Art vertraut, auch wenn er es nicht benennen konnte.
»Warum bist du also hier?« Sie nippte an ihrem Tee und lächelte ihn freundlich an.
»Warum hast du mich ins Waisenhaus gebracht?«
»Woher weißt du das?« Sie hob beide Augenbrauen.
»Ich habe meine Akte gesehen.«
»Es war der einzige Weg, um dich zu retten. Ich habe behauptet, dass du vor meine Türschwelle gelegt wurdest. Es ist nicht möglich, Babys auf das Mutantengen zu testen. Es kann erst bei Teenagern nachgewiesen werden. Wenn man also nicht weiß, wer deine Eltern sind, dann giltst du automatisch als Mensch.«
Er schluckte immer wieder, aber der Kloß in seinem Hals blieb und drückte ihm die Luft ab. Sie wusste, wer seine Eltern waren. Sie wusste, wer er war.
Sie wusste es.
»Alles in Ordnung? Du bist so still.«
»Es wäre besser gewesen, wenn ich gestorben wäre.«
Sie streckte die Hand aus, über den Tisch hinweg, strich über seinen Ärmel. »Nein. Wäre es nicht.«
»Doch, wäre es.« Mit einem Mal verspürte er das dringende Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden. »Ich weiß erst seit gestern, dass du existierst. Aber andere Hinweise zu meiner Herkunft habe ich nicht.«
Er fühlte sich seltsam, als würde sein Gehirn in einer viel zu engen, mit Watte gefüllten Kiste liegen, als würden seine Gedanken nicht funktionieren, wie er wollte. Avriel fühlte sich hilflos, wollte unbedingt sprechen und konnte nicht, streckte Ariane stattdessen einfach seine ID entgegen.
Ariane las die Daten laut vor: »Avriel Adamski, geboren am 8. Juli 2128 in Atlanta, Verwaltungseinheit Georgia, Großraum Nordamerika, gültig bis zum 21. Januar 2148, wohnhaft in Gordon City, 1.70m groß, blond, grüne Augen, Rasse homo sapiens sapiens.«
Seiner Meinung nach sah er auf dem biometrischen Foto nicht wirklich aus wie er selbst, aber wer tat das schon? Dennoch erkannten ihn die Kameras in der Schule, jedenfalls begrüßte ihn immer eine Roboterstimme am Eingang.
»In einem Punkt hat sich der Aussteller geirrt. Du bist eigentlich ein homo sapiens mutans, wie die Eugeniker unsere Rasse bezeichnen. Ich finde das, wenn ich ehrlich bin, reichlich widerlich, klingt mehr nach Zombie-Apokalypse als nach Wesen, die sich von Menschen kaum unterscheiden.«
Avriel nickte nur. Seit er wusste, was er wirklich war, hatte er sich schmutzig gefühlt, ohne einen Grund dafür angeben zu können. Vielleicht fand Avriel ihre Aussage deswegen so tröstlich, dass er sie spontan umarmte.
Sie wurde leicht rot und schob ihn sanft von sich. Ihre Augen wurden feucht, als ob er etwas Trauriges getan hätte, dabei war es nur eine Umarmung gewesen. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Denn im nächsten Moment war ihr Gesicht wieder völlig gefasst.
»Hast du keinen Verdacht geschöpft? Ich meine, man spürt überdeutlich, dass man mutiert.«
»Doch, schon. Ich wollte es aber ignorieren. Vor einigen Wochen habe ich halt Probleme mit der Gesundheit bekommen. Ich konnte auf einmal schlecht atmen, wenn die Luft sehr trocken war. Und wenn die Sonne im Sommer herunterknallte, war ich wie blind. Dann konnte ich immer schlechter schlafen und war aus diesem Grund in der Schule müde. Meine Freundin Valentine …« Er schluckte. Es tat weh, an Valentine zu denken, raubte ihm fast wieder die Sprache.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat gesagt, dass sie glaubt, ich wäre ein Mutant, und ich wollte ihr nicht so recht glauben. Weil … ich eigentlich vorhatte, mit ihr eine Familie zu gründen, also was Ernstes … und ich wusste ganz genau, dass das nicht geht, wenn ich wirklich ein Mutant bin … Als ich sie angegriffen habe, war es ein Unfall, und danach … Ich bin auf der Flucht.« Etwas an seiner eigenen Geschichte verwirrte ihn. Nur was?
Auch Ariane schien in Gedanken zu sein. »Warum hast du sie angegriffen? Einfach so passiert das nicht, soweit ich weiß.«
Avriel spürte, wie er rot wurde. »Ich habe sie geküsst und sie hat mich geohrfeigt.«
Ariane nickte. »Und das hat es getriggert. So etwas passiert leider häufiger …«
»Wie kannst du …« Er konnte nicht weitersprechen. Sie hatte das so gesagt, als wäre es etwas Normales, als wäre nichts dabei, wenn ein Mensch getötet wurde. »Sie ist tot! Tot! Und ich …« Er sprang auf und starrte sie an. »Ich will wissen …«
Sie erhob sich und drückte ihn auf den Stuhl. »Sei doch still, ich erkläre dir ja alles, soweit ich kann.«
Aber wie konnte er still sein, wenn es in ihm schrie?