Читать книгу: «Gommer Winter», страница 5

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»Kennen Sie die Frau?«

»Ja, das ist Sue«, sagte er tonlos.

Man führte ihn hinaus, setzte ihn im Korridor auf eine Bank, brachte ihm ein Glas Wasser und holte schließlich die Schwiegereltern. Aber auch die brachten kein Wort mehr aus ihm heraus. Björn stierte nur noch vor sich hin ins Leere.

»Was ist jetzt mit ihm?«, fragte Thomas.

»Er liegt im Spital«, sagte Ria. »Er steht unter Schock.«

Mittwoch, 12. Dezember

»Entschuldige«, sagte Zara mit gekränktem Gesichtsaus- druck, »aber hier ist gerade sehr viel los.« Sie legte den Finger auf eine ausgedruckte Teilnehmerliste und blickte zwischen dem Papier und dem Bildschirm hin und her. Nur ganz kurz sah sie Kauz an und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich kann mich im Augenblick nicht um dich kümmern. Die Leute spinnen. An normales Arbeiten ist überhaupt nicht zu denken.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Kauz. »Ist ja verständlich, nach allem, was passiert ist.«

»Klar ist das schlimm«, gab sie zurück. »Aber deswegen gleich abreisen und das Kursgeld zurückverlangen! Das ist doch auch pietätlos. Und mich haben sie heute schon dreimal von der Arbeit weggeholt.«

»Wer sie?«, fragte er.

»Wer wohl? Die Polizei natürlich. Im Moment sind sie drüben im Hotel. Nicht nur Carlo, auch Matteo wird schon den ganzen Tag ausgequetscht.«

Da Kauz nicht im Galenblick logierte, hatte er davon nichts mitbekommen.

Der Tag hatte beklemmend begonnen. Schon am Vortag war unter den Langläufern das Gerücht umgegangen, man habe die Skilehrerin Fabienne Bacher tot unter einer Rottenbrücke gefunden. Weiter wurde gemunkelt, auch die Langläuferin Sue Brongg sei tot, sie sei am Baawaldschtuzz verunfallt. Kauz konnte sich vorstellen, wie die Gerüchteküche beim gestrigen Abendessen und heute beim Frühstück im Speisesaal des Galenblick weiterbrodelte. Denn anscheinend hatten weder die Kursleitung noch die Hoteldirektion über die Todesfälle informiert. Die Kursteilnehmer standen mit düsteren Mienen, verhalten tuschelnd im Freien, als Kauz morgens bei Steffen Sport eintraf. Die Skilehrer gesellten sich nicht wie sonst zu ihren Klassen, sondern stellten sich draußen vor der Schule auf. Kauz sah sofort, dass Björn immer noch fehlte.

Carlo Steffen, für einmal selbst im Langläuferdress, trat vor die versammelten Kursteilnehmer und begann mit belegter Stimme:

»Sportsfreunde. Ich habe leider eine traurige Nachricht. Nein, zwei unendlich traurige Nachrichten. Gestern wurde unsere Instruktorin Fabienne Bacher am Rotten tot aufgefunden. Ihr wisst, dass sie seit letztem Mittwoch vermisst war. Wir haben gehofft, dass sie wohlbehalten wieder auftauchen würde. Aber leider ist es anders gekommen. Was ihr zugestoßen ist, wissen wir noch nicht. Und –«, jetzt stockten seine Worte, »unsere Kursteilnehmerin Sue Brongg ist gestern auf der Loipe schwer verunfallt und an den Unfallfolgen gestorben. Man hat sie vergangene Nacht …«, er hob die Arme kurz an, ließ sie dann hilflos wieder fallen und schüttelte den Kopf, als könne er seine Nachricht selbst nicht glauben. Dann schluckte er und setzte erneut an: »Man hat sie gestern Nacht –«, seine Stimme drohte zu brechen, »am Baawaldschtuzz gefunden.«

Carlo zog ein Taschentuch hervor, schnäuzte sich, fuhr mit der Hand über die Augen und sprach dann weiter: »Wir können alle nicht fassen, was geschehen ist. Es war Gottes Wille«, schloss er dann pathetisch.

Kauz reagierte auf solche Floskeln allergisch. Dummes Zeug!, dachte er. Woher willst du das wissen?

»Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Verstorbenen«, fuhr Carlo weiter. »Bei Björn, der seine Frau, und bei den Eltern Bacher, die ihre Tochter verloren haben. Und bei Sues Ehemann und ihrer Familie. Wir wollen …«, und damit schaute er in die Runde, drehte sich nach seinen Instruktoren und Mitarbeitern um, die sich zu seiner Rechten aufgereiht hatten, und fuhr dann fort: »Wir wollen zu Ehren der Verstorbenen eine Minute lang schweigen.«

Carlo senkte den Kopf und legte die in dicken Handschuhen steckenden Hände zusammen. Einige taten es ihm gleich, ein paar nahmen die Skimütze vom Kopf, andere wischten sich über die Augen oder zückten ihr Taschentuch. Kauz schaute geradeaus auf die Reihe der Skilehrer und Mitarbeiter. Alle Instruktoren blickten zu Boden oder hielten die Augen geschlossen. Noldi bohrte in der Nase. Zara sah wie Kauz geradeaus. Für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke.

Als die nicht enden wollende Minute vorbei war, richtete sich Carlo auf und sagte zu den versammelten Langläufern:

»Viele von euch, viele von uns, haben vielleicht keine große Lust darauf, jetzt am Training teilzunehmen. Es soll sich auch niemand gezwungen fühlen. Aber das Leben geht – für uns – weiter, und deshalb bitte ich euch: Geht langlaufen! Die beiden Verstorbenen hätten es bestimmt so gewollt. – Björn ist nicht da«, schloss er, »ich übernehme seine Klasse.«

Damit bückte er sich nach seinen Skiern und ließ die Bindung zuschnappen. Er winkte der Rennklasse, die jetzt nur noch aus fünf Skatern bestand, ihm zu folgen, machte ein paar rasante Schlittschuhschritte und stieß sich dann erst mit den Stöcken ab. Die Skater schlossen sich Carlo an, und die Gruppe verschwand im Nebel.

Nik versuchte seiner Klasse noch den letzten Schliff im klassischen Stil zu verpassen. Doch er hatte nur die halbe Aufmerksamkeit seiner Schüler.

»Wie kann so etwas passieren?«, fragte ein junger Teilnehmer, als Nik mit ihnen auf einem Loipenstück Schussfahrt, Bremsen und Stoppen übte. »Ich meine, ein tödlicher Unfall durch einen Sturz beim Langlaufen? Ich kann mir das kaum vorstellen.«

»Kennst du den Baawaldschtuzz?«, fragte Nik zurück.

Der Mann schüttelte den Kopf. Mittlerweile hatten sich auch die übrigen Läufer um Nik geschart.

»So viel kann ich dir sagen: Wenn der vereist ist, dann ziehen auch die besten Läufer ihre Latten aus und steigen zu Fuß neben der Loipe ab, statt auf ihr runterzusausen. Ich weiß wirklich nicht, was in Sue gefahren ist, dass sie dieses Risiko einging.«

Dann wiederholte er seine Warnung für steilere Abfahrten: Es solle ja keinem einfallen, mit den Skistöcken abzubremsen, wenn das Tempo zu hoch werde. Es könne zu sehr schlimmen Verletzungen führen, wenn jemand sich dabei den Stock in den Bauch ramme.

»Aber bei Sue soll es eine offene Verletzung gewesen sein, an der Brust. Wie ist so etwas möglich?«, insistierte der Frager. Offenbar wusste er von irgendwoher mehr als andere. »Man stürzt doch nicht in die Spitze des eigenen Skistocks. Eine Stichverletzung am Fuß, am Bein, vielleicht auch in der Leiste, das könnte ich mir noch vorstellen. Aber an der Brust?«

Nik hob kurz die Hände, auch er wusste hier keine Antwort.

»Kanntest du sie?«, fragte jemand Nik.

»Sue? Ich weiß, wie sie aussieht. Und dass sie eine Top-Langläuferin ist. Aber näher kenne ich sie nicht.«

»Und Fabienne?«

»Schoo. Sie ist ja eine Gommerin. Im Goms kennt jeder jeden.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ä flotti Meggä.«

Das war, aus Gommer Mund, höchste Anerkennung. Flott war im Goms gebräuchlich, wenn man den Charakter oder die äußere Erscheinung einer Person würdigen wollte.

»Meggä?«, fragte jemand.

»Mädchen«, erklärte Nik. »Ein flottes, ein tolles Mädchen.«

»Fabienne ist doch kein Mädchen«, protestierte eine Unterländerin. »Sie ist – sie war, meine ich – eine Frau. Eine junge Frau, meinetwegen. Aber doch kein Mädchen!« Es war nicht das erste Mal, dass sich diese Kursteilnehmerin für politische Korrektheit einsetzte.

