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10. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145

Er konn­te nicht ewig auf die­se Stre­ams schau­en, die oh­ne­hin al­les Mög­li­che zeig­ten, nur nicht das, was er se­hen woll­te – einen to­ten Mu­tan­ten.

Er igno­rier­te die Nach­rich­ten, die sei­nen UniCom zum Vi­brie­ren brach­ten, und dach­te nach.

Riú hat­te al­les, was sich die meis­ten Men­schen er­träum­ten. Das ein­zi­ge Amt, bei dem nie­mand über ihm stand und ihm ir­gend­wel­che Be­feh­le er­tei­len konn­te. Ab­so­lu­te Macht über je­den Men­schen auf sei­nem Pla­ne­ten. Geld. Und er wuss­te, dass er nur ein­mal win­ken muss­te, um an je­der Hand zig Frau­en zu ha­ben. Nicht, weil er der Prä­si­dent war, son­dern weil er trotz Ver­zicht auf die gan­zen neu­mo­di­schen Mit­tel­chen im­mer noch so gut aus­sah wie ein Mo­del.

Selbst die Mu­tan­ten hat­te er un­ter Kon­trol­le. Von ih­nen ging nur ver­ein­zelt Ge­fahr aus.

Wie von die­sem Jun­gen, den er ja­gen ließ – wo­mit sei­ne Ge­dan­ken wie­der bei dem Tee­na­ger wa­ren, des­sen Lei­che er se­hen woll­te.

Sein UniCom vi­brier­te er­neut. Ein An­ruf.

Riú starr­te auf das Dis­play. Das war die Num­mer von Mr Green.

»Ich ha­be die Leu­te, die die Gel­der ver­un­treut ha­ben.«

Riú grins­te, auch wenn er wuss­te, dass Mr Green ihn nicht se­hen konn­te. Vi­el­leicht war das auch bes­ser so. »Gut. Ich will, dass sie mit der gan­zen Här­te des Ge­set­zes be­straft wer­den, Mr Green. Ich wer­de ein Au­ge auf die An­ge­le­gen­heit ha­ben.«

»Na­tür­lich, Mr Pre­si­dent.«

Zu­min­dest ein Tri­umph an die­sem Tag.

11. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145

»Si­cher, dass du das tun willst?«

»Ganz si­cher. Ich ha­be kei­ne an­de­re Wahl.« Avri­el schloss die Au­gen und ver­trau­te sei­nem bes­ten Freund.

Das ge­wohn­te Sir­ren be­wies, dass Todd den draht­lo­sen Trim­mer ein­ge­schal­tet hat­te, und bald dar­auf fühl­te Avri­el die Auf­sät­ze über sei­nen Kopf krat­zen.

Ob­wohl er die Li­der ge­schlos­sen hielt, hat­te er ge­nau vor Au­gen, wie Lo­cke um Lo­cke ne­ben sei­ne Schu­he fiel. Als wür­de Todd sein Herz ra­sie­ren, nicht sei­nen Kopf.

Erst als das Sir­ren en­de­te, öff­ne­te er die Au­gen. »Wie furcht­bar se­he ich aus?«

»Un­ge­wohnt. Jetzt hast du so rie­si­ge Hun­ge­rau­gen und … woah, das sieht schräg aus.« Todd leuch­te­te Avri­el mit dem UniCom ins Ge­sicht.

»Das sieht schräg aus?«

»Na ja, es wuss­ten fast al­le Kids, dass du ein Mu­tant sein musst.«

»Was?«

»Ja klar. Man sah es dir zwar nicht an, aber war ja of­fen­sicht­lich, wenn du nach dem Abendes­sen völ­lig auf­ge­dreht warst und nie­mand ein­schla­fen konn­te, weil du noch ir­gend­ei­nen Schwach­sinn ge­re­det hast fast bis zum Mor­gen.«

»Aber die Ron­ny und die an­de­ren …«

»De­nen ist doch egal, wer du bist, so­lan­ge sie für dich kas­sie­ren. Ver­mut­lich hät­ten sie dich halt so­fort aus­ge­lie­fert.«

»Und ihr habt mich nicht ver­ra­ten?«

»Wir sind dei­ne Freun­de …?«

Avri­el fühl­te, wie sich ein Lä­cheln auf sein Ge­sicht stahl. »Al­so … dan­ke, Todd.«

»Du willst nicht wis­sen, was der Plan ist?«

»Doch.«

»Ich ha­be hier Kla­mot­ten für dich. Die an­de­ren ma­chen Ra­dau, da­mit die Ron­ny be­schäf­tigt ist und kei­ne Zeit hat, die Nach­richt zu le­sen. Und wir zwei bre­chen ins Ak­ten­zim­mer ein.«

»Bist du be­scheu­ert?« Jetzt von der Ron­ny er­wi­scht zu wer­den, wä­re schlimm.

