Er konnte nicht ewig auf diese Streams schauen, die ohnehin alles Mögliche zeigten, nur nicht das, was er sehen wollte – einen toten Mutanten.
Er ignorierte die Nachrichten, die seinen UniCom zum Vibrieren brachten, und dachte nach.
Riú hatte alles, was sich die meisten Menschen erträumten. Das einzige Amt, bei dem niemand über ihm stand und ihm irgendwelche Befehle erteilen konnte. Absolute Macht über jeden Menschen auf seinem Planeten. Geld. Und er wusste, dass er nur einmal winken musste, um an jeder Hand zig Frauen zu haben. Nicht, weil er der Präsident war, sondern weil er trotz Verzicht auf die ganzen neumodischen Mittelchen immer noch so gut aussah wie ein Model.
Selbst die Mutanten hatte er unter Kontrolle. Von ihnen ging nur vereinzelt Gefahr aus.
Wie von diesem Jungen, den er jagen ließ – womit seine Gedanken wieder bei dem Teenager waren, dessen Leiche er sehen wollte.
Sein UniCom vibrierte erneut. Ein Anruf.
Riú starrte auf das Display. Das war die Nummer von Mr Green.
»Ich habe die Leute, die die Gelder veruntreut haben.«
Riú grinste, auch wenn er wusste, dass Mr Green ihn nicht sehen konnte. Vielleicht war das auch besser so. »Gut. Ich will, dass sie mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden, Mr Green. Ich werde ein Auge auf die Angelegenheit haben.«
»Natürlich, Mr President.«
Zumindest ein Triumph an diesem Tag.
»Sicher, dass du das tun willst?«
»Ganz sicher. Ich habe keine andere Wahl.« Avriel schloss die Augen und vertraute seinem besten Freund.
Das gewohnte Sirren bewies, dass Todd den drahtlosen Trimmer eingeschaltet hatte, und bald darauf fühlte Avriel die Aufsätze über seinen Kopf kratzen.
Obwohl er die Lider geschlossen hielt, hatte er genau vor Augen, wie Locke um Locke neben seine Schuhe fiel. Als würde Todd sein Herz rasieren, nicht seinen Kopf.
Erst als das Sirren endete, öffnete er die Augen. »Wie furchtbar sehe ich aus?«
»Ungewohnt. Jetzt hast du so riesige Hungeraugen und … woah, das sieht schräg aus.« Todd leuchtete Avriel mit dem UniCom ins Gesicht.
»Das sieht schräg aus?«
»Na ja, es wussten fast alle Kids, dass du ein Mutant sein musst.«
»Was?«
»Ja klar. Man sah es dir zwar nicht an, aber war ja offensichtlich, wenn du nach dem Abendessen völlig aufgedreht warst und niemand einschlafen konnte, weil du noch irgendeinen Schwachsinn geredet hast fast bis zum Morgen.«
»Aber die Ronny und die anderen …«
»Denen ist doch egal, wer du bist, solange sie für dich kassieren. Vermutlich hätten sie dich halt sofort ausgeliefert.«
»Und ihr habt mich nicht verraten?«
»Wir sind deine Freunde …?«
Avriel fühlte, wie sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl. »Also … danke, Todd.«
»Du willst nicht wissen, was der Plan ist?«
»Doch.«
»Ich habe hier Klamotten für dich. Die anderen machen Radau, damit die Ronny beschäftigt ist und keine Zeit hat, die Nachricht zu lesen. Und wir zwei brechen ins Aktenzimmer ein.«
»Bist du bescheuert?« Jetzt von der Ronny erwischt zu werden, wäre schlimm.
»Na ja, wenn du wissen willst, wohin du abhauen sollst, brauchst du deine Akte, oder nicht?«
Avriel nickte. Er hatte nichts mehr zu verlieren.
»Dann los.« Todd sah auf seinen UniCom. »Sie staucht gerade jemanden im Garten zusammen. Los!«
Avriel folgte seinem besten Freund geduckt und im Laufschritt durch die vertrauten Korridore.
In der Ferne hörte er lärmende Jugendliche und die durchdringende Stimme von Emma Ronnington. Je weiter weg sie erklang, desto besser.
Erdgeschoss, erster Stock, zweiter Stock.
»Ronny ist jetzt in der Turnhalle, Noah hat sämtliche Bälle durcheinandergeworfen.«
Avriel nickte nur. Sein Mund war zu trocken zum Sprechen.
Der Korridor, der zu Ronningtons Büro führte.
Das Vorzimmer.