Nik sah der Üsserschwiizeri ins Gesicht.

»Än änds flotti Meggä«, wiederholte er seelenruhig, nicht mal eine Spur von Rechthaberei in der Stimme.

Das hat gesessen, dachte Kauz, denn die Frau wagte nun nicht mehr Nik zu kritisieren. Der Mann gefällt mir. Än änds flottä Kärli.

Als der Kurs gegen Mittag vorbei war, wollte Kauz von Nik wissen, ob er nach den eben abgelaufenen drei Kurstagen nochmals vier weitere buchen könne.

»Du hast jetzt sieben Tage Unterricht hinter dir. Jetzt ist Praxis angesagt. Üben, üben, üben. Langlaufen, von Oberwald nach Niederwald und zurück«, grinste er. Und wenn er unbedingt einen weiteren Kurs nehmen wolle, so solle er eher Skaten lernen.

»Skaten?«, erwiderte Kauz. »Ich weiß nicht. Ich glaube, das ist dann doch nichts für mich.«

Nachmittags um drei hatte Kauz seine Runden auf der Hundeloipe hinter sich. Er stand im Kursbüro der Langlaufschule und wartete, bis Zara Zeit für ihn hatte. Das konnte noch dauern, also ging er die paar Schritte ins Hotel hinüber und setzte sich in einen bequemen Sessel im Eingangsbereich.

Gleich stand eine junge Kellnerin vor ihm und fragte nach seinen Wünschen.

»Oh«, sagte Kauz, »sitze ich da im Restaurationsbereich?«

»Nein, nein«, meinte die Frau zuvorkommend, »hier besteht kein Konsumationszwang. Sie dürfen gern einfach hier sitzen. Ich dachte nur …«

»Danke«, sagte Kauz.

Der Galenblick machte auf ihn, nach dieser kurzen Begegnung mit einer aufmerksamen und freundlichen Mitarbeiterin, einen ausgesprochen guten Eindruck.

Matteo Steffen, der Hoteldirektor, tauchte an der Rezeption auf und begrüßte einen neuen Gast. Doch zeigte er nicht das übliche Hoteldirektorlächeln, sondern drückte dem Gast, der um die vierzig sein mochte, lange die Hand. Er fasste ihn gleichzeitig mit der Linken am Oberarm wie einen alten Bekannten und sah ihm bekümmert ins Gesicht.

»Es tut mir aufrichtig leid, Franz. Dass du unter so traurigen …«, hörte Kauz ihn leise sagen. Doch schon hatte Matteo den Mann, der eine Nickelbrille à la John Lennon trug und irgendwie verstört wirkte, von der Rezeption weggezogen. Allem Anschein nach führte er ihn höchstpersönlich auf sein Zimmer.

Das muss Sue Bronggs Mann sein, dachte Kauz. Oder sonst ein Angehöriger.

»Darf ich?«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

»Alain!«, rief Kauz. Ihm war klar, dass Kriminalinspektor Gsponer beruflich hier war. Aber er freute sich trotzdem, seinen Freund zu sehen. »Sicher. Setz dich. Kaffee?«

»Gern. Einen starken. Hab aber nur eine Viertelstunde.«

Kauz winkte der Kellnerin und bestellte zwei Espresso, für Gsponer einen Doppio. Anders als Kauz es nach Zaras leicht genervten Bemerkungen erwartet hatte, herrschte an der Rezeption im Augenblick Flaute. Gsponer blickte trotzdem um sich; es saß niemand in ihrer Nähe.

»Spurensicherung?«, fragte Kauz mit Flüsterstimme, als die Tässchen vor ihnen standen.

Gsponer nickte.

»Hier im Hotel? Im Gästezimmer?«

Gsponer nickte abermals. »Schon erledigt«, fügte er hinzu.

»Befragungen?«

Gsponer nickte zum dritten Mal. »Sind im Gang«, sagte er, die Hand vor dem Mund. »Was ich dich fragen wollte«, sprach er weiter, jetzt noch leiser: »Darf ich mir deine Kamera ausleihen?«

»Sicher.«

Man geht also von Mord aus, dachte Kauz. Vielleicht hofft man, dass meine Bilder trotz allem helfen, den Täter zu finden.

»Sind es zwei Fälle oder einer?«

»Zwei«, murmelte Gsponer. »Wollen wir an die frische Luft? Hier drinnen ist es mir zu …«

»Klar«, sagte Kauz und legte das Geld neben die leeren Tässchen.