»Na ja, wenn du wis­sen willst, wo­hin du ab­hau­en sollst, brauchst du dei­ne Ak­te, oder nicht?«

Avri­el nick­te. Er hat­te nichts mehr zu ver­lie­ren.

»Dann los.« Todd sah auf sei­nen UniCom. »Sie staucht ge­ra­de je­man­den im Gar­ten zu­sam­men. Los!«

Avri­el folg­te sei­nem bes­ten Freund ge­duckt und im Lauf­schritt durch die ver­trau­ten Kor­ri­do­re.

In der Fer­ne hör­te er lär­men­de Ju­gend­li­che und die durch­drin­gen­de Stim­me von Em­ma Ron­ning­ton. Je wei­ter weg sie er­klang, de­sto bes­ser.

Erd­ge­schoss, ers­ter Stock, zwei­ter Stock.

»Ron­ny ist jetzt in der Turn­hal­le, Noah hat sämt­li­che Bäl­le durch­ein­an­der­ge­wor­fen.«

Avri­el nick­te nur. Sein Mund war zu tro­cken zum Spre­chen.

Der Kor­ri­dor, der zu Ron­ning­tons Bü­ro führ­te.

Das Vor­zim­mer.

Das Bü­ro.

Die klei­ne Tür zum Ak­ten­raum.

»Wenn die uns hier fin­det, kom­men wir nie mehr raus.«

»Aber sie fin­det uns nicht.«

»Und wie kom­men wir da rein?« Avri­el starr­te auf die Tür zum Ak­ten­raum und über­leg­te krampf­haft. Sie hat­ten nicht viel Zeit.

»Das ist ein alt­mo­di­sches Schloss. Mit ir­gend­ei­ner Ma­gnet­kar­te.« Todd zerr­te an sei­nem UniCom her­um.

»Heißt?«

»Hast du an dei­nem UniCom nicht so ei­ne Hül­le mit ei­nem Ma­gne­ten drin? Da­mit sie nicht dau­ernd auf­klappt?«

»Ha­be ich.« Avri­el lös­te sei­nen UniCom aus der Hül­le.

»Gib mal her. Vi­el­leicht klappt das ja.« Todd hielt den klei­nen Ma­gne­ten ans Tür­schloss.

12. Allegra – Atlanta – 07.07.2145

Sie saß in der Ab­stell­kam­mer und spiel­te auf ih­rem UniCom. Le­vel 182 sperr­te sich schon seit zwei Wo­chen da­ge­gen, von ihr ge­knackt zu wer­den, und das nerv­te sie. Bis da­hin hat­te sie selbst die schwie­rigs­ten Etap­pen des Spiels nach we­ni­gen Ta­gen be­stan­den.

Und wenn sie doch die Pre­mi­um­wäh­rung kauf­te? Mit ei­nem Fin­ger­schnip­pen wech­sel­te sie aus der Aug­men­ted-Um­ge­bung des Spiels in ihr Bank­pro­gramm, au­then­ti­fi­zier­te sich mit ei­nem Dau­men­ab­druck auf ei­nem vir­tu­el­len Feld über dem UniCom und ver­zog an­ge­sichts der klei­nen Zahl an ver­blie­be­nen Units ihr Ge­sicht. 25 Û und noch ziem­lich viel Mo­nat. Was, wenn sie den Le­vel trotz­dem nicht schaff­te?

Ein Klop­fen an der Tür schreck­te sie aus ih­rer Kon­zen­tra­ti­on auf. Wer wuss­te, dass sie in der Ab­stell­kam­mer saß?

Al­le­gra rühr­te sich nicht, lausch­te.

»Al­ly? Ich weiß, dass du da drin bist.«

Das war die Stim­me der Heim­lei­te­rin! Sie wuss­te, dass Al­le­gra noch wach war und wür­de sie ver­mut­lich da­für be­stra­fen.

Ihr Herz klopf­te schmerz­haft, als sie den UniCom in ih­re Ge­säß­ta­sche steck­te und lang­sam auf­stand. Sie öff­ne­te die Tür und blick­te Miss Tan ins Ge­sicht.

Statt ihr ei­ne Stand­pau­ke zu hal­ten, lä­chel­te die Heim­lei­te­rin sie nur an­ge­spannt an. »Gut, dass ich dich hier fin­de, Al­ly.« Ih­re Hän­de zit­ter­ten.

