Blitzschnell zog der ganze Tag an ihm vorüber, während er wie in Zeitlupe seinen Finger vom Knopf löste.
»Still, willst du erschossen werden?« Das hatte Valentine gesagt, und nun war sie tot und er ein Mörder, ein Gejagter. Was sollte er nur tun?
Eines wusste Avriel: Er wollte leben, doch wenn man ihn hier erwischen würde, sähe es düster für ihn aus. Er wollte wegrennen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht und er starrte geistesabwesend auf das Blut an seinen Händen. Wie in Trance nahm er ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit, so gut es ging, das Blut aus dem Gesicht und von den Händen.
Das war ein Albtraum, oder? Das geschah nicht wirklich. Nicht mit ihm. Er war Pazifist, das widersprach allem, was er je gedacht hatte, das …
Der Klang ferner Sirenen riss ihn aus seinen Gedanken.
Hastig schaute er sich um, drückte dem leblosen Mädchen einen Kuss auf das Haar, öffnete das Fenster, kletterte auf das Fensterbrett und visierte bereits den Baum an, als er einen großen Wagen erblickte.
Der Wagen kam vor Valentines Haus zu stehen und seine Scheinwerfer tauchten die Umgebung in grelles Licht. Drei Ärzte stürmten aus dem Wagen.
Avriel drückte sich in den Schatten und machte sich so klein wie möglich. Wenn das Scheinwerferlicht ihn träfe, müssten sie ihn entdecken.
Ein Arzt zückte ein Plastikkärtchen und schritt genauso mühelos durch die Eingangstür wie zuvor Avriel.
Er spürte, wie sein Verstand erneut gegenüber seinen Instinkten kläglich versagte, wie Adrenalin seine Augen unwahrscheinlich scharf machte … Er sah jeden einzelnen Ast, jedes Blatt, jede Blattader … und sprang.
Der Ast federte unter ihm und er hielt sich krampfhaft fest. Was, wenn die Ärzte ihn bemerkten und ihm nachsahen?
Dumpf hörte er das Stampfen ihrer Schritte.
An den Ast der alten Eiche geklammert, fühlte er sich auf bekanntem Terrain – schließlich waren Valentine und er als Kinder oft genug auf diesem Baum herumgeklettert, wenn sie in ihrem Baumhaus gespielt hatten. Ungefähr auf der Höhe ihres Zimmerfensters spaltete sich der Baum in zwei Stämme auf, zwischen denen sich das kleine Holzhäuschen perfekt einfügte.
Vorsichtig robbte er so lautlos wie möglich über den dicken Ast, zog sich langsam an der Holzwand des Häuschens hoch und überblickte seine Möglichkeiten: im Schatten des Baumhauses entlang und dann weiter zur Hecke des Nachbarn, der am Grundstücksrand eine junge Balsamtanne mit dichten Ästen gepflanzt hatte. Eine andere Wahl blieb Avriel nicht. Er packte einen Ast über seinem Kopf und hangelte sich, so schnell er konnte, ans andere Ende des Baumhauses. Flüchtig sah er sich um. Von seinem Standort aus konnte er Valentines Fenster nicht mehr erkennen und hoffte, dass auch er somit für die Ärzte im Haus nicht zu sehen war.
Aber wie lange würden sie noch dort beschäftigt sein?
Avriel tastete sich an den Ästen entlang nach unten und streckte sich, bis er festen Boden spüren konnte. Langsam und vorsichtig löste er seinen Griff und sprang ins Gras.
Er hielt sich nah am Boden und kroch zur Hecke.
Wenn die Springfields kein Loch in ihrem Bewuchs hatten, würde sein Plan nicht funktionieren – und dann?
Eilig fuhr er mit den Händen durch die Zweige, suchte nach einer Lücke, die groß genug für ihn war.
Dabei stöberte er irgendwelche Tiere auf, die raschelnd davonstoben. Hoffentlich hatten die Nachbarn der Springfields keinen Hund …
Endlich fand er eine Lücke, die breit genug war, um seinen Kopf hindurchzustecken. Er legte sich flach auf den Bauch und verbreiterte sie so gut es ging mit den Händen.
Trotzdem zerkratzten ihm die Zweige beim Durchschlüpfen auf das Nachbargrundstück Gesicht und Arme, rissen ihm Löcher in die Kleidung und hätten ihn beinahe seinen linken Schuh gekostet.