»Hör zu, Kauz«, sagte Gsponer, als sie draußen waren, und steckte sich sofort eine Zigarette zwischen die Lippen. Sie gingen durch den Schnee, weg vom Sporthaus Steffen und vom Hotel Galenblick, bis keine unbefugten Ohren mehr in Hörweite waren. »Diesmal kann ich dich nicht ins Vertrauen ziehen«, eröffnete er ihm, das Streichholz noch in der Hand, »beim besten Willen nicht. Aber weil du uns mit der Entdeckung der ersten Leiche und mit deinen Bildern wohl auf die richtige Spur gebracht hast, wenigstens so viel: Bivinelli hat die Autopsie der Leichen in Bern angeordnet. Die Todesursache – in beiden Fällen die gleiche – steht mittlerweile fest: eine Kombination von Verbluten und Ersticken am eigenen Blut. Die zwei Leichen weisen fast identische Verletzungen auf. Das hat Bivinelli schon bei der Leichenschau festgestellt, und sein Befund wurde durch die Autopsie in Bern bestätigt. Suizid kommt nicht infrage. Und ob im Fall Baawaldschtuzz ein Unfall passiert ist, steht noch nicht fest. Die Untersuchungen, 3D-Rekonstruktionen und so weiter, du weißt schon, sind noch nicht abgeschlossen. Die Forensiker tüfteln noch daran herum, wie die tödlichen Verletzungen zustande kamen oder zugefügt wurden. Das kann noch dauern. Das war’s«, lachte er und fuhr sich mit einer Reißverschlussbewegung über den Mund.

»Schon gut«, schmunzelte Kauz. »Ich frage ja gar nicht weiter.«

Gsponer begann zu schlottern. Allen Vorhersagen zum Trotz, die für diesen Tag Sonnenschein versprochen hatten, war es schon den ganzen Tag bedeckt, windig und kalt gewesen. Gsponer blieb stehen, hielt sich den wie immer offen getragenen Kragen seiner Wildlederjacke samt Schafwollfutter mit beiden Händen zu und betrachtete die durchnässten Spitzen seiner schicken Wildlederstiefel. »Vielleicht noch das«, fügte er, wie zu sich selbst redend, an: »Wir müssen wohl von einem Beziehungsdelikt ausgehen. Andere Hypothesen verfolgen wir natürlich weiter. Es scheint da ein Dreieck zu geben«, nuschelte er.

»Dreieck? Zwischen …?«

Gsponer überhört das und fuhr fort: »Wir konzentrieren uns vorerst auf das Umfeld der Langlaufschule Steffen. Zieh daraus bitte keine voreiligen Schlüsse. Aber das eine Opfer war Instruktorin, das andere offenbar eine Stammkundin der Schule und des Hotels. Bloß dumm, dass viele Kursteilnehmer, die diese und letzte Woche da waren, abgereist sind. Wir konnten nicht alle befragen. Das verzögert die Ermittlungen. Das von der Langlaufschule sage ich, weil ich weiß, dass du seit einer Woche hier ein und aus gehst. Wie gesagt, Kauz, du wirst diesmal nicht einbezogen. Tut mir leid.«

»Mir nicht«, sagte Kauz gleichmütig.

»Ach ja?«, machte Gsponer und sah seinen Freund von der Seite an. »Aber trotzdem: die Langlaufschule Steffen. Wenn dir da irgendetwas auffällt oder zu Ohren kommt, lass es mich bitte wissen.«

»Ist doch klar«, sagte Kauz.

Ich werde nicht einbezogen, soll aber Augen und Ohren offenhalten und rapportieren, dachte er. Er lachte in sich hinein, verbiss sich aber einen Kommentar.

»Jetzt muss ich weiter«, sagte Gsponer. »Ich habe noch eine Befragung vor. Der Mann dürfte sein Zimmer mittlerweile bezogen haben.«

Dann lag ich wohl richtig, dachte Kauz: Sues Ehemann. Aber wieso trifft der erst heute ein? Seine Frau wurde seit Montagnachmittag vermisst, die Rettungskolonne war Montagnacht losgeschickt worden, Sue war irgendwann nach Mitternacht gefunden worden, und Dienstag früh lag ihre Leiche bei der Rechtsmedizin in Sitten. Jetzt befand sie sich in Bern. Aber vielleicht war der Mann im Ausland gewesen, überlegte Kauz weiter, und musste, als er vom Tod seiner Frau erfuhr, von weit her anreisen. Na ja, geht mich ja nichts an, sagte sich Kauz schulterzuckend und betrat erneut das Kursbüro.