»Wa­rum? Was ist los?«

»Im gan­zen Coun­ty wur­de ei­ne Mu­tan­ten-Raz­zia aus­ge­ru­fen. Sie su­chen zwar einen jun­gen Mann, aber seit wann tun die Mu­tan­ten­jä­ger nur das, was sie an­geb­lich sol­len? Die wer­den al­len hier mit ih­ren Ta­schen­lam­pen in die Au­gen leuch­ten. Du bist in Ge­fahr.«

Al­le­gra zwang sich, durch­zuat­men. »Ich weiß nicht, wie­so mich das be­tref­fen soll­te, Miss Tan.«

»Wir ha­ben kei­ne Zeit für die­se Spie­le. Du weißt, dass du ei­ne Mu­tan­tin bist. Ich weiß, dass du ei­ne Mu­tan­tin bist. Wir müs­sen uns be­ei­len.«

Al­le­gra wisch­te sich has­tig die feuch­ten Hand­flä­chen an der Hin­ter­sei­te ih­rer Ho­se ab. »Kann ich Ih­nen ver­trau­en?«

»Ich hät­te dich bei den ers­ten An­zei­chen ver­ra­ten kön­nen, aber das woll­te ich nicht. Ich bin we­der blind noch blöd, Mäd­chen.«

»Na gut …« Wi­der­wil­lig ver­ließ Al­le­gra den Ab­stell­raum. »Was jetzt?«

»Du musst nach New Or­leans ge­hen.«

»Die Stadt wur­de auf­ge­ge­ben.«

»Ver­trau mir.« Miss Tan wisch­te an ih­rem UniCom her­um. »Ich ha­be dir ei­ne Rou­te ge­schickt, auf der du dort­hin ge­lan­gen kannst. Nur an die­sem Ort bist du si­cher und fin­dest Hil­fe. Dei­nes­glei­chen le­ben dort.«

Al­le­gra tipp­te den Bild­schirm an und so­fort pro­ji­zier­te der UniCom ei­ne Ho­lo­kar­te in die Luft. Sie run­zel­te die Stirn. »Das sind … mehr als fünf­hun­dert Mei­len. Wie soll ich das zu Fuß schaf­fen?«

»Da­rum geht es nicht. Ent­we­der du schaffst es oder du stirbst. Wenn du bleibst, kannst du nur ster­ben.«

»Wie viel Zeit ha­be ich noch?«

»Die Nach­richt ging vor ei­ni­gen Stun­den raus, sie ha­ben in Gor­don Ci­ty an­ge­fan­gen. Du musst schnells­tens hier weg.«

»Gut.« Al­le­gra at­me­te tief durch. »Ich brau­che mei­ne Schu­he und Pro­vi­ant.« Sie wa­ckel­te mit den Ze­hen in ih­ren Flip­flops.

»Ich ha­be einen Ruck­sack in der Kü­che vor­be­rei­tet. Zieh dich um. Ich war­te dort auf dich.«

Al­le­gra zog die Flip­flops aus und husch­te bar­fuß in den Schlaf­saal.

Ei­ni­ge der an­de­ren Mäd­chen schlie­fen be­reits, an­de­re spiel­ten heim­lich auf ih­ren UniComs.

»Al­ly! Wo kommst du auf ein­mal her?«

»Sch! …« Ei­lig zog Al­le­gra ih­re Schu­he un­ter dem Bett her­vor, zog sich ein Paar So­cken über die Fü­ße und schlüpf­te in die Turn­schu­he.

»Al­ly?«

»Seid still!« Sie zog ei­ne leich­te Jeans­ja­cke über und schlich wie­der zur Tür.

Die­ses Mal quietsch­ten ih­re Turn­schu­he auf­dring­lich.

»Al­ly, wo gehst du hin?«

»Wie­so bist du noch auf?«

»Was ist hier los? Ich will schla­fen!«

»Al­ly?«

Ih­re Hän­de fühl­ten sich eis­kalt an.

Die an­de­ren Mäd­chen wuss­ten nichts. Noch nicht. Sie brach­ten die Nach­richt, die auch sie ge­le­sen hat­te, nicht mit Al­le­gra in Ver­bin­dung. Aber bald wür­den sie ver­ste­hen. Und dann?

13. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145

Er dreh­te die Ak­te zwi­schen den Hän­den und trau­te sich nicht, sie auf­zu­ma­chen und zu le­sen.

Und das seit Stun­den.