Mühsam zwang sich Avriel, aufzustehen und drückte sich eng an den Stamm der Balsamtanne. Die Nadeln ignorierte er.
Avriel spürte, wie er unkontrolliert am ganzen Körper zu zittern begann.
Valentine …
Gerade eben noch ihr zartes, schlafendes Gesicht … die Ohrfeige … der Zorn … ihr Blut an seinen Händen …
Was hatte er getan?
Er hörte, wie sich weitere Wagen dem Haus näherten und spähte durch die Äste. Armeefahrzeuge. Keine Zeit für Gewissensbisse, sie würden in den nächsten Sekunden aussteigen und ihn zuerst genau dort suchen, wo er saß.
Im Schutz der Tanne schlich er zum Haus und umrundete es, sprang über den Zaun und schnappte sich sein Rad. Nichts wie weg!
Sehnsüchtig blickte Allegra nach draußen, auf die Wiese vor dem Waisenhaus. Jetzt, da es langsam Abend wurde, spürte sie, wie sie wieder zu den Lebenden zurückkehrte.
Das Atmen fiel ihr nicht mehr so schwer wie in der Gluthitze des Tages, ihre Gedanken waren nicht mehr so vernebelt. Wenn sie nicht wüsste, dass man sie in wenigen Stunden ins Bett schicken würde, hätte sie gute Laune. So aber schob sie ihr Abendessen lustlos auf ihrem Teller hin und her.
»Was wird das, wenn es fertig ist?« Miss Brown baute sich vor ihr auf.
Allegra blickte sie unschuldig an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Dein Essen wird mit Steuergeldern bezahlt. Wenn du es nicht aufisst, dann wandert es in den Müll. Ist es das, was du willst? Dass unsere Steuergelder in den Müll wandern?«
»Natürlich nicht, Miss Brown.« Was war das für eine dumme Frage?
»Dann iss auf.«
»Natürlich, Miss Brown.« Allegra rollte mit den Augen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Geld besonders gut schmeckte.
Abstrakte Dinge hatten ohnehin keinen Geschmack.
Es war immer wieder überraschend, wie gut sich der anerzogene Anstand der Leute gegen sie selbst nutzen ließ. Riú kannte keinen einzigen Fall eines Mutantenangriffs durch Jugendliche, bei dem sich der Schuldige nicht selbst ans Messer lieferte.
Es war lächerlich einfach. Sobald sie begriffen, was sie getan hatten, drückten sie alle auf den Ambulanzknopf oder riefen über ihren UniCom Hilfe. Ohne zu wissen, dass von diesem Augenblick an alles mitgeschnitten wurde, was um sie herum geschah.
So auch in diesem Fall.
Riú starrte so angestrengt auf die Aufnahmen, dass seine Augen zu tränen begannen. Er blinzelte einige Male heftig und rieb sich mit dem Handrücken übers Gesicht.
Jetzt nur nicht im entscheidenden Moment müde werden.
Nervös blickte er auf die Kamera-Streams, von denen der junge Mann auf einmal verschwunden schien. Wider besseres Wissen war er für einen Augenblick geneigt, an den Blödsinn zu glauben, dass Mutanten sich unsichtbar machen konnten. Doch sofort schüttelte er den Kopf. Als er damals Fabricia mit den Vorurteilen gegenüber Mutanten konfrontierte, hatte sie ihn laut und schallend ausgelacht, weil er an so einen Unfug glaubte. Er musste die Ursache in den Aufnahmen suchen.
Jetzt bereute er, seinen Assistenten weggeschickt zu haben. So musste er selbst mit den Dateien hantieren, statt die Show zu genießen.
Riú speicherte mit einigen geübten Handbewegungen die Aufnahmen aus dem Haus der Springfields und öffnete sie. Mit einer leichten Berührung seines Daumens spielte er die Dateien in Zeitlupe ab, und voilà …
Das Fenster im Zimmer des Mädchens stand offen und ein trotz modernster Kameras leicht unscharfes Bild zeigte ihm einen Mutanten, der genau 00:03:34 nach Aufnahmebeginn auf das Fensterbrett sprang und unmittelbar danach verschwand.
Aber wohin war der Mutant geflohen?