»Ist es etwas Wichtiges?«, fragte Zara, nur einen Augenblick den Kopf hebend, als er wieder vor ihr an der Theke stand. Sie schien noch immer ziemlich gestresst.

In Windeseile ordnete sie ein paar Dinge neben ihrem Computer: Notizblock, Kugelschreiber und Brieföffner wurden im Abstand von exakt einem Zentimeter parallel auf ihre Schreibtischplatte gelegt. Dabei wischte sie sich die Hände blitzschnell, mehrmals hintereinander, an den Seiten ihrer Hose ab, als ob etwas an ihnen haften würde. Sie nahm ein Mikrofasertuch, fuhr damit energisch über den Monitor und blies mehrmals kräftig über die Tastatur. Erneut wischte sie sich die Hände ab, betrachtete kurz ihre Handflächen und wischte sie dann ein weiteres Mal ab. Das alles dauerte nur wenige Augenblicke, dann gab sich Zara einen Ruck.

»Du weißt doch«, sagte sie leicht hektisch, »am Mittwochabend ist der kleine Empfang für die Neuen, die morgen den Viertageskurs anfangen. Ich muss hier noch alles abschließen. Dann umziehen, verstehst du? Und vorher unbedingt noch duschen.«

Umziehen? Unbedingt duschen?, wunderte sich Kauz. Vielleicht hörte er das Gras wachsen, aber auch das Du weißt doch klang in seinen Ohren eine Spur zu vertraulich. Woher der plötzliche Sinneswandel?

»Sag schon, ist es was Wichtiges?«, hakte sie nach und fuhr den Computer herunter.

»Nein, nein«, lachte Kauz. »Ich überlege mir bloß, morgen nochmals einen viertägigen Kurs anzuhängen. Skaten für Einsteiger. Wer führt diese Klasse? Kannst du mal nachschauen?«

»Das brauche ich nicht nachzuschauen, das habe ich im Kopf«, war die Antwort. »Nik macht das. Willst du buchen?«

»Ja, aber das hat Zeit bis morgen. Ich lass dich jetzt in Ruhe, ich komme morgen einfach etwas früher. Einverstanden?«

Der Hauch eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.

»Gut, einverstanden«, sagte sie und sah ihn kurz an, »bis morgen«, und Kauz ging hinaus. »Komm aber früh genug!«, rief sie ihm nach, »wir müssen dich ja noch ausrüsten.«

*

Verflixt, dachte Zara. Sie stand in ihrem Badezimmer vor dem Spiegel.

Ob er etwas gemerkt hat?

Ach was, vielleicht achtet er gar nicht auf solche Dinge.

Trotzdem, wieso konnte ich mich nicht zusammennehmen?

Der Tick war in den letzten Tagen noch stärker geworden.

»Peinlich, peinlich«, hielt sie ihrem Spiegelbild vor. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Gehörte das jetzt auch zu ihren Ticks?

»Ach, egal!«, rief sie in den Spiegel.

Jetzt musste sie sich keine Zurückhaltung mehr auferlegen, es war ja niemand da. Energisch schrubbte sie sich mit einer Bürste die Hände, bis die Haut rot war. Dann stellte sie sich unter die Dusche und verrichtete das übliche Ritual. Das Badetuch um sich geschlungen, stellte sie sich erneut vor den Spiegel. Stand ihr immer noch Bitterkeit ins Gesicht geschrieben? Wahrscheinlich schon, dachte sie. Sieh dich an, sagte sie zu sich selbst. Beschreib einfach, was du siehst. Das hatte ihr Manconi einmal empfohlen.

Weder hässlich noch besonders hübsch, stellte sie fest. Wangenknochen und Kinnlade vielleicht etwas markant ausgeformt, dafür eine nicht unschöne Stirn- und Nasenpartie. Volles Haar, volle Lippen, ein eher breiter Mund. Und ein faltenloser Hals. Interessante Augen. Kräftige Brauen.