Das Büro.
Die kleine Tür zum Aktenraum.
»Wenn die uns hier findet, kommen wir nie mehr raus.«
»Aber sie findet uns nicht.«
»Und wie kommen wir da rein?« Avriel starrte auf die Tür zum Aktenraum und überlegte krampfhaft. Sie hatten nicht viel Zeit.
»Das ist ein altmodisches Schloss. Mit irgendeiner Magnetkarte.« Todd zerrte an seinem UniCom herum.
»Heißt?«
»Hast du an deinem UniCom nicht so eine Hülle mit einem Magneten drin? Damit sie nicht dauernd aufklappt?«
»Habe ich.« Avriel löste seinen UniCom aus der Hülle.
»Gib mal her. Vielleicht klappt das ja.« Todd hielt den kleinen Magneten ans Türschloss.
Sie saß in der Abstellkammer und spielte auf ihrem UniCom. Level 182 sperrte sich schon seit zwei Wochen dagegen, von ihr geknackt zu werden, und das nervte sie. Bis dahin hatte sie selbst die schwierigsten Etappen des Spiels nach wenigen Tagen bestanden.
Und wenn sie doch die Premiumwährung kaufte? Mit einem Fingerschnippen wechselte sie aus der Augmented-Umgebung des Spiels in ihr Bankprogramm, authentifizierte sich mit einem Daumenabdruck auf einem virtuellen Feld über dem UniCom und verzog angesichts der kleinen Zahl an verbliebenen Units ihr Gesicht. 25 Û und noch ziemlich viel Monat. Was, wenn sie den Level trotzdem nicht schaffte?
Ein Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihrer Konzentration auf. Wer wusste, dass sie in der Abstellkammer saß?
Allegra rührte sich nicht, lauschte.
»Ally? Ich weiß, dass du da drin bist.«
Das war die Stimme der Heimleiterin! Sie wusste, dass Allegra noch wach war und würde sie vermutlich dafür bestrafen.
Ihr Herz klopfte schmerzhaft, als sie den UniCom in ihre Gesäßtasche steckte und langsam aufstand. Sie öffnete die Tür und blickte Miss Tan ins Gesicht.
Statt ihr eine Standpauke zu halten, lächelte die Heimleiterin sie nur angespannt an. »Gut, dass ich dich hier finde, Ally.« Ihre Hände zitterten.
»Warum? Was ist los?«
»Im ganzen County wurde eine Mutanten-Razzia ausgerufen. Sie suchen zwar einen jungen Mann, aber seit wann tun die Mutantenjäger nur das, was sie angeblich sollen? Die werden allen hier mit ihren Taschenlampen in die Augen leuchten. Du bist in Gefahr.«
Allegra zwang sich, durchzuatmen. »Ich weiß nicht, wieso mich das betreffen sollte, Miss Tan.«
»Wir haben keine Zeit für diese Spiele. Du weißt, dass du eine Mutantin bist. Ich weiß, dass du eine Mutantin bist. Wir müssen uns beeilen.«
Allegra wischte sich hastig die feuchten Handflächen an der Hinterseite ihrer Hose ab. »Kann ich Ihnen vertrauen?«
»Ich hätte dich bei den ersten Anzeichen verraten können, aber das wollte ich nicht. Ich bin weder blind noch blöd, Mädchen.«
»Na gut …« Widerwillig verließ Allegra den Abstellraum. »Was jetzt?«
»Du musst nach New Orleans gehen.«
»Die Stadt wurde aufgegeben.«
»Vertrau mir.« Miss Tan wischte an ihrem UniCom herum. »Ich habe dir eine Route geschickt, auf der du dorthin gelangen kannst. Nur an diesem Ort bist du sicher und findest Hilfe. Deinesgleichen leben dort.«
Allegra tippte den Bildschirm an und sofort projizierte der UniCom eine Holokarte in die Luft. Sie runzelte die Stirn. »Das sind … mehr als fünfhundert Meilen. Wie soll ich das zu Fuß schaffen?«
»Darum geht es nicht. Entweder du schaffst es oder du stirbst. Wenn du bleibst, kannst du nur sterben.«
»Wie viel Zeit habe ich noch?«
»Die Nachricht ging vor einigen Stunden raus, sie haben in Gordon City angefangen. Du musst schnellstens hier weg.«
»Gut.« Allegra atmete tief durch. »Ich brauche meine Schuhe und Proviant.« Sie wackelte mit den Zehen in ihren Flipflops.
