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Donnerstag, 13. Dezember

Der Neuschnee lag nun fast kniehoch, Kauz griff nach der Schaufel und schippte den Weg zwischen seinem Speicher und der Langen Gasse frei. Die Kantonsstraße war schon um vier Uhr morgens geräumt worden.

Auf Dächern und Vordächern lag jetzt über ein halber Meter Schnee. Auf den Fensterbrettern lagen wattige Kissen, Wegweiser und Zaunpfähle trugen dicke weiche Hauben.

Nachdem er Max ausgeführt hatte, machte sich Kauz zum Bahnhof auf. Er hatte die Kamera dabei, aber seine Skier ließ er im Speicher stehen, Zara hatte ihn gestern noch rechtzeitig daran erinnert, dass er zum Skaten eine andere Ausrüstung brauchte.

Wer immer ihm unterwegs begegnete, zeigte ein heiteres Gesicht und hatte einen freudigen Kommentar parat:

»Schön, gäll?«

»Entli!«

»Äs Gscheich ischt das«, ein Geschenk sei das, hieß es, auch wenn die Person, die es sagte, genau wie er selber nur mühsam vorankam.

Unter den Langläufern, die mit ihm die kurze Strecke in der Matterhorn-Gotthardbahn zurücklegten, gab es nur ein Thema: den Neuschnee. Man fand, dass dem Goms nichts Besseres habe passieren können. Vergessen waren die frühsommerlichen Temperaturen, die vor Kurzem noch geherrscht hatten, vergessen das groteske Kunstschneeband in der trostlos braunen Rottenebene. Niemand lästerte mehr über Regen und Schneematsch, die einem die Freude am Winter vergällten. Man war sich einig: Jetzt war die ideale Unterlage für den neuen Schnee da. Wenn es heute und morgen so weiterschneite und wenn danach kein Wärmeeinbruch kam, dann war die Gommer Wintersaison gerettet.

Kauz war erleichtert, dass der Schnee und nicht die zwei toten Frauen das Thema waren, das die Leute beschäftigte. Die Erleichterung währte nicht lange.

Kaum bei Steffen Sport angekommen, tippte ihn jemand von hinten an.

»Hast du über Mittag kurz Zeit?«, flüsterte Carlo und zog ihn diskret von der Theke weg. Ihm stand keine Freude über den Schnee ins Gesicht geschrieben. Er sah besorgt aus.

»Sicher«, sagte Kauz. »Wofür denn?«

»Nur eine kleine Frage. Komm doch bitte nach dem Unterricht ins Hotel.« Carlo blickte um sich, wie um sicher zu sein, dass ihn niemand gehört hatte. Aber der Laden war eben erst geöffnet worden, der einzige Langläufer war mit Zara an der Theke im Gespräch.

»Gut, ich komme später vorbei«, sagte Kauz, setzte sein Pokerface auf und ging zu Zara, die mit dem anderen Kursteilnehmer eben fertig war.

»Salü«, begrüßte sie ihn. »Du möchtest also skaten lernen? Bei Nik, nicht wahr?«

Kauz nickte.

»Bist du sicher?«, fragte sie und zwinkerte ihm zu.

Kauz lachte. »Wieso fragst du?« Ihm war nicht klar, ob sich ihr Zwinkern auf das Skaten oder auf Nik bezog.

»Sag mir dann nach dem ersten Tag, ob du dabeibleiben willst«, erwiderte sie bloß. »Du kannst auch ohne Weiteres umbuchen, wenn es nicht passt.«

Dann rief sie Noldi herbei, der für Kauz ein Paar Skatingskier samt Schuhen und Stöcken aussuchte.

Nach zwei Stunden Unterricht im Schneetreiben war Kauz völlig frustriert. Fast bereute er die Entscheidung, sich für den Kurs angemeldet zu haben. Jetzt meinte er zu wissen, weshalb Zara gezwinkert hatte. Weil nämlich der Einstieg ins Skaten für einen wie ihn kein Honiglecken war. Aber Nik hatte ihn beruhigt: Nach vier Tagen werde er die Technik des Skatens zwar noch nicht beherrschen, aber er hätte dann genug gelernt, um allein weiterzuüben.

Kauz deponierte die gemieteten Sachen und ging ins Hotel. An der Rezeption erwartete ihn Carlo. Er führte ihn ins Direktionsbüro. Matteo Steffen erhob sich und streckte die Hand aus.

»Herr Walpen, nicht wahr?«

»Kauz«, sagte Kauz, »sonst wird’s kompliziert.«

Er sah Carlo, dann wieder Matteo an. Die zwei sahen sich wirklich zum Verwechseln ähnlich, im Augenblick konnte er sie nur anhand der Kleidung unterscheiden, denn Carlo hatte sich einen neuen Haarschnitt verpassen lassen.