Es hatte eine Zeit gegeben, da stellte sie Vergleichsstudien mit eigenen und fremden Passfotos an und forschte im Internet nach den idealen Gesichtsmaßen. Das Resultat war niederschmetternd: Ihre Augen standen eindeutig enger als die Augenpaare der meisten Menschen. Weil dies aber, entgegen ihrer damaligen Überzeugung, ihre Chancen beim anderen Geschlecht nicht schmälerte, fand sie sich schließlich damit ab. Dass sie ein bisschen schielte, störte sie jetzt auch nicht mehr. Als Kind hatte man sie dafür gehänselt. Aber als junge Frau spürte sie, dass die Männer auf ihre Augen, auf ihren Blick mehr als auf alles andere ansprachen. Sie ging sparsam damit um, aber manchmal setzte sie ganz bewusst Blicke ein, um ihre Wirkung auf Männer zu testen. Als sie jung war, hatte sie fast zwanghaft versucht, stets ein freundliches Gesicht zu machen. Mittlerweile hatte sie erfahren, dass das bloß anstrengend war und eigentlich nichts brachte. Also bemühte sie sich nicht mehr darum, ihre Mundwinkel nach oben zu ziehen. Dafür war ihr Lächeln, wenn sie nun einmal eines zeigte, nicht aufgesetzt, sondern echt.

Sie hängte das Badetuch über die Stange und strich es glatt. Als ihre Hände zum dritten Mal über das Tuch fuhren, klopfte sie sich selber auf die Finger und drehte sich wieder zum Spiegel. Dann trat sie einen Schritt zurück.

Ihr Körper konnte sich sehen lassen, für eine Vierzigjährige allemal. Ihre Brüste, das war in der Ganzkörperbetrachtung das Augenfälligste, waren von idealer Größe. Und sie waren immer noch straff, Schultern, Arme und Beine muskulös und wohlgeformt. Ihr Po ebenso. Der Bauch hatte zwar eine gewisse weibliche Rundung, aber wenn sie die Bauchdecke anspannte, zeigte sich ein Waschbrett, das manchen vierzigjährigen Mann in Verlegenheit brachte. Man sah ihr die frühere Spitzensportlerin immer noch an. Sie tat auch etwas dafür: tägliches Krafttraining am Expander, im Sommer Radfahren, Schwimm- oder Lauftraining, im Winter Langlauf. Bewusste, gesunde Ernährung und viel Schlaf.

Sie schlüpfte in den Slip, einen BH trug sie nur beim Sport, und kleidete sich dann für den Apéro mit den Neuankömmlingen an, nicht zu hausbacken, aber auch nicht zu schick.

Da noch Zeit war, setzte sie sich in den einen Sessel, der in ihrer kleinen Wohnung Platz hatte, und dachte nach. Am liebsten hätte sie sich fürs Nachdenken aufs Bett gelegt, aber da bestand die Gefahr, dass sie einschlief, und das konnte sie sich nicht leisten. Carlo verließ sich auf sie, ihn durfte sie auf keinen Fall im Stich lassen.

Dass sie sich vor zwei Tagen nachts freiwillig dem Suchtrupp angeschlossen hatte, rechnete er ihr hoch an. Man kannte sie als starke und sichere Läuferin, sie war mit allen Loipen vertraut. Auch mit der Nachtloipe. Die Leute von der Rettung hatten denn auch nichts dagegen gehabt, dass sie mitkam. Im Gegenteil, sie waren froh gewesen um die Verstärkung. Notfalls hätten sie das gesamte Loipennetz absuchen müssen, und das mitten in der Nacht. Nach drei Stunden hatten sie Sue dann am Baawaldschtuzz gefunden. Es war kein schöner Anblick gewesen! Überall Blut. Einer der Männer vom Loipendienst musste sich übergeben. Sie nicht.

War sie nicht nur verbittert, war sie auch hartherzig geworden?, fragte sie sich und schaute erneut auf ihr Spiegelbild. Vielleicht schon. Jedenfalls hatte sie beim Anblick der toten Sue weder Mitleid noch sonst etwas empfunden. Sie war ganz cool geblieben. Den Männern hatte es Eindruck gemacht.

Weil sie für die vermisste Fabienne so rasch Ersatz gefunden hatte, war Carlo von ihr beeindruckt. Es war aber auch wirklich ein guter Einfall gewesen, Nik aus dem Stall zu holen, und ein Glück, dass der sofort einspringen konnte. Damit hatte sie nicht unbedingt gerechnet, denn Nik hätte allen Grund gehabt zu schmollen und ihr einen Korb zu geben. Carlo hatte ihn, den Reckinger, der seit Jahren zum Skilehrerteam seiner Schule gehört hatte, in den letzten beiden Jahren übergangen, um nicht zu sagen ausgebootet. Die Minstigerin Fabienne Bacher dagegen hatte er wieder als Skilehrerin angestellt. Ebenso ihren Mann, den Björn. Und obendrein Claire, diese Unterländer-Tussi. Wenn nun auch Björn ausfiel, war guter Rat teuer. Einen Skilehrer für die Rennklasse würde sie nicht so rasch auftreiben können. Da musste Carlo wohl weiterhin selbst einspringen.