»Ich habe einen Rucksack in der Küche vorbereitet. Zieh dich um. Ich warte dort auf dich.«
Allegra zog die Flipflops aus und huschte barfuß in den Schlafsaal.
Einige der anderen Mädchen schliefen bereits, andere spielten heimlich auf ihren UniComs.
»Ally! Wo kommst du auf einmal her?«
»Sch! …« Eilig zog Allegra ihre Schuhe unter dem Bett hervor, zog sich ein Paar Socken über die Füße und schlüpfte in die Turnschuhe.
»Ally?«
»Seid still!« Sie zog eine leichte Jeansjacke über und schlich wieder zur Tür.
Dieses Mal quietschten ihre Turnschuhe aufdringlich.
»Ally, wo gehst du hin?«
»Wieso bist du noch auf?«
»Was ist hier los? Ich will schlafen!«
»Ally?«
Ihre Hände fühlten sich eiskalt an.
Die anderen Mädchen wussten nichts. Noch nicht. Sie brachten die Nachricht, die auch sie gelesen hatte, nicht mit Allegra in Verbindung. Aber bald würden sie verstehen. Und dann?
Er drehte die Akte zwischen den Händen und traute sich nicht, sie aufzumachen und zu lesen.
Und das seit Stunden.
Es war einfach alles viel zu schnell gegangen. Todd hatte die Tür zum Aktenschrank geknackt und während Avriel nach seiner Akte gesucht und sie sich unter das T-Shirt geklemmt hatte, verursachte sein bester Freund so viel Chaos im Raum, dass der Verlust der Unterlagen erst einmal nicht auffallen würde.
Dann hatte Todd ihn in einem anderen Keller versteckt und kam einige Zeit später mit Crackern und einer Flasche Wasser zurück. »Die Ronny tobt.«
»Klar. Was hast du erwartet? Dass sie euch für das Chaos eine Medaille verleiht?«
»Äh …«
»Ja, genau.«
»Ich lass dich dann mal hier. Sag mir einfach nicht, wann du abhaust. Oder sag es mir doch. Dann lenke ich die Ronny ab, ja?« Todd verschwand.
Seitdem war Avriel alleine mit den Akten und den Crackern.
»Was soll’s …« Er legte sich auf den Bauch, breitete die Papierakte aus und beleuchtete sie mit dem UniCom.
Laut den Eintragungen war er erst einige Tage alt gewesen, als ihn eine Frau auf ihrer Türschwelle gefunden hatte. Er trug ein Bändchen am Arm, auf dem sein Name und sein Geburtsdatum gestanden hatten. Der 08.07.2128.
Morgen vor siebzehn Jahren.
Er strich mit den Fingerspitzen über das beiliegende Foto. Ein glatzköpfiges Baby mit dicken Ärmchen.
Die Frau, die ihn gefunden hatte, hieß Ariane Faw und hinter ihrem Namen stand in Klammern ›HSM‹. Homo Sapiens Mutans.
Eine Mutantin.
Er tippte ihre Adresse, die in der Akte stand, in seinen UniCom ein – wenn er Glück hatte, wohnte sie noch dort und konnte ihm ein paar Fragen beantworten. Er musste nur einen Weg finden, um nach Atlanta zu kommen.
Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, wenigstens an diesem Abend noch vor der Ausgangssperre zu erwachen. Doch wie immer, wenn der Wecker ihres UniComs klingelte, stellte sie ihn ruhig, drehte sich um und kuschelte sich noch für ein, zwei Stündchen in die Kissen.
Erst weit nach Sonnenuntergang schälte sie sich aus der Decke und tappte ins Badezimmer.
Ariane begann ihren Abend damit, sich die kurz geschnittenen Locken zu kämmen und zu schauen, ob sich graue Haare ins Blond geschlichen hatten.
Negativ.
Beruhigt wandte sie sich dann der sorgfältigen Wahl ihrer Kleidung zu: Minirock, Hosenträger, eine weiße Bluse.
Wie jeden Abend weckte die Garderobe Erinnerungen an die glückliche Zeit, als sie Geschichtsstudentin gewesen war – damals waren Mutanten und Menschen noch freundlich zueinander gewesen. Es war gleichgültig, zu welcher der beiden Menschenrassen man gehörte, solange man nur Köpfchen besaß und an der Abendfakultät von Washington alle Prüfungen bestand. Angriffe – laut Riú Gordon der Grund für die Verfolgungen – fanden praktisch nicht statt. Vielleicht alle zwei, drei Jahre einer. Wenn überhaupt.