Sofort wollte er die Bilder der Außenkameras abrufen, um genau das herauszufinden, doch ihn empfing eine knallrote, blinkende Fehlermeldung im Kontrollpanel. Die Fehlerbeschreibung offenbarte ihm, dass schon letzte Woche jemand den Außenkameras von Gordon City den Saft abgedreht hatte – und anscheinend hatte sich immer noch niemand die Mühe gemacht, den Schaden zu reparieren, obwohl er höchstpersönlich die unmissverständliche Anweisunge gegeben hatte, Störungen an Überwachungsgeräten umgehend zu beheben!
Er tippte gegen die Smartwall. »Welchem County gehört Gordon City an?«
»Guten Abend. Gordon City gehört zu DeKalb County. Kann ich weiter behilflich sein?«
Die KI hatte eine angenehme Stimme, aber ihm wäre es lieber, sie hätte nichts gesagt.
»Fabricia, rufe den County Executive an.«
»Ich rufe den County Executive von DeKalb County an. Richtig?«
»Richtig.« Er stützte genervt das Gesicht in die Hände. KI stand für künstliche Intelligenz, aber das Programm müsste in dem Fall KD heißen. Künstliche Dummheit. Nicht zu vergleichen mit den Assistenten aus seiner Studienzeit.
Immerhin war das Programm schlau genug, sich durchzuwählen, ohne ihn nach weiteren Details zu fragen. Nachdem niemand ans Bürotelefon ging, rief es direkt beim County Executive zu Hause an.
»Mr Green?« Riú schielte auf das Profil, das Fabricia, wie er seine KI in einem sentimentalen Anfall genannt hatte, für ihn neben den Anrufinformationen einblendete.
»Wer ruft an? Es ist Feierabend. Wenn das ein Streich ist …«
»Riú Gordon. Aus dem Weißen Haus.«
»Entschuldigen Sie bitte, Sir, Mr President, ich …«
»Mr Green, wieso sind die Außenkameras an den Gebäuden in Gordon City kaputt und das seit vier Wochen?«
»Seit vier … Das ist nicht möglich. Die Außenkameras in Gordon City sind längst repariert.«
»Soll meine Office Managerin entsprechende Beweise zusammenstellen und Ihnen zukommen lassen, Mr Green?« Er lächelte.
»Ich … werde das überprüfen. Soll ich zurückrufen, Mr President?«
»Legen Sie nicht auf. Ich warte.«
»Ich werde mich beeilen.«
Riú hörte den Mann hektisch mit Papieren rascheln, Schubladen zuknallen und dann abgehackt tippen. Vermutlich einhändig.
Stille.
»Mr President?«
»Ich höre.«
»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber das Geld für die Reparatur der Kameras … Es ist mir sehr unangenehm.«
»Was?«
»Laut meinen Unterlagen sollten sie längst repariert worden sein. Aber offensichtlich ist das nicht geschehen. Ich weiß nicht, wohin die Staatsgelder dafür verschwunden sind.«
»Ein Mutant ist in Ihrem County auf der Flucht, Mr Green. Und keine einzige Außenkamera in der ganzen Stadt funktioniert. Sie ahnen hoffentlich, welche das Konsequenzen haben wird?«
Avriel war an den erstbesten Ort geradelt, der ihm einfiel – in den kleinen öffentlichen Park neben der Schule. Er würde nicht ewig dort bleiben können.
Sie würden ihn bald schon überall suchen.
Er musste verschwinden.
Unauffällig holte Avriel seinen UniCom aus der Hosentasche und linste auf die Uhr. Sperrstunde. Eigentlich durfte er sich nicht mehr auf den Straßen aufhalten. Normalerweise wurde das Gesetz eher lax durchgesetzt, aber nicht heute.
Eilig drückte er sich an den Wegen entlang, immer im Schatten, und hoffte, dass ihm keine Pärchen oder Spaziergänger mit Hund begegnen würden. Schnell fand er den kleinen, etwas verwahrlosten Springbrunnen. Angeblich moderne Kunst, für Avriel sah das Ding aus, als hätte jemand etwas Unförmiges gebaut und dann mit Absicht verrosten lassen.
Er lehnte sein Rad dagegen, schöpfte Wasser und wusch sich ausgiebig Gesicht und Hände. So lange, bis seine Haut rot war und sein Gesicht spannte. Er zog sich sein T-Shirt über den Kopf und wendete es. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, dass er es verkehrt herum trug, sodass niemand sehen würde, wie schmutzig es war. Außerdem hatte das Hemd, das er darüber getragen hatte, sowieso das Meiste abbekommen. Avriel ließ es in einen Abfalleimer fallen und schob mit einem Ast Müll darüber.