Zara hätte gern gewusst, wie es um Björn eigentlich stand. War er wirklich in der Psychiatrie gelandet, wie es hieß? War er am Tod seiner Frau zerbrochen?

Bei diesem Gedanken war alles auf einen Schlag wieder da: Antonio. Der Schock. Die inneren Bilder. Der Schmerz. Die Verzweiflung. Sie spürte eine heftige Beklemmung. Oder war es das Gegenteil, war es eine plötzliche Entspannung? Sie fasste sich mit beiden Händen an Brust und Hals und atmete tief durch. War das Herz wirklich in Ordnung, wie ihr Hausarzt immer wieder versicherte? Gab es nicht doch so etwas wie gebrochene Herzen?

Allmählich ließ das bedrohliche Gefühl nach.

Oder war Björn an etwas anderem zerbrochen?, fragte sie sich weiter: am Tod seiner Geliebten? Denn dass zwischen ihm und Sue etwas lief – dass etwas gelaufen war –, das hatte ja ein Blinder gesehen. Das hatte sie auch dieser Polizistin gegenüber angedeutet, als die nach Spannungen zwischen den Eheleuten Björn und Fabienne gefragt hatte. Das war Ende letzter Woche gewesen, und damals ging es noch um die Vermisstmeldung. Es ging um das Motiv für Fabiennes Verschwinden und um die mögliche Suizidgefahr.

Heute war sie noch einmal befragt worden. Natürlich wurde dieser Inspektor Gsponer hellhörig, als sie ihm das von Sue und Björn sagte. Er hatte auch mit den Steffen-Brüdern gesprochen. Klar, denn nicht nur die Langlaufschule war betroffen, sondern durch Sues Tod auch das Hotel.

Franz Brongg, Sues Ehemann, war nicht im Kursbüro erschienen, aber das hatte sie nicht anders erwartet. Er hatte sich schon vor einem Jahr zusammen mit Sue für den Viertageskurs vom dreizehnten Dezember angemeldet. Nur war Sue, die ehrgeizigere Sportlerin, schon eine Woche früher gekommen, um sich einen Trainingsvorsprung zu verschaffen. Ab morgen hätten die beiden gemeinsam am Kurs teilgenommen. Franz hatte jetzt natürlich anderes zu tun, als bei ihr vorbeizukommen und sich vom Kurs abzu- melden.

Dafür war dieser Kauz vorbeigekommen.

Bloß um sich zu erkundigen, wer morgen die Skater-Einsteiger betreute! Danach hätte er doch irgendwann fragen können … Natürlich hatte er nicht wirklich gestört, eigentlich hatte sie sogar eine kurze Freude verspürt, als er auftauchte. Nein, es blieb dabei: Er war kein Don Juan. Aber er hatte einen schalkhaften Eulenblick. Und er hatte eine ziemlich tiefe, warme Stimme. Eine Stimme, die Vertrauen einflößte.

Dass er sich ein bisschen für sie interessierte, war nicht von der Hand zu weisen. Immerhin hatte er heute, während Carlos peinlicher Schweigeminute, ihren Blick gesucht. Und gerade eben, an der Theke, hatte er sie auch wieder so angeschaut. Sie musste zugeben: Das tat gut.

Vergiss es, Zara!, rief sie sich innerlich zur Räson, er ist definitiv nicht dein Typ.

Vielleicht war er aber ein Mann, dem sie sich anvertrauen konnte. Einer, dem sie ihre Geschichte erzählen konnte. Einer, der sie verstehen würde. Doch sie musste vorsichtig sein. Sie hatte sich schon mehr als einmal in einem Menschen getäuscht. Sie beschloss, Kauz erst einmal auf den Zahn zu fühlen.

Entschieden stand sie auf, schlüpfte in Windjacke und Schneestiefel und machte sich auf den Weg zum Galenblick.

*

Im Speicher war es wohlig warm. Draußen schneite es seit Stunden unaufhörlich. Endlich schien sich der seit Tagen versprochene Wetterumschlag einzustellen: zwei Tage Schneefall, mit Unterbrechungen, in denen ein paar Sonnenstunden zu erwarten waren. Danach eine stabile Schönwetterlage. Man durfte sich auf herrliches Langlaufwetter freuen, weit über das Wochenende hinaus.