Kurz bevor sie die Wohnung verließ, betrachtete sie ihr Lieblingsfoto.
Im Mondlicht hatten sie damals, vor neunzehn Jahren, ein Foto gemacht. Fabricias strenger Zopf schlang sich wie zufällig um Riús Hals, er hielt sie fest an sich gedrückt, und Ariane selbst stand hinter ihnen auf einer Bank und lachte.
Warum war er nur so ein Monster geworden?
Ariane schloss die Tür auf und ging los zum Zigarettenautomaten. Sie brachte es einfach nicht fertig, ihren Bedarf realistisch einzuschätzen und die Päckchen auf Vorrat zu kaufen. Außerdem wurde sie noch nie erwischt, obwohl sie fast jeden Abend draußen war. Dabei ließ sie die Nacht Revue passieren, in der eine verweinte Fabricia bei ihr vor der Tür gestanden und um Einlass gebeten hatte.
Damals hatte Fabricia mit Riú Schluss gemacht, weil sie von ihm schwanger war und nicht wollte, dass er ihretwegen Probleme mit seinem Vater bekommen würde. »Hast du es ihm gesagt?«, fragte Ariane sofort, doch ihre beste Freundin hatte verneint.
Wenige Wochen später trat Riú in die Antimutanten-Partei, kurz: AMP, ein und Ariane brach jeden Kontakt zu ihm ab. Sie konnte nicht länger mit jemandem befreundet sein, der aktiv an ihrer Vernichtung und der Ausrottung ihrer Mitmutanten arbeitete.
Sie selber war kurz darauf in die Oppositionspartei MP eingetreten und bereute es nicht – sie wollte ihre Würde bewahren und mit allen Mitteln dagegen kämpfen, dass den Mutanten im Laufe der Jahre sämtliche Grundrechte entzogen wurden.
Auch wenn das Schicksal sie und ihren einst besten Freund auf diese Weise zu Feinden machte.
Ein angenehmer Sommerwind hüllte Ariane ein und nahm alles Trübe ihrer Gedanken mit sich fort, als sie ihre Kreditkarte zog und trotz Ausgangssperre in aller Ruhe ihre Zigaretten bezahlte. Auf ihrem UniCom würde sie dafür eine Mahnung erhalten, aber das war ihr egal. Sie würde antippen, dass sie sich ihres Unrechts bewusst war, und weitermachen. Glücklicherweise meldeten die Banken das noch nicht an die Behörden.
Dabei überflog sie aus reiner Gewohnheit die Anzeigen auf der Werbesäule neben dem Automaten. Der neueste Kinofilm, das modernste bionische Exoskelett, ein Mutantenschreck auf Ultraschallbasis im Sonderangebot, Kurznachrichten …
Dann sah sie die Fahndungsanzeige.
»Nanu?« Sofort sprang ihr die Ähnlichkeit ins Auge: Sieht der Typ auf dem Steckbrief nicht fast so aus wie Riú als Jugendlicher? Wie konnte das bloß sein?
Sie atmete tief durch. Eigentlich war das Ganze wie ein Augmented Reality Spiel, und ihre Quest bestand darin, zunächst lebend und ungesehen die Stadt zu verlassen.
Nur war das hier kein Spiel.
Die Riemen des Rucksacks drückten ihr in die Schultern, ihre Füße schmerzten vom Laufen, sie versteckte sich im Schatten und durfte sich nicht bewegen, sobald sich eine Patrouille näherte.
Die schwer bewaffneten Einheiten waren die Einzigen, die während der Sperrstunde noch unterwegs sein durften. Sie und die vollautomatischen Lastwagen der entsprechenden Gewichtsklasse.
Ansonsten waren die Städte nachts nahezu ausgestorben.
Allegra wich beiden aus. Die selbstfahrenden Laster sollten zwar keine Gefahr darstellen, aber wer wusste, wohin die Bilder ihrer Frontscheibenkameras übertragen wurden. Kein überflüssiges Risiko eingehen, das war nicht nur in Videospielen die klügere Wahl.
Sie folgte den Spuren der Magnetbahnen von Haltestelle zu Haltestelle.
Miss Tan würde sie nicht vermisst melden. Zumindest nicht, solange es sich vermeiden ließ. Sobald im Morgengrauen die Ausgangssperre enden würde, konnte Allegra sich in einen beliebigen Zug in Richtung Louisiana setzen, ohne aufzufallen. Aber selbst im Sommer musste sie bis dahin noch einige Stunden durchhalten.