Das reichte zwar vermutlich nicht, um seine Spur vollkommen zu verwischen, doch es war besser als gar nichts. Wenn er nun durch den künstlichen Bachlauf im Park watete und anschließend in einem weiten Bogen ins Waisenhaus zurückkehrte, konnte er noch rechtzeitig zum Abendessen da sein und so tun, als ginge ihn das Ganze nichts an.
Konnte er so kaltblütig sein?
Valentine war tot und er dachte nur an sein eigenes Überleben. Wieso stellte er sich nicht einfach? Wieso wollte er trotz allem noch weiterleben?
Er wusste es nicht.
Die Befriedigung darüber, dass er Mr Green einschüchtern konnte, hielt nicht lange an. Vor allem aber löste dieses Telefonat sein eigentliches Problem nicht. Es war ihm egal, wer die Sicherheitsgelder veruntreut hatte, er wusste nur, dass diese Person bluten musste. Am besten sofort, qualvoll und während er genüsslich zusah.
Sofern nichts anderes beschädigt war, würde es schon ermittelbar sein, wer das gewesen war.
Er rief erneut Mormannin an. »Die Außenkameras in Gordon City sind defekt. Und zwar jede einzelne.«
»Ich weiß. Wir können die Suchspinnen nicht blind losschicken, das können wir uns nicht leisten. Ich habe bereits Drohnen für Gordon City angefordert, aber bis sie starten und beim Haus der Springfields sind …«
»… ist der Mutant möglicherweise weit weg. Das weiß ich, Bart.«
»Kann die Software ihn zuordnen? Anhand der Videoaufnahmen oder der DNA?«
»Die Bots sind dran. Er hatte die Haare vor dem Gesicht hängen und die Bilder sind teilweise verschwommen.«
Bart seufzte am anderen Ende Nordamerikas.
»Ihr werdet ihn finden und tun, was notwendig ist.«
»Natürlich.«
Riú legte auf. Gleich wie gut sich die Technik in den letzten Jahren wieder entwickelt hatte, er wollte sich das Ganze selbst ansehen. Noch einmal spielte er die Aufnahme ab, bis er ein Bild hatte, auf dem der Mutant aufrecht stand. Riú drückte den Moment-Freeze- und gleichzeitig den Auswertungsbutton, der das Bild zusätzlich mit Schätzungen zu Körpergröße, Gewicht und Alter beschriftete.
Zumindest konnte er so die Suche nach dem Mutanten einschränken lassen, selbst wenn keine genauere Analyse der Daten möglich sein sollte.
Er schickte die Datei an Bart Mormannin.
Parallel dazu drückte er auf einen Button, der ihn direkt mit dem Büro seiner Sekretärin verband. »Glafira, Vorlage M17. Du bekommst gleich die Parameter rein, ich will die Meldung sehen und selbst abschicken.«
Noch ehe die junge Frau antworten konnte, beendete er die Verbindung und schob die ausgewertete Datei in ihren Cloudordner.
Wenige Minuten später hatte er den fertigen Text vor sich auf dem Touchtable: An alle Anwohner Gordon Citys und des umgebenden Bezirkes! Ein gefährlicher Mutant bedroht die öffentliche Sicherheit. Es handelt sich um einen jungen Mann im Alter von ungefähr 17 Jahren. Er hat schulterlange, blonde Haare und trägt ein hellblaues Hemd mit T-Shirt darunter. Seine Augen sind grün, ansonsten ist er schmal gebaut und schätzungsweise 1,70 m groß. Hinweise werden erbeten. Bitte wenden Sie sich dafür an die örtlichen Polizeidienststellen.
Allgemein wird zum eigenen Schutze empfohlen, keine Fremden nach Sonnenuntergang ins Haus zu lassen und keine Obdachlosen vor der Haustür aufzunehmen und in das eigene Heim zu bringen.
Riú Raoulson Gordon, President of the United World.
Diese Nachricht sandte er direkt an den Leiter der Behörde für Propaganda, Giosephe Lobbes. Dessen Aufgabe war es, die Nachricht abzusegnen – oder mit zusätzlichen wirksamen Floskeln auszustatten – und dann an die Polizei weiterzuleiten.