»Setz dich, bitte. Etwas zu trinken?«, fragte Matteo.

Kauz verlangte ein Wasser, der Kurs hatte durstig gemacht.

»Du bist Kriminalpolizist, hat Carlo gesagt. Einer der besten«, fuhr Matteo fort.

Kauz war sofort auf der Hut. Was soll der Schmus?, dachte er.

»Außer Dienst«, sagte er trocken.

»Das wissen wir. Aber wir wissen auch, dass du an der Aufklärung des Mordfalls Imfang in Münster beteiligt warst.«

Kauz sagte nichts. Er hatte keinerlei Lust, auf die damalige Arbeitsteilung einzugehen.

»Wir haben einen Wunsch an dich. Wir möchten dich fragen, ob du …«, hob Carlo jetzt an.

Das hatte Kauz halbwegs erwartet.

»Hört zu«, unterbrach er. »Falls ihr mich fragen wollt, ob ich bei der Aufklärung dieser zwei Todesfälle mitwirken würde, ist die Antwort Nein. Ich bin nicht zuständig. Das ist Sache der Walliser Polizei. Ich darf mich nicht einmischen, selbst wenn ich wollte. Ich will aber auch gar nicht. Ich bin beurlaubt. Ich bin hier in den Ferien.«

»Das ist uns klar«, sprang Matteo ein. »Wir wollen dir ja nicht die Ferien verderben. Wir entschuldigen uns auch dafür, dich mit diesem Gespräch zu derangieren.«

Derangieren?, Kauz musste sich ein Lachen verbeißen. Hier spricht der Hotelier, dachte er, sehr distinguiert.

»Aber«, fuhr Matteo fort, »wir wollten dich nicht um Aufklärung der Morde bitten. Und Morde sind es doch, oder? Aus den Fragen dieses Inspektors muss ich das schließen. Uns ist klar, dass das Polizeisache ist. Wir suchen einen Privatdetektiv. Und zwar in eigener Sache.« Er hielt inne. Wartete er darauf, dass Kauz freudig zusagte? Da der nicht reagierte, fuhr er fort: »Es gibt zwar möglicherweise einen Zusammenhang mit den Mordfällen. Wir vermuten sogar stark, dass es so ist. Wir …«

»Ja?« Allmählich wurde Kauz doch neugierig, worauf Matteo hinauswollte. »Einen Privatdetektiv wofür?«

Der Privatdetektiv hatte ihn sofort gereizt. Hatte er nicht vor einem Vierteljahr für einen Augenblick an eine Karriere als Privatdetektiv gedacht? Damals, als er Frau Doktor van Hooch, der Kommandantin, gegenüberstand, die schon sein Entlassungsschreiben in der Hand hielt. Er hatte die Option zwar sofort wieder verworfen, aber immerhin … Genau genommen hatte er die Tätigkeit schon viel früher in Erwägung gezogen, denn mehr als einmal hatte er die Nase gestrichen voll gehabt von Frau van Hoochs Führungsstil. Er hatte damals an Kündigung gedacht, sich dann aber umentschieden, weil er annahm, dass die Kommandantin gefeuert würde. Damit hatte er sich allerdings verrechnet gehabt. Privatdetektiv?, ging es ihm kurz durch den Kopf: Ist das die Lösung meines Dilemmas?

»Sehen Sie, Herr Walpen, wir …«, setzte Matteo an. »Entschuldige, ich meine: Kauz, wir …«

»Ja?«

»Wir haben den Verdacht, dass diese Morde – wenn es Morde waren – gegen uns«, er sah seinen Bruder an, »gegen Carlo und mich, besser gesagt gegen Carlos Sportgeschäft und Langlaufschule und gegen mein Hotel, gerichtet waren. Gegen unseren Familienbetrieb mit anderen Worten. Nicht gegen die Mordopfer.«

»Wie bitte?«

»Ich weiß, es klingt absurd. Es ist auch nur ein Verdacht.«

»Und der lautet«, fasste Kauz zusammen: »Zwei Menschen, eine Instruktorin der Langlaufschule und eine Kursteilnehmerin, die gleichzeitig auch Hotelgast im Galenblick war, wurden umgebracht, um euch zu schaden? Willst du das sagen?«

»Ganz genau«, bestätigte jetzt Carlo.

»Was bringt euch auf diesen Gedanken?«

»Die Wirkung«, war die lakonische Antwort.

Kauz wollte nicht Gedankenlesen. Er schwieg, griff sich ans Kinn und sah Carlo an.