Es war ein­fach al­les viel zu schnell ge­gan­gen. Todd hat­te die Tür zum Ak­ten­schrank ge­knackt und wäh­rend Avri­el nach sei­ner Ak­te ge­sucht und sie sich un­ter das T-Shirt ge­klemmt hat­te, ver­ur­sach­te sein bes­ter Freund so viel Cha­os im Raum, dass der Ver­lust der Un­ter­la­gen erst ein­mal nicht auf­fal­len wür­de.

Dann hat­te Todd ihn in ei­nem an­de­ren Kel­ler ver­steckt und kam ei­ni­ge Zeit spä­ter mit Cra­ckern und ei­ner Fla­sche Was­ser zu­rück. »Die Ron­ny tobt.«

»Klar. Was hast du er­war­tet? Dass sie euch für das Cha­os ei­ne Me­dail­le ver­leiht?«

»Äh …«

»Ja, ge­nau.«

»Ich lass dich dann mal hier. Sag mir ein­fach nicht, wann du ab­haust. Oder sag es mir doch. Dann len­ke ich die Ron­ny ab, ja?« Todd ver­schwand.

Seit­dem war Avri­el al­lei­ne mit den Ak­ten und den Cra­ckern.

»Was soll’s …« Er leg­te sich auf den Bauch, brei­te­te die Pa­pierak­te aus und be­leuch­te­te sie mit dem UniCom.

Laut den Ein­tra­gun­gen war er erst ei­ni­ge Ta­ge alt ge­we­sen, als ihn ei­ne Frau auf ih­rer Tür­schwel­le ge­fun­den hat­te. Er trug ein Bänd­chen am Arm, auf dem sein Na­me und sein Ge­burts­da­tum ge­stan­den hat­ten. Der 08.07.2128.

Mor­gen vor sieb­zehn Jah­ren.

Er strich mit den Fin­ger­spit­zen über das bei­lie­gen­de Fo­to. Ein glatz­köp­fi­ges Ba­by mit di­cken Ärm­chen.

Die Frau, die ihn ge­fun­den hat­te, hieß Aria­ne Faw und hin­ter ih­rem Na­men stand in Klam­mern ›HSM‹. Ho­mo Sa­pi­ens Mu­t­ans.

Ei­ne Mu­tan­tin.

Er tipp­te ih­re Adres­se, die in der Ak­te stand, in sei­nen UniCom ein – wenn er Glück hat­te, wohn­te sie noch dort und konn­te ihm ein paar Fra­gen be­ant­wor­ten. Er muss­te nur einen Weg fin­den, um nach At­lan­ta zu kom­men.

14. Ariane Faw – Atlanta – 07.07.2145

Ei­gent­lich hat­te sie sich fest vor­ge­nom­men, we­nigs­tens an die­sem Abend noch vor der Aus­gangs­sper­re zu er­wa­chen. Doch wie im­mer, wenn der We­cker ih­res UniComs klin­gel­te, stell­te sie ihn ru­hig, dreh­te sich um und ku­schel­te sich noch für ein, zwei Stünd­chen in die Kis­sen.

Erst weit nach Son­nen­un­ter­gang schäl­te sie sich aus der De­cke und tapp­te ins Ba­de­zim­mer.

Aria­ne be­gann ih­ren Abend da­mit, sich die kurz ge­schnit­te­nen Lo­cken zu käm­men und zu schau­en, ob sich graue Haa­re ins Blond ge­schli­chen hat­ten.

Ne­ga­tiv.

Be­ru­higt wand­te sie sich dann der sorg­fäl­ti­gen Wahl ih­rer Klei­dung zu: Mi­ni­rock, Ho­sen­trä­ger, ei­ne wei­ße Blu­se.

Wie je­den Abend weck­te die Gar­de­ro­be Erin­ne­run­gen an die glück­li­che Zeit, als sie Ge­schichts­stu­den­tin ge­we­sen war – da­mals wa­ren Mu­tan­ten und Men­schen noch freund­lich zu­ein­an­der ge­we­sen. Es war gleich­gül­tig, zu wel­cher der bei­den Men­schen­ras­sen man ge­hör­te, so­lan­ge man nur Köpf­chen be­saß und an der Abend­fa­kul­tät von Wa­shing­ton al­le Prü­fun­gen be­stand. An­grif­fe – laut Riú Gor­don der Grund für die Ver­fol­gun­gen – fan­den prak­tisch nicht statt. Vi­el­leicht al­le zwei, drei Jah­re ei­ner. Wenn über­haupt.

Kurz be­vor sie die Woh­nung ver­ließ, be­trach­te­te sie ihr Lieb­lings­fo­to.

Im Mond­licht hat­ten sie da­mals, vor neun­zehn Jah­ren, ein Fo­to ge­macht. Fa­bri­ci­as stren­ger Zopf schlang sich wie zu­fäl­lig um Riús Hals, er hielt sie fest an sich ge­drückt, und Aria­ne selbst stand hin­ter ih­nen auf ei­ner Bank und lach­te.