Die Stille der Stadt lastete auf ihr und sie musste gegen die Angst ankämpfen, ohne singen oder pfeifen zu dürfen. Lautlos, mit überreizten Sinnen, auf jedes Geräusch lauernd, das einen Lastwagen oder eine Patrouille ankündigen konnte. Allegra führte es sich immer wieder vor Augen: Sie suchten einen Jungen mit blondem Haar. Sie würden vor einem Mädchen mit schwarzem Haar trotzdem nicht haltmachen.
Wenn sie erwischt wurde, konnte sie sich genauso gut gleich umbringen, nur fehlte ihr die Fantasie für eine sinnvolle Methode, die mit nichts als einem Rucksack voller Essen und einem UniCom durchführbar wäre.
Ein leises Sirren zerschnitt die Stille und hallte in den Häuserschluchten wider.
Allegra blickte auf.
Eine Drohne.
Sie starrte das Fluggerät für den Bruchteil einer Sekunde an – dann rannte sie los.
Das Sirren spann sie in ein Netz aus Geräuschen ein, vor ihr, hinter ihr, über ihr, überall, kein Entrinnen, wenn es sie erst erreichte …
Die Drohne hatte Waffen. Einen Taser, wenn sie sich richtig erinnerte. Und »Brüder«.
Zwischen die Gassen.
Über die Magnetspur.
Hinunter in die Unterführung.
Weiter, immer weiter, durch die verwaisten unterirdischen Gänge und wieder in die Nacht. Irgendwann muss es doch Morgen werden. Und bis dahin musste sie die Stadt verlassen haben.
Sie folgte erneut den Spuren der Magnetbahnen, jetzt ohne das Sirren im Nacken. Offenbar hatten die Kameras der Drohne sie überhaupt nicht erfasst, als sie losgerannt war. Sonst wäre ihr das Gerät bestimmt nachgeflogen.
Vielleicht würde sie es nicht schaffen, vor Tagesanbruch die Stadt zu verlassen. Aber ihr UniCom sagte ihr, dass der Multihafen von Atlanta in der Nähe war. Von dort aus fand sie bestimmt einen Zug aus der Stadt. Oder einen billigen Kleinflieger.
Und es würde niemandem auffallen, wenn sie bis zum nächsten Aufenthalt ein wenig schlief.
Avriel musste irgendwann in seinem Versteck eingedöst sein, er erwachte vom durchdringenden Vibrieren des UniComs.
»Bist du noch nicht weg?«
Avriel stand mühsam auf und stellte fest, dass ihm im Schlaf Speichel aus dem Mund geronnen war. Ekelhaft. Er wischte sich über den Mund, streckte sich und schrieb dann erst zurück: »Ich bin wach. Kann losgehen.«
Konnte es eigentlich kein bisschen, aber je eher er wegkam, desto besser.
Er musste nicht lange warten, fünf Minuten später erreichte ihn die nächste Nachricht von Todd: »RENN!«
Und er rannte. Durch den Keller, raus aus der kleinen Tür, die zu einer ebenerdigen Feuerleiter führte und ins nächste Gebüsch. Dort verschnaufte er kurz, ehe er sich unter die morgendlichen Fußgänger von Gordon City mischte.
Die meisten Schüler und Berufstätigen waren längst in ihren Schulen oder Büros, trotzdem waren zahlreiche Leute unterwegs.
Leute, die verschlafen hatten, Bummler, Rentner.
Avriel blieb vor einem Schaufenster stehen und starrte sein Spiegelbild an. Mit den kurzen Haaren sah sein Gesicht irgendwie komisch aus, die Augen wirkten viel zu groß. Vorsichtig strich er sich mit der Hand über die fünf Millimeter Blondhaar, die Todd ihm noch gelassen hatte. Fühlte sich seltsam an.
Er musste jetzt einen Weg finden, schnell und unauffällig zum Haus einer gewissen Ariane Faw in Atlanta zu gelangen.
Avriel drehte sich um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich Rod’s vollautomatische Carsharing-Anlage, wo er schon als Dreizehnjähriger tagsüber im zugehörigen Café gejobbt hatte.
Er blickte sich um und hastete über die Straße.
Mit feuchten Händen fummelte er seine ID-Card aus der Hosentasche und brauchte vor Nervosität eine Weile, um sie in den Türschlitz zu stecken. Er sprang vor Schreck fast in die Luft, als die Schiebetür beim Öffnen zischte. Mit klopfendem Herzen schlich er in die Anlage und erschrak jedes Mal, wenn sein Näherkommen eine kleine Neonleuchte anschaltete.