»Nun ja«, nahm der den Faden wieder auf, fast schon ärgerlich, dass er dem Begriffsstutzigen auf die Sprünge helfen musste: »Es ist doch so«, setzte er zu längeren Ausführungen an.

»Als Fabienne Bacher Montagnacht tot an der Enggä Briggä aufgefunden wurde, ging alsbald das Gerücht um, dass sie ermordet wurde. Dienstag früh sind schon die ersten Kursteilnehmer abgereist. Im Verlauf des Dienstags erfuhr man, dass Sue Brongg tot am Baawaldschtuzz aufgefunden wurde. Dann sickerte durch, dass sie ganz ähnliche Verletzungen wie Fabienne erlitten hat. Es hat nicht lange gedauert, bis man auch in ihrem Fall von Mord sprach. Weitere Kursteilnehmer und Gäste reisten vorzeitig ab. Einige sagten rundheraus, sie wollten nicht in einem Hotel logieren, in dessen Umkreis es Mord und Totschlag gab. Erst als am Mittwoch die offizielle Bestätigung vom Tod der beiden Frauen vorlag, beschloss ich, die Kursteilnehmer zu informieren. Matteo sagte den übrigen Hotelgästen Bescheid. Für viele Gäste war Mittwoch ohnehin der Abreisetag, aber einige Neuankömmlinge, die von den Ereignissen hörten und die gedrückte Stimmung spürten, nahmen gleich wieder Reißaus. Andere mussten von Angehörigen oder Sportsfreunden von der Tragödie gehört haben und reisten gar nicht erst an.«

Nach den Worten seines Bruders seufzte Matteo tief.

»Und heute stand das in der Zeitung«, sagte er, zog ein Boulevardblatt hervor und legte es vor Kauz auf den Tisch.

»Mysteriöser Tod auf der Loipe«, lautete die Schlagzeile.

Kauz überflog den Text. Er war nicht besonders reißerisch, enthielt lediglich die von der Polizei freigegebenen Fakten und die ungefähren Fundorte der Leichen. Zwar war vom »Langlaufparadies Goms« und vom Gemeindegebiet von Reckingen die Rede, doch wurden weder das Sporthotel Galenblick noch die Langlaufschule Steffen erwähnt. Wenn sie aber einmal im Fokus stünden, meinte Carlo, und das sei sicherlich nur eine Frage der Zeit, würde sich das wohl kaum geschäftsfördernd auswirken. Das sei die Wirkung, die er gemeint habe.

»Man kann natürlich sagen«, fuhr Carlo fort, »dass es pietätlos sei, sich angesichts solch menschlichen Leids über vorzeitige Abreisen und Stornierungen Gedanken zu machen.«

Allerdings, dachte Kauz, aber er nickte bloß. Er staunte über Carlos geschliffene Worte. Seine Eloquenz hatte ihn schon gestern bei seiner Ansprache an die Kursteilnehmer überrascht.

»Dennoch«, fuhr Carlo fort, und da Kauz nichts sagte, hielt er noch einmal inne. »Dennoch …«, wand er sich, »in beiden von uns keimte gestern fast gleichzeitig dieser Gedanke: Was, wenn unsere finanziellen Einbußen und, was schlimmer wäre, unser ramponierter Ruf gar nicht ein Kollateralschaden – entschuldige den Ausdruck – dieser Morde wären? Sondern das eigentliche Ziel?! Zumal …«

Carlo hielt abermals inne und schaute Matteo an, als wolle er ihm das Wort übergeben.

Starker Tobak!, dachte Kauz. Aber rundweg von sich weisen konnte er ihre Überlegungen nicht. Nur, wenn das der Verdacht der Steffen-Brüder war, dann ging es ihnen letztlich doch um die Aufklärung der Mordfälle. Wozu dann einen Privatdetektiv?

»Zumal was?«

»Nun«, erklärte Matteo, »es gab andere Aktionen gegen uns. Vermuten wir jedenfalls. Und da dachten wir, dass dahinter vielleicht ein und dieselbe Person steckt. Oder derselbe Personenkreis.«

»Was für Aktionen?«

»Bloß Ärgerlichkeiten. Aber mit einer gewissen Systematik. Und mit einem nicht unbeträchtlichen finanziellen Schaden.«