Wa­rum war er nur so ein Mons­ter ge­wor­den?

Aria­ne schloss die Tür auf und ging los zum Zi­ga­ret­ten­au­to­ma­ten. Sie brach­te es ein­fach nicht fer­tig, ih­ren Be­darf rea­lis­tisch ein­zu­schät­zen und die Päck­chen auf Vor­rat zu kau­fen. Au­ßer­dem wur­de sie noch nie er­wi­scht, ob­wohl sie fast je­den Abend drau­ßen war. Da­bei ließ sie die Nacht Re­vue pas­sie­ren, in der ei­ne ver­wein­te Fa­bri­cia bei ihr vor der Tür ge­stan­den und um Ein­lass ge­be­ten hat­te.

Da­mals hat­te Fa­bri­cia mit Riú Schluss ge­macht, weil sie von ihm schwan­ger war und nicht woll­te, dass er ih­ret­we­gen Pro­ble­me mit sei­nem Va­ter be­kom­men wür­de. »Hast du es ihm ge­sagt?«, frag­te Aria­ne so­fort, doch ih­re bes­te Freun­din hat­te ver­neint.

We­ni­ge Wo­chen spä­ter trat Riú in die An­ti­mu­tan­ten-Par­tei, kurz: AMP, ein und Aria­ne brach je­den Kon­takt zu ihm ab. Sie konn­te nicht län­ger mit je­man­dem be­freun­det sein, der ak­tiv an ih­rer Ver­nich­tung und der Aus­rot­tung ih­rer Mit­mu­tan­ten ar­bei­te­te.

Sie sel­ber war kurz dar­auf in die Op­po­si­ti­ons­par­tei MP ein­ge­tre­ten und be­reu­te es nicht – sie woll­te ih­re Wür­de be­wah­ren und mit al­len Mit­teln da­ge­gen kämp­fen, dass den Mu­tan­ten im Lau­fe der Jah­re sämt­li­che Grund­rech­te ent­zo­gen wur­den.

Auch wenn das Schick­sal sie und ih­ren einst bes­ten Freund auf die­se Wei­se zu Fein­den mach­te.

Ein an­ge­neh­mer Som­mer­wind hüll­te Aria­ne ein und nahm al­les Trü­be ih­rer Ge­dan­ken mit sich fort, als sie ih­re Kre­dit­kar­te zog und trotz Aus­gangs­sper­re in al­ler Ru­he ih­re Zi­ga­ret­ten be­zahl­te. Auf ih­rem UniCom wür­de sie da­für ei­ne Mah­nung er­hal­ten, aber das war ihr egal. Sie wür­de an­tip­pen, dass sie sich ih­res Un­rechts be­wusst war, und wei­ter­ma­chen. Glück­li­cher­wei­se mel­de­ten die Ban­ken das noch nicht an die Be­hör­den.

Da­bei über­flog sie aus rei­ner Ge­wohn­heit die An­zei­gen auf der Wer­be­säu­le ne­ben dem Au­to­ma­ten. Der neues­te Ki­no­film, das mo­d­erns­te bio­ni­sche Exoske­lett, ein Mu­tan­ten­schreck auf Ul­tra­schall­ba­sis im Son­der­an­ge­bot, Kurz­nach­rich­ten …

Dann sah sie die Fahn­dungs­an­zei­ge.

»Na­nu?« So­fort sprang ihr die Ähn­lich­keit ins Au­ge: Sieht der Typ auf dem Steck­brief nicht fast so aus wie Riú als Ju­gend­li­cher? Wie konn­te das bloß sein?

15. Allegra – unterwegs – 08.07.2145

Sie at­me­te tief durch. Ei­gent­lich war das Gan­ze wie ein Aug­men­ted Rea­li­ty Spiel, und ih­re Quest be­stand dar­in, zu­nächst le­bend und un­ge­se­hen die Stadt zu ver­las­sen.

Nur war das hier kein Spiel.

Die Rie­men des Ruck­sacks drück­ten ihr in die Schul­tern, ih­re Fü­ße schmerz­ten vom Lau­fen, sie ver­steck­te sich im Schat­ten und durf­te sich nicht be­we­gen, so­bald sich ei­ne Pa­trouil­le nä­her­te.

Die schwer be­waff­ne­ten Ein­hei­ten wa­ren die Ein­zi­gen, die wäh­rend der Sperr­stun­de noch un­ter­wegs sein durf­ten. Sie und die voll­au­to­ma­ti­schen Last­wa­gen der ent­spre­chen­den Ge­wichts­klas­se.