Er huschte in die Garage und steckte seine Karte in das Lesegerät neben dem erstbesten Elektroauto. Es war ein dunkelblauer Ecogreen Cheetah Bolt von 2140. Die Autotür öffnete sich und er nahm die Karte wieder an sich.
Auf dem Fahrersitz wischte er seine schweißnassen Hände an seiner Jeans ab und zwang sich, die Routinechecks durchzuführen. Ob kein Warnlämpchen blinkte und für welche Strecken der Akku reichte. Er wählte die längste – nach Atlanta – und fuhr aus der Garage. Dann aktivierte er den Autopiloten.
Er begriff: Niemand durfte ihn entdecken, aber er hinterließ die ganze Zeit digitale Spuren. Sollten die Behörden seinen Namen kennen, war er geliefert, wohin er auch ging. Dann würde es nur Sekunden dauern, bis seine Bank seine Zahlungshistorie offenlegen müsste …
Atlanta war nur eine Stunde entfernt, er hatte noch gar keine Zeit gehabt, sich eine Strategie zu überlegen. Was, wenn Ariane Faw gar nicht mehr dort wohnte?
Und wieso hatte er das nicht bedacht, bevor er sich nach Atlanta fahren ließ?
Schließlich hielt er zwei Häuser von Arianes Adresse entfernt unter einem Baum. Möglichst leise stieg er aus und kauerte sich zwischen Baum und Wagen, um nicht gesehen zu werden.
In unmittelbarer Nähe befand sich ein Zigarettenautomat. Und wie neben jedem Zigarettenautomaten auf der ganzen Welt stand auch neben diesem eine animierte Reklamesäule und blendete abwechselnd Werbung und aktuelle Nachrichten ein.
Er musste unbedingt einen Blick darauf werfen, um zu erfahren, ob er bereits in der ganzen United World gesucht wurde.
Die Säule blendete erst die aktuelle Quizfrage des Tages ein, dann Werbung für das neueste UniCom-Modell einer überteuerten Marke, danach erst die Politik-News.
Ein körniges Bild von ihm, bei dem die Haare einen Großteil seines Gesichts verdeckten, zu seinen Füßen eine Gestalt, die nur Valentine sein konnte.
Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen, wandte seinen Blick ab und lehnte sich gegen den Zigarettenautomaten.
»Alles in Ordnung?« Eine Frau mit grünen Dreadlocks und einem Collie-Mischling an der Leine tippte ihn an.
»Ja. Ja, mir geht es gut. Ich muss nur …«
»Ich kann das sehr gut verstehen.« Sie grinste und versetzte dabei ihre Lippenpiercings in Schwingung. Sie klingelten leise aneinander. »Mir wird von zu viel Kapitalismus auch immer schlecht.«
»Ja. Genau das ist es.« Avriel atmete tief durch.
Die junge Frau lächelte ihm zu und ließ sich von ihrem Hund davonziehen. Entweder hatte sie sein Bild nicht gesehen – oder ihn tatsächlich nicht erkannt.
Avriel blickte auf die Zeitanzeige an seinem UniCom. Halb neun am Morgen war vermutlich nicht die beste Zeit, um das Haus einer Mutantin aufzusuchen, aber er hatte keine Wahl. Dann klingelte er sie eben aus dem Bett. Er selbst fühlte, wie sich die nahezu schlaflosen Nächte und durchwachten Tage bemerkbar machten. Wie lange würde er das durchhalten, ohne verrückt zu werden?
Aber verrückt war er wohl schon. In einem Anfall von Wahnsinn hatte er …
Stopp.
Er zwang sich, diese Gedanken vorerst zu verdrängen. Sie drehten sich ohnehin nur im Kreis, wenn er sie zuließ. Es war nicht weit bis zu Ariane Faw, er durfte nur einen Schritt nach dem anderen machen.
Avriel wusste nicht, was er erwartet hatte – aber sicher kein vollkommen normales Einfamilienhaus, wie es auch in seiner Gegend von Gordon City hätte stehen können. Vermutlich zögerte er darum, auf die Klingel zu drücken.
Doch nichts passierte.
Hinter den Vorhängen rührte sich niemand, wie lange er auch den Knopf drückte.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, als am Abend wiederzukommen.
Seine Gedanken drohten, zu Valentine zurückzukehren, doch er kämpfte sie nieder. Stattdessen dachte er daran, wie er diesen Tag verbringen konnte.
Kaffee war ein guter Anfang.