»Ich höre.«

»Du musst wissen, ich bin ein Freund der Bildenden Künste«, erklärte Matteo. »Gemälde, hauptsächlich. Aber auch Plastiken und Fotografien. Man könnte mich einen Sammler nennen. Aber ich schließe die Kunstwerke, die ich erwerbe – es sind wertvolle Stücke, aber sie gehören nicht ins alleroberste Preissegment«, lächelte er. »Also, ich schließe die Gemälde und Fotografien nicht in einen Tresor. Ich stelle sie aus. Ich hänge sie in meinem Hotel auf. Im Empfang, im Speisesaal, in den Korridoren und Gästezimmern.«

»Gute Idee«, meinte Kauz. »Und? Wurden welche gestohlen?«

»Nein, aber beschädigt.«

»Beschädigt? Wie beschädigt?«

Kauz war kein Sachverständiger, aber er sah vor seinem innern Auge Plastiken, die mit dem Hammer zertrümmert, und Bilder, die mit Farbe beschmiert, aufgeschlitzt oder angezündet worden waren.

»Zerkratzt.«

»Wie zerkratzt?«

Augenblicklich hatte er wieder ein Bild vor Augen: zerkratzte Autokarosserien, Ferraris und Lamborghinis, an denen einer mit einem Schraubenzieher in der Hand vorbeispazierte und einen Schaden anrichtete, der in die Tausende ging.

»Ganz fein zerkratzt, mit einer Stecknadel oder so«, sagte Matteo.

»Das wäre dann aber kaum sichtbar«, wandte Kauz ein.

»Das ist ja das Perfide. Es kann lange dauern, bis der Schaden entdeckt wird. Vielleicht erst, wenn das Bild den Besitzer wechselt, ausgeliehen wird oder aus anderen Gründen abgehängt und inspiziert wird. Aber der Schaden kann trotzdem beträchtlich sein. Ein solches Bild muss für viel Geld restauriert werden. Unter Umständen gilt es hernach als wertlos.«

»Und die Folgen für dich?«

»Als ich per Zufall an einem Gemälde den Kratzschaden entdeckte, untersuchte ich natürlich alle anderen. Mehr als die Hälfte meiner Bilder war beschädigt. Die Folge ist, dass ich in den Gästezimmern und in den oberen Korridoren keine mehr aufhänge. Nur noch in den öffentlichen Bereichen: Eingangsbereich, Speisesaal, Restaurant. Nur noch dort, wo Überwachungskameras stehen.«

»Ihr habt Überwachungskameras installiert?«, staunte Kauz.

»Im vergangenen Jahr eingerichtet. Nachdem ich die Schäden entdeckte«, sagte Matteo fast entschuldigend. »Seither sind keine neuen mehr aufgetreten.«

»Gut. Aber den Gästen gefällt das natürlich nicht.«

»Richtig. Es gab tatsächlich solche, die nicht wiederkamen, weil sie den Schluss zogen, ich würde den Gästen misstrauen.«

»Und wie wurde dein Bereich geschädigt?«, wandte er sich an Carlo.

»Vorläufig gar nicht«, sagte der. »Aber Überwachungskameras haben wir vorsorglich auch installiert.«

»Und was wollt ihr jetzt von mir? Ich bin ja weder Kunst- noch Schadensexperte.«

»Dass du herausfindest, ob uns jemand vorsätzlich Schaden zufügte, zufügt oder zufügen will.«

Glänzend formuliert, dachte Kauz. Fast perfekte Juristensprache. »Na gut«, sagte er: »Ich werd’s mir überlegen. Aber zuerst möchte ich ein paar Dinge über euch und euer Familienunternehmen wissen.«

»Ach, übrigens, Kauz: Hast du schon gegessen?« Matteo schaute auf die Uhr. »Es ist ja Mittagszeit.«

»Nein. Ich war im Langlaufunterricht.«

»Dann gehen wir in unsere gute Stube. Komm.«

Die beiden Brüder führten Kauz ins Hotelrestaurant hinüber. Es gab im Galenblick neben dem Speisesaal für die Hotelgäste zwei Restaurantbereiche: einen großen, in dem sich Sportler und andere Tagesgäste verköstigten. Da herrschte gerade reger Betrieb. Und es gab einen kleineren, ein Gourmet-Restaurant, in dem sich Gäste hauptsächlich abends verwöhnen ließen. Über Mittag war das Corno kaum frequentiert. Es saßen nur zwei ältere Paare im Winterwanderlook an einem weiß gedeckten Tisch. Ein Kellner präsentierte ihnen auf einer Platte gegrillten Fisch und machte sich dann ans Filetieren. Ein zweiter schenkte Weißwein nach und stellte die Flasche in den Eiskübel zurück. Kauz ahnte, dass hier hohe Kochkunst zelebriert wurde. Aber wenn er befürchtet hatte, Matteo werde ihn zu einem Gourmet-Lunch nötigen, hatte er sich getäuscht.