An­sons­ten wa­ren die Städ­te nachts na­he­zu aus­ge­stor­ben.

Al­le­gra wich bei­den aus. Die selbst­fah­ren­den Las­ter soll­ten zwar kei­ne Ge­fahr dar­stel­len, aber wer wuss­te, wo­hin die Bil­der ih­rer Front­schei­ben­ka­me­ras über­tra­gen wur­den. Kein über­flüs­si­ges Ri­si­ko ein­ge­hen, das war nicht nur in Vi­deo­spie­len die klü­ge­re Wahl.

Sie folg­te den Spu­ren der Ma­gnet­bah­nen von Hal­te­stel­le zu Hal­te­stel­le.

Miss Tan wür­de sie nicht ver­misst mel­den. Zu­min­dest nicht, so­lan­ge es sich ver­mei­den ließ. So­bald im Mor­gen­grau­en die Aus­gangs­sper­re en­den wür­de, konn­te Al­le­gra sich in einen be­lie­bi­gen Zug in Rich­tung Loui­sia­na set­zen, oh­ne auf­zu­fal­len. Aber selbst im Som­mer muss­te sie bis da­hin noch ei­ni­ge Stun­den durch­hal­ten.

Die Stil­le der Stadt las­te­te auf ihr und sie muss­te ge­gen die Angst an­kämp­fen, oh­ne sin­gen oder pfei­fen zu dür­fen. Laut­los, mit über­reiz­ten Sin­nen, auf je­des Geräusch lau­ernd, das einen Last­wa­gen oder ei­ne Pa­trouil­le an­kün­di­gen konn­te. Al­le­gra führ­te es sich im­mer wie­der vor Au­gen: Sie such­ten einen Jun­gen mit blon­dem Haar. Sie wür­den vor ei­nem Mäd­chen mit schwar­zem Haar trotz­dem nicht halt­ma­chen.

Wenn sie er­wi­scht wur­de, konn­te sie sich ge­nau­so gut gleich um­brin­gen, nur fehl­te ihr die Fan­ta­sie für ei­ne sinn­vol­le Metho­de, die mit nichts als ei­nem Ruck­sack vol­ler Es­sen und ei­nem UniCom durch­führ­bar wä­re.

Ein lei­ses Sir­ren zer­schnitt die Stil­le und hall­te in den Häu­ser­schluch­ten wi­der.

Al­le­gra blick­te auf.

Ei­ne Droh­ne.

Sie starr­te das Flug­ge­rät für den Bruch­teil ei­ner Se­kun­de an – dann rann­te sie los.

Das Sir­ren spann sie in ein Netz aus Geräuschen ein, vor ihr, hin­ter ihr, über ihr, über­all, kein Ent­rin­nen, wenn es sie erst er­reich­te …

Die Droh­ne hat­te Waf­fen. Ei­nen Ta­ser, wenn sie sich rich­tig er­in­ner­te. Und »Brü­der«.

Zwi­schen die Gas­sen.

Über die Ma­gnet­spur.

Hin­un­ter in die Un­ter­füh­rung.

Wei­ter, im­mer wei­ter, durch die ver­wais­ten un­ter­ir­di­schen Gän­ge und wie­der in die Nacht. Ir­gend­wann muss es doch Mor­gen wer­den. Und bis da­hin muss­te sie die Stadt ver­las­sen ha­ben.

Sie folg­te er­neut den Spu­ren der Ma­gnet­bah­nen, jetzt oh­ne das Sir­ren im Na­cken. Of­fen­bar hat­ten die Ka­me­ras der Droh­ne sie über­haupt nicht er­fasst, als sie los­ge­rannt war. Sonst wä­re ihr das Gerät be­stimmt nach­ge­flo­gen.

Vi­el­leicht wür­de sie es nicht schaf­fen, vor Ta­ge­s­an­bruch die Stadt zu ver­las­sen. Aber ihr UniCom sag­te ihr, dass der Mul­ti­ha­fen von At­lan­ta in der Nä­he war. Von dort aus fand sie be­stimmt einen Zug aus der Stadt. Oder einen bil­li­gen Klein­flie­ger.

Und es wür­de nie­man­dem auf­fal­len, wenn sie bis zum nächs­ten Auf­ent­halt ein we­nig schlief.

16. Avriel Adamski – Gordon City – 08.07.2145

Avri­el muss­te ir­gend­wann in sei­nem Ver­steck ein­ge­d­öst sein, er er­wach­te vom durch­drin­gen­den Vi­brie­ren des UniComs.