»Nun entwischst du mir nicht mehr, kleiner Mutant.« Er grinste zufrieden. Zum ersten Mal an diesem Abend hatte er das Gefühl, etwas Nützliches getan zu haben.
Endlich erreichte Avriel das Waisenhaus. Flüchtig sah er sich um. Nach rechts, links, hinten, oben.
Nichts.
Jetzt musste er nur noch ungesehen hinein.
Hastig zog er seinen UniCom aus der Hosentasche und schaute auf die Uhrzeit. Das Abendessen hatte er jedenfalls schon verpasst, das verhieß nichts Gutes.
Das Gerät vibrierte in seinen Händen und er rief die Nachricht ab.
»An alle registrierten Nutzer.«
Er las weiter.
Scheiße. Das war sein Fahndungsaufruf.
Sein Hemd. Sein T-Shirt. Seine Haare. Zum Glück hatte er das Hemd bereits entsorgt und seine Haare hingen so weit in sein Gesicht, dass man es kaum erkennen konnte. Aber was, wenn das nicht reichte? Wie viele Jungs in seinem Alter trugen lange Haare? Und wie viele von denen kannten Valentine?
Übelkeit stieg in ihm auf, traf auf einen schmerzhaften Kloß in seinem Hals. Er lehnte sich an den Baum vor dem Waisenhaus und übergab sich so lange, bis er nur noch Magensaft spuckte.
Er verlor wertvolle Zeit.
Schnell zog er den UniCom wieder hervor und tippte eine Nachricht an seinen besten Freund Todd. »Ich brauche Hilfe.«
Prompt kam die Antwort: »Wo bist du? Die Ronny tobt. Die haben hier eine Razzia gemacht, alles auf den Kopf gestellt, und sie ist ihnen die ganze Zeit nachgerannt und hat gebrüllt.«
Mrs. Ronnington war der größte Waisenhausdrache, den man sich vorstellen konnte. Fast musste Avriel bei dem Gedanken daran, wie sie Soldaten zur Schnecke machte, lächeln. Aber nur fast.
»Ich bin direkt vor dem Waisenhaus und muss irgendwie rein, ohne dass die Ronny das mitkriegt. Sind noch Soldaten hier?«
»Die sind weg. Die Nachricht vom Weißen Haus, bist du das? Alter, was hast du angestellt?«
»Hilfst du mir?«
»Nur, wenn du mir nichts tust. Da stand was von ›gefährlich‹ im Aufruf.«
»Ich habe nicht vor, dich aufzufressen …«
»Okay. Ich mache dir das Kellerfenster auf.«
»Danke. Hast was gut bei mir.« Nicht, dass Avriel wusste, wie er Todd irgendetwas zurückzahlen sollte, aber er musste ins Waisenhaus hinein, die Wiedergutmachung konnte warten. Er schlich sich an der Hauswand entlang zur nördlichen Seite, wo er den Zugang zum Keller kannte. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich die Heimkinder regelmäßig dort aus dem Haus und wieder hinein schlichen. Nur scheiterte die Heimleitung anscheinend an ihren kläglichen Versuchen, herauszufinden, wo sich der Durchgang befand und wie man ihn stopfen konnte.
Gut für Avriel.
Das Fenster war tatsächlich offen und er quetschte sich hindurch.
»Was ist passiert?« Im schummrigen Kellerlicht sah Avriel nur das Weiße in Todds Augen.
»Lange Geschichte. Ich habe eine Menge Ärger am Hals.«
»Und da willst du dich ausgerechnet hier verstecken?«
»Ich wüsste nicht, wo sonst! Es ist Sperrstunde.«
»Ja, gut …« Todd kratzte sich am Kopf. »Du willst nicht, dass die Ronny weiß, dass du hier bist, oder?«
»Zuerst wollte ich zum Abendessen kommen, aber … Nein. Ich muss …« Avriel fuhr sich durch die Haare und fühlte getrocknetes Blut an den Haarspitzen. Offenbar hatte er im Park nicht alles erwischt.
»Dich umziehen …?«
»Das auch. Die Haare müssen ab.«
»Die Mädchen fliegen auf deine langen Haare!«
Avriel dachte an Valentine. »Ich weiß. Weg damit.«