»Ist dir ein Teller Minestrone recht?«, fragte der.

»Das wäre prima«, sagte Kauz.

Die dampfenden Teller mit der herzhaften Suppe standen bald auf dem Tisch, dazu gab es Brot, frisch aus dem Ofen, und ein paar Wursträdchen.

»Vino?«

Kauz lehnte dankend ab, aber ein Bier akzeptierte er gern. Sicher würden die Steffen-Brüder als Halbitaliener Wein trinken, dachte Kauz, was er selbst sich nur abends erlaubte. Aber die beiden ließen sich eine Karaffe Wasser bringen. Dass Carlo und Matteo eine italienische Mutter hatten, hatte sich in den Langlaufklassen herumgesprochen. Und dass im Corno eigentlich hieß das Gourmetlokal Corno Cieco, Blinnenhorn also, aber kein Mensch benützte den ganzen Namen –, dass im Corno die bald achtzigjährige Signora Steffen persönlich am Herd stand, hatte er auch schon gehört. Drum hatte er sich auch vorgenommen, mindestens einmal während seines Gommer Winters im Corno zu speisen. Nur hatte er bisher noch gar kein Verlangen verspürt auszugehen.

Ohne dass er sie dazu auffordern musste, gaben ihm die beiden Brüder einen Abriss ihrer Familiengeschichte: Vater Albert Steffen war ein ziviler Angestellter des Militärdepartements gewesen, als die Armee noch den Schießplatz in Gluringen betrieb. Er war für den Unterhalt der militärischen Einrichtungen und der Mannschaftsunterkünfte zuständig. Seine aus Domodossola stammende Frau Maria arbeitete als Köchin in einem Gommer Hotel. Zu jener Zeit war das Mittlere Goms in jedem Winterhalbjahr von Militär bevölkert. Die Truppen rückten für Fliegerabwehrübungen ein, sie absolvierten ihre jährlichen Kader- und Wiederholungskurse. In ihrer Freizeit lechzten Soldaten und Offiziere nach etwas Abwechslung. Albert und Maria Steffen, die zu der Zeit halbwüchsige Kinder hatten, erkannten die Marktlücke und beschlossen, in Alberts Elternhaus eine Pension mit Gaststube zu eröffnen. Anfangs bestanden die Gäste ausschließlich aus Unteroffizieren, die in den einfachen Zimmern einquartiert wurden. Die Gaststube, Mutter Maria nannte sie ihre Trattoria, wurde wegen der einfachen, aber vorzüglichen Küche abends von Soldaten und Offizieren frequentiert.

»Wann war das?«, wollte Kauz wissen.

»Ein paar Jahre nach dem großen Lawinenunglück«, antwortete Matteo.

Das große Lawinenunglück!, dachte Kauz. Wie immer, wenn er davon hörte, wurde ihm mulmig.

»Also in den 1970er-Jahren?«

»Ja, wir waren damals sechzehn Jahre alt.«

Als sich im Goms der Tourismus zu entwickeln begann, wurde die Pension Galenblick zu einem Geheimtipp für Wanderer und Langläufer. Vater Steffen, selber Bergsteiger, Skifahrer und Langläufer, übernahm es, die Skier seiner Gäste kunstgerecht zu wachsen und instand zu stellen. Bald waren im Geräteschuppen, in welchem die Gäste ihre Bretter einstellten, auch Mietskis zu haben, und wer es wünschte, wurde von Vater Steffen in die Kunst des Langlaufens eingeführt. Der Galenblick wurde kontinuierlich ausgebaut und erweitert, und vor zwanzig Jahren wurde im Nebenhaus das Sportgeschäft eröffnet. Richtig zu florieren begann das Familienunternehmen, als die Zwillingsbrüder sich nach dem unerwarteten Tod des Vaters entscheiden mussten, das Unternehmen eingehen zu lassen oder mit voller Kraft einzusteigen. Matteo hatte die Hotelfachschule absolviert, war zu jenem Zeitpunkt aber fast immer als Bergführer in Chamonix, in Zermatt und in aller Welt unterwegs. Carlo hatte sich ganz seiner Karriere als Spitzensportler verschrieben. Beide waren mittlerweile verheiratet, Carlo hatte drei kleine Kinder. Es galt, die Ehefrauen für das Projekt zu gewinnen.

»Und?«, fragte Kauz. »War das schwierig?«

»Bei Anita nicht«, sagte Carlo. »Für sie und die Kinder bedeutete es keine große Umstellung. Ich war einfach mehr zu Hause als früher«, lachte er.

Kauz sah Matteo an.