»Bist du noch nicht weg?«

Avri­el stand müh­sam auf und stell­te fest, dass ihm im Schlaf Spei­chel aus dem Mund ge­ron­nen war. Ekel­haft. Er wisch­te sich über den Mund, streck­te sich und schrieb dann erst zu­rück: »Ich bin wach. Kann los­ge­hen.«

Konn­te es ei­gent­lich kein biss­chen, aber je eher er weg­kam, de­sto bes­ser.

Er muss­te nicht lan­ge war­ten, fünf Mi­nu­ten spä­ter er­reich­te ihn die nächs­te Nach­richt von Todd: »RENN!«

Und er rann­te. Durch den Kel­ler, raus aus der klei­nen Tür, die zu ei­ner ebener­di­gen Feu­er­lei­ter führ­te und ins nächs­te Ge­büsch. Dort ver­schnauf­te er kurz, ehe er sich un­ter die mor­gend­li­chen Fuß­gän­ger von Gor­don Ci­ty misch­te.

Die meis­ten Schü­ler und Be­rufs­tä­ti­gen wa­ren längst in ih­ren Schu­len oder Bü­ros, trotz­dem wa­ren zahl­rei­che Leu­te un­ter­wegs.

Leu­te, die ver­schla­fen hat­ten, Bumm­ler, Rent­ner.

Avri­el blieb vor ei­nem Schau­fens­ter ste­hen und starr­te sein Spie­gel­bild an. Mit den kur­z­en Haa­ren sah sein Ge­sicht ir­gend­wie ko­misch aus, die Au­gen wirk­ten viel zu groß. Vor­sich­tig strich er sich mit der Hand über die fünf Mil­li­me­ter Blond­haar, die Todd ihm noch ge­las­sen hat­te. Fühl­te sich selt­sam an.

Er muss­te jetzt einen Weg fin­den, schnell und un­auf­fäl­lig zum Haus ei­ner ge­wis­sen Aria­ne Faw in At­lan­ta zu ge­lan­gen.

Avri­el dreh­te sich um. Auf der ge­gen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te be­fand sich Rod’s voll­au­to­ma­ti­sche Cars­ha­ring-An­la­ge, wo er schon als Drei­zehn­jäh­ri­ger tags­über im zu­ge­hö­ri­gen Café ge­jobbt hat­te.

Er blick­te sich um und has­te­te über die Stra­ße.

Mit feuch­ten Hän­den fum­mel­te er sei­ne ID-Card aus der Ho­sen­ta­sche und brauch­te vor Ner­vo­si­tät ei­ne Wei­le, um sie in den Tür­schlitz zu ste­cken. Er sprang vor Schreck fast in die Luft, als die Schie­be­tür beim Öff­nen zisch­te. Mit klop­fen­dem Her­zen schlich er in die An­la­ge und er­schrak je­des Mal, wenn sein Nä­her­kom­men ei­ne klei­ne Ne­on­leuch­te an­schal­te­te.

Er husch­te in die Ga­ra­ge und steck­te sei­ne Kar­te in das Le­se­ge­rät ne­ben dem erst­bes­ten Elek­tro­au­to. Es war ein dun­kelblau­er Eco­green Chee­tah Bolt von 2140. Die Au­to­tür öff­ne­te sich und er nahm die Kar­te wie­der an sich.

Auf dem Fah­rer­sitz wisch­te er sei­ne schweiß­nas­sen Hän­de an sei­ner Jeans ab und zwang sich, die Rou­ti­ne­checks durch­zu­füh­ren. Ob kein Warn­lämp­chen blink­te und für wel­che Stre­cken der Ak­ku reich­te. Er wähl­te die längs­te – nach At­lan­ta – und fuhr aus der Ga­ra­ge. Dann ak­ti­vier­te er den Au­to­pi­lo­ten.

Er be­griff: Nie­mand durf­te ihn ent­de­cken, aber er hin­ter­ließ die gan­ze Zeit di­gi­ta­le Spu­ren. Soll­ten die Be­hör­den sei­nen Na­men ken­nen, war er ge­lie­fert, wo­hin er auch ging. Dann wür­de es nur Se­kun­den dau­ern, bis sei­ne Bank sei­ne Zah­lungs­his­to­rie of­fen­le­gen müss­te …

At­lan­ta war nur ei­ne Stun­de ent­fernt, er hat­te noch gar kei­ne Zeit ge­habt, sich ei­ne Stra­te­gie zu über­le­gen. Was, wenn Aria­ne Faw gar nicht mehr dort wohn­te?

Und wie­so hat­te er das nicht be­dacht, be­vor er sich nach At­lan­ta fah­ren ließ?