Der im Ofen gebackene Flammkuchen mit Speck, Zwiebeln, viel Crème fraîche und etwas Kümmel hatte geschmeckt, der Walliser Riesling auch. Aus den Boxen erklang As Time Goes By. Die Old Harlem Ramblers waren zwar eine Altherrenband, aber der Sound gefiel Kauz, und er summte leise mit. Als Digestif hielt er ein Gläschen Heidelbeerlikör in der Hand. Im Windlicht brannte eine Bienenwachskerze. Sie spendete warmes, kaum flackerndes Licht, verbreitete einen feinen Duft und warf wunderliche Schatten. Max lag zu seinen Füßen und ließ sich den Kopf kraulen.

Kauz war jetzt schon gute zwei Wochen im Goms. Knapp drei weitere Wochen Gommer Winter standen ihm noch bevor, und die würde er auskosten.

In dieser Zeit würde er sich definitiv für einen Job entscheiden müssen: Zürich oder Wallis, das war die Frage. Er hatte sich vorgenommen, Senn erst am einunddreißigsten Dezember Bescheid zu geben, keinen Tag früher. Ihn so lange zappeln zu lassen, war seine persönliche kleine Rache. Sein damaliger direkter Vorgesetzter hatte ihn schließlich auch im Regen stehen lassen, als die Kommandantin ihn desavouierte. Wenn er sich für den Job in Zürich entschied, würde er seine Arbeit kurz nach Neujahr aufnehmen. Entschied er sich fürs Wallis, dann stand es ihm frei, die neue Stelle auch erst im Februar oder März anzutreten. Vieles sprach natürlich für Zürich, wo Kauz als Dienstchef Leib und Leben wieder sein altes Team führen würde. Das Polizeikorps war ihm vertraut wie eine Familie. Aber genau wie in einer Familie, in der es auch mal Zwist und Missgunst gab, war Kauz verletzt und gedemütigt worden. Die Wunden waren noch längst nicht verheilt. Da half auch die völlige Rehabilitierung nicht. Das Wallis dagegen würde einen kompletten Neuanfang bedeuten. Allerdings würde er kaum im Goms wohnen können. Sonst hätte er längst zugesagt. Sein Arbeitsort wäre Visp oder gar Sitten – höchstens noch Brig. Je nachdem würde er pendeln können oder eben nicht. Und wie man ihn als Üsserschwiizer im Wallis aufnehmen würde, war auch unsicher.

Wie ein Student, dem zwei Mädchen eine Entscheidungsfrist gesetzt hatten, schob Kauz die Sache vor sich her. Er sagte sich, dass die Ferien ja noch lange dauerten und sich die Entscheidung inzwischen ganz von selbst ergeben könnte.

Er nahm die Füße vom Tisch, stand von seinem improvisierten Schaukelstuhl auf und schlüpfte in die Schuhe. Das Glas in der Hand, Max neben sich, trat er vor den Speicher.

Die Flocken schwebten sanft vom Himmel.

Er animierte Max, der brav neben ihm saß, dazu herumzustöbern. Der ließ es sich nicht zweimal sagen und tollte, im Dunkeln nach Flocken schnappend, wie verrückt durch die Gasse. Was für ein Bild, wie der schwarze Hund durch den knöchelhohen Neuschnee preschte!

Kauz nahm den letzten Schluck Likör, ließ den wärmenden Trunk die Kehle hinunterrinnen. Er pfiff Max herbei und wartete, bis der Hund sein nasses Fell ausgeschüttelt hatte. Dann gingen sie beide zufrieden wieder hinein.

Bald war Bettzeit, und Kauz blies das Windlicht aus. Max wusste, was das bedeutete, und stürmte, als Kauz die Speichertür wieder öffnete, sofort die Außentreppe hoch.

Kurz vor dem Einschlafen fiel ihm noch ein, dass er mit Alain gar nicht vereinbart hatte, wann und wo er ihm seine Kamera übergeben solle. Er würde sie morgen also einfach mal mitnehmen. Vielleicht tauchte Gsponer ja im Hotel oder in der Langlaufschule auf. Er drehte den Kopf auf dem knisternden Kissen und schaute ins Dunkel hinaus. Die Sache mit den beiden toten Frauen versuchte er auf Abstand zu halten. Er hatte keine von beiden gekannt, und so ging ihm ihr Tod längst nicht so nahe wie im vergangenen Sommer der seines ermordeten Freundes Wendel Imfang. Sicher, es roch in beiden Fällen nach Mord. Aber er war für die Ermittlung nicht zuständig. Er war für gar nichts zuständig, diesmal wirklich nicht. Du hast Ferien, sagte er zu sich selbst, und damit basta!

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