»Nadja, meine Frau – Ex-Frau, muss ich sagen –, konnte sich mit dem Goms nicht anfreunden. Sie versuchte es, aber es ging nicht. Wir trennten uns. Nicht ganz einfach für einen Hoteldirektor, das kannst du mir glauben«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Aber ich komme schon klar, ich habe prima Mitarbeiter.« Er sah Carlo an, der nickte. »Wo bin ich stehen geblieben? Ach so, ja: Nach Vaters Tod beschlossen wir, aufs Ganze zu gehen«, nahm er den Faden wieder auf.

Ein Neubau im Gommer Holzbaustil wurde errichtet, mit viel Lärchenholz. In die ehemalige Pension kamen Wirtschaftsräume und Personalzimmer, das Sportgeschäft wurde großzügig ausgebaut und um die Langlaufschule erweitert. Vor zwei Jahren dann wurde der Wellnessanbau erstellt. Matteo hatte gefunden, dass das Hotel schon genug Heimatstil verströme, jetzt sei mal etwas Mutiges gefragt. Der Erweiterungsbau sollte architektonisch ganz modern sein. Lange wurde familienintern und später mit den Baubehörden gestritten. Aber das Ergebnis, so fand auch Kauz, ließ sich wirklich sehen: ein schlichter Würfel mit einer feinen, lamellenartigen Fassade. Diese und das Flachdach, um welches besonders erbittert gefochten worden war, stellte einen pfiffigen Kontrast zu den behäbigen Gommer Holzbauten mit den traditionellen Balken dar.

Nachdem er die Steffen-Story gehört hatte, fragte Kauz schließlich: »Habt ihr Feinde?«

»Das möchten wir ja selbst gern wissen«, erwiderte Carlo.

»Was wir sicher haben, das sind Neider«, ergänzte Matteo.

»Neider?«

»Der älteste Gommer ist der Neid, heißt es. Jeder im Goms, der ein bisschen etwas erreicht hat, hat hier Neider«, sagte Matteo bitter.

»Du meinst solche, die weniger oder gar nichts haben?«

»Genau die«, bestätigte Matteo. »Aber auch solche, die gleich viel oder sogar mehr haben.«

»Das ist jetzt nicht gerade hilfreich«, sagte Kauz schmunzelnd. »Da kommt ja jeder infrage. Könnt ihr nicht ein bisschen konkreter werden?«

»Du hast ja noch gar nicht zugesagt«, meinte Carlo.

»Ach so, darum rückt ihr nicht mit der Sprache heraus?«, lachte Kauz. »Nun, gut«, sagte er nach einer kleinen Pause, denn eigentlich hatte er sich bereits entschieden. »Ich nehme den Auftrag an. Aber ich will ihn jederzeit zurückgeben können. Auch ohne Begründung.«

Carlo tauschte einen Blick mit Matteo.

»Einverstanden«, sagte der. »Und wir wollen, dass alles, was wir dir sagen, vertraulich bleibt. Auch wenn du irgendwann aussteigst.«

»Natürlich. Mit einer Ausnahme: Wenn ich etwas erfahre, was für die Polizei bei den Ermittlungen in diesen Mordfällen wichtig sein könnte, muss ich es ihr sagen.« Ihm war klar, dass das eine ziemlich einschneidende Einschränkung war.

Matteo zog die Unterlippe ein, Carlo fasste sich an die Nase. Die Brüder tauschten nochmals Blicke. Zuerst nickte Carlo, dann Matteo. Kauz schaute sie an. Beide hatten ein offenes Gesicht und ruhige, dunkle Augen.

»Gut, dann müssen wir nur noch …«, fing Kauz an und rieb sich das Kinn.

»… über dein Honorar reden«, kam ihm Matteo zuvor. »Klar. Was ist deine Forderung? Sag’s ungeniert. Tages- oder Stundenansatz, spielt keine Rolle.«

»Ich nehme kein Geld«, sagte Kauz.

Die Brüder sahen ihn verdutzt an.

»Ihr müsst wissen«, erklärte Kauz, »ich stehe immer noch auf der Lohnliste des Kantons Zürich.« Es gab noch einen weiteren Grund, kein Honorar anzunehmen, aber den sprach er nicht aus: Er wollte nicht unter Erfolgsdruck kommen. »Für den Augenblick habe ich andere Forderungen.«

»Welche?«

»Freien Zugang zum Hotel und zum Sporthaus Steffen. Zum Speisesaal, zum Restaurant, zum Spa, zu allem. Zu den Kursen, zur Werkstatt, zum Kursbüro. Und zum ganzen Personal.«