Schließ­lich hielt er zwei Häu­ser von Aria­nes Adres­se ent­fernt un­ter ei­nem Baum. Mög­lichst lei­se stieg er aus und kau­er­te sich zwi­schen Baum und Wa­gen, um nicht ge­se­hen zu wer­den.

In un­mit­tel­ba­rer Nä­he be­fand sich ein Zi­ga­ret­ten­au­to­mat. Und wie ne­ben je­dem Zi­ga­ret­ten­au­to­ma­ten auf der gan­zen Welt stand auch ne­ben die­sem ei­ne ani­mier­te Re­kla­me­säu­le und blen­de­te ab­wech­selnd Wer­bung und ak­tu­el­le Nach­rich­ten ein.

Er muss­te un­be­dingt einen Blick dar­auf wer­fen, um zu er­fah­ren, ob er be­reits in der gan­zen Uni­ted World ge­sucht wur­de.

Die Säu­le blen­de­te erst die ak­tu­el­le Quiz­fra­ge des Ta­ges ein, dann Wer­bung für das neues­te UniCom-Mo­dell ei­ner über­teu­er­ten Mar­ke, da­nach erst die Po­li­tik-News.

Ein kör­ni­ges Bild von ihm, bei dem die Haa­re einen Groß­teil sei­nes Ge­sichts ver­deck­ten, zu sei­nen Fü­ßen ei­ne Ge­stalt, die nur Va­len­ti­ne sein konn­te.

Er spür­te Übel­keit in sich auf­stei­gen, wand­te sei­nen Blick ab und lehn­te sich ge­gen den Zi­ga­ret­ten­au­to­ma­ten.

»Al­les in Ord­nung?« Ei­ne Frau mit grü­nen Dread­locks und ei­nem Col­lie-Misch­ling an der Lei­ne tipp­te ihn an.

»Ja. Ja, mir geht es gut. Ich muss nur …«

»Ich kann das sehr gut ver­ste­hen.« Sie grins­te und ver­setz­te da­bei ih­re Lip­pen­pier­cings in Schwin­gung. Sie klin­gel­ten lei­se an­ein­an­der. »Mir wird von zu viel Ka­pi­ta­lis­mus auch im­mer schlecht.«

»Ja. Genau das ist es.« Avri­el at­me­te tief durch.

Die jun­ge Frau lä­chel­te ihm zu und ließ sich von ih­rem Hund da­von­zie­hen. Ent­we­der hat­te sie sein Bild nicht ge­se­hen – oder ihn tat­säch­lich nicht er­kannt.

Avri­el blick­te auf die Zei­t­an­zei­ge an sei­nem UniCom. Halb neun am Mor­gen war ver­mut­lich nicht die bes­te Zeit, um das Haus ei­ner Mu­tan­tin auf­zu­su­chen, aber er hat­te kei­ne Wahl. Dann klin­gel­te er sie eben aus dem Bett. Er selbst fühl­te, wie sich die na­he­zu schlaflo­sen Näch­te und durch­wach­ten Ta­ge be­merk­bar mach­ten. Wie lan­ge wür­de er das durch­hal­ten, oh­ne ver­rückt zu wer­den?

Aber ver­rückt war er wohl schon. In ei­nem An­fall von Wahn­sinn hat­te er …

Stopp.

Er zwang sich, die­se Ge­dan­ken vor­erst zu ver­drän­gen. Sie dreh­ten sich oh­ne­hin nur im Kreis, wenn er sie zuließ. Es war nicht weit bis zu Aria­ne Faw, er durf­te nur einen Schritt nach dem an­de­ren ma­chen.

Avri­el wuss­te nicht, was er er­war­tet hat­te – aber si­cher kein voll­kom­men nor­ma­les Ein­fa­mi­li­en­haus, wie es auch in sei­ner Ge­gend von Gor­don Ci­ty hät­te ste­hen kön­nen. Ver­mut­lich zö­ger­te er dar­um, auf die Klin­gel zu drücken.

Doch nichts pas­sier­te.

Hin­ter den Vor­hän­gen rühr­te sich nie­mand, wie lan­ge er auch den Knopf drück­te.

Al­so blieb ihm nichts an­de­res üb­rig, als am Abend wie­der­zu­kom­men.

Sei­ne Ge­dan­ken droh­ten, zu Va­len­ti­ne zu­rück­zu­keh­ren, doch er kämpf­te sie nie­der. Statt­des­sen dach­te er dar­an, wie er die­sen Tag ver­brin­gen konn­te.

Kaf­fee war ein gu­ter An­fang.

382,08 ₽
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0+
Объем:
312 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783742709752
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
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