»Natürlich, das ist doch selbstverständlich.«

»Eben. Das Bilderkratzen lässt ja eher an Insider denken. Ich nehme also euer Personal unter die Lupe. Vielleicht auch Gäste«, meinte er und schaute Matteo an. Der verzog das Gesicht, hob die Hände und gab damit zu verstehen, dass er da seine Bedenken habe. »Keine Sorge«, griff Kauz den unausgesprochenen Einwand auf, »ich mache das diskret. Eventuell muss ich mich auch in der Nachbarschaft, im Dorf, vielleicht im ganzen Goms umhören.«

Wieder wechselten die Brüder Blicke. »Das wäre ganz in unserem Sinn«, sagte Matteo. »Vorausgesetzt, du gehst auch dabei diskret vor«, lachte er. »Ich meine, dass du nicht gleich jedem unter die Nase reibst, dass wir dich schicken.«

»Ihr schickt mich nirgendwohin, damit das klar ist«, sagte Kauz. Und das war nur halb im Scherz gemeint. »Ich gehe nach eigenem Ermessen vor.« Nach einer kurzen Pause sagte er: »Also, die Neider sind das eine. Aber was gibt es für Leute, die sich aus irgendeinem Grund über euch ärgern? Wer fühlte sich von euch schlecht behandelt? Wem seid ihr in die Quere gekommen?«

Die Zwillinge sahen sich an. Dann packten sie aus.

Nach einer Stunde hatte Kauz einiges über große und kleine Konkurrenten im Gommer Sport- und Hotelgeschäft, über engstirnige Gemeinderäte, frustrierte Umweltschützer, verärgerte Landwirte und über Nachbarn erfahren, die sich durch den Familienbetrieb Steffen beeinträchtigt fühlten. Kauz erkundigte sich auch nach dem Instruktoren-Team. Carlo ging mit ihm die Skilehrer durch. Zu fast allen, den Einheimischen wie den Üsserschwiizern, bestehe ein ungetrübtes Verhältnis, war sein Fazit. Aber die Reihe war noch unvollständig.

»Was ist mit Björn?«, fragte Kauz.

»Ach, der tut mir leid!« Carlo schien ehrlich betroffen zu sein. »Er hat einen Zusammenbruch erlitten. Er musste seine tote Frau identifizieren.«

»Ich weiß«, sagte Kauz. »Aber wie steht ihr zueinander?«

»Nun, ich war wohl sein sportliches Vorbild. Ich glaube, er hat seine Leistungen als Spitzensportler immer an meinen gemessen.« Carlo sagte eine Weile nichts mehr und sah vor sich auf den Tisch. Dann hob er den Kopf und sah Kauz bekümmert an. »Ich glaube, dieser Kriminalinspektor – Gsponer heißt er, nicht wahr? – hat ihn im Visier. Jedenfalls interessierte er sich sehr für ihn. Muss er wohl, das liegt auf der Hand. Ich kann mir aber einfach nicht vorstellen, dass Björn irgendwem etwas zuleide tut. Er ist bärenstark, ausdauernd und hat einen eisernen Durchhaltewillen. Aber nur im sportlichen Bereich. Sonst ist er eher ein Softie.« Carlo lächelte müde. »Er hat ein viel zu weiches Herz. Er kann nicht Nein sagen. Er kann sich nicht wehren, wenn’s drauf ankommt.« Wieder schwieg Carlo. »Ich denke nicht, dass er mir oder Matteo gegenüber Ressentiments hat.«

»Und Nik?«, fragte Kauz der Vollständigkeit halber.

»Nik Holzer? Der schon«, sagte Carlo sofort. »Den habe ich jetzt glatt vergessen«, sagte er kopfschüttelnd. »Seltsam, nicht? Dabei ist er der Einzige, der wirklich welche haben könnte.«

»Ressentiments?«

»Ja, aber vielleicht täusche ich mich.«

»Wieso sollte er?«, wollte Kauz nun wissen. Denn Nik hatte mit keinem Wort Negatives über Carlo oder Matteo gesagt. Nicht einmal zwischen den Zeilen.

»Weil ich ihn eigentlich nicht mehr als Instruktor anstellen wollte«, gab Carlo kleinlaut zu.

»Und wieso nicht?«

»Er hat massiv gegen Matteos Erweiterungsbau opponiert. Das passte mir natürlich nicht. Das Baugesuch wurde dann aber doch bewilligt. Ich gebe zu, es war kleinlich von mir, ihn auszubooten.« Carlo sah aufrichtig betreten aus. »Jetzt bin ich weiß Gott froh, dass er für Fabienne eingesprungen ist. Es war übrigens Zaras Idee, ihn anzufragen.«

»Hat sie denn nichts von eurer Meinungsverschiedenheit gewusst?«

»Doch. Ich hab ihr die Geschichte mal erzählt. Ich war im ersten Augenblick auch konsterniert, dass sie Nik bat einzuspringen. Aber damit hat sie hat mir ja aus der Patsche geholfen. Sie ist eine Perle. Obwohl …«

»Was?«

»Na ja, du sieht ja selbst, was für ein Gesicht sie die ganze Zeit macht.« Carlo zog seine Mundwinkel mit beiden Zeigefingern nach unten. »Sie ist nicht unfreundlich zu den Kunden. Nur nicht gerade ein Ausbund an Herzlichkeit. Aber sie hat wirklich alles im Griff, das ist die Hauptsache.«

»Hast du eine Ahnung, warum sie so missmutig wirkt?«

»Nicht wirklich. Einmal hat sie Andeutungen gemacht, sie habe etwas Schlimmes erlebt. Aber dann wollte sie doch nicht darüber reden.«

»Ach ja?«

»Vielleicht fehlt ihr auch ganz einfach ein Mann«, lachte Carlo. »Oder was meinst du, Matteo?« Er warf seinem Bruder einen Blick zu.

Matteo verdrehte die Augen. Fang nicht schon wieder damit an, sollte das wohl bedeuten.

»Hmm«, machte Kauz, »meinst du?« Er tat, als habe er den Blickwechsel nicht gesehen. »Wohnt sie hier im Hotel?«

»Nein, die Personalzimmer sind für das Hotelpersonal. Zara ist wie die Instruktoren privat untergebracht. Sie wohnt in der Brummelmatte, nicht weit von hier. Wieso fragst du?«

»Nur so«, sagte Kauz. »Und was ist mit Noldi?«

»Der ist auch Gold wert. Unser Mann für alles, seit vielen Jahren. Vielleicht ein einfaches Gemüt, aber eine treue Seele. Er war schon unserem Vater eine Stütze.«

Kauz hatte fürs Erste genug gehört.

Höchste Zeit für Max, dachte er, als er sich von den Brüdern verabschiedete. Der Hund freute sich riesig, als sein Herrchen nach Hause kam. Kauz beschloss, ihn ausnahmsweise auf die normale Loipe mitzunehmen. Es hatte aufgehört zu schneien, doch das Wetter war immer noch nicht sehr einladend. Bestimmt war kaum jemand unterwegs.

Und so war es auch. Nur bei der Brücke am Dorfrand standen ein paar einzelne Langläufer.

Kauz versuchte, Max beizubringen, auf dem Winterwanderweg zu laufen. Es gab Loipenstrecken, die zum Wanderweg mehr oder weniger parallel verliefen und ihn manchmal sogar kreuzten. Das machte er sich jetzt zunutze. Den Wanderweg selbst kannte der Hund bereits, Kauz war oft genug mit ihm darauf marschiert, als noch wenig oder gar kein Schnee lag. Bald hatte Max begriffen, dass er an den Kreuzungen auf Kauz warten musste, wenn die Strecke bergauf führte. Und dass Kauz auf ihn wartete, wenn es bergab ging.

Ein einziger Langläufer meckerte: »Also wirklich!«, rief er, »das ist doch keine Hundeloipe!«

Kauz winkte ihm zu, als habe er ihn freundlich gegrüßt.

Nach zwei Stunden war er wieder im Speicher. Er hatte es sich eben gemütlich gemacht, da klingelte sein Handy. Auf dem Display sah er, dass es Ria war.

»Hör zu, Chüzz«, sagte Ria ziemlich kurz angebunden. »Kannst du morgen kurz auf den Posten kommen?«

»Wozu?«, fragte Kauz erstaunt. Es klang nicht nach einer Einladung zum Kaffeeklatsch. Ihm fiel ein, dass Gsponer gar nicht aufgetaucht war. Erwartete der tatsächlich, dass er ihm die Kamera hinterhertrug?

»Es ist was Blödes passiert: Es liegt eine Anzeige gegen dich vor. Tut mir wirklich leid, aber wir müssen dich dazu befragen.«

Das gibt’s doch nicht!, dachte Kauz. »Etwa von einem gewissen Herrn Hinz?«, fragte er lachend.

»Genau. Du weißt also davon?«

Kauz spürte, dass Ria die Sache peinlich war.

»Kein Problem, Ria. Mir ist das weniger unangenehm als dir. Ich komme vorbei, ich habe ja Zeit. Allerdings erst nachmittags, bis Mittag habe ich Unterricht.«

»Du skatest neuerdings, richtig?«

»Habe eben erst angefangen.«

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