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Montag, 10. Dezember

»Passt auf, Sportsfreunde!«, rief Carlo den Kursteilneh- mern zu. »Das Wetter spielt verrückt. Gestern war es, entschuldigt den Ausdruck: seikkwarä, die Loipen waren weich und matschig. Aber in der Nacht ist die Temperatur auf minus fünfzehn Grad gefallen. Die Loipen sind jetzt stellenweise vereist. Für den Unterricht gibt’s keine Probleme, hier im Umkreis der Schule sind sie perfekt präpariert. Aber wenn ihr am Nachmittag trainieren geht, passt bitte auf! Und geht auf keinen Fall auf die schwarze Rennloipe! – Habt ihr gehört?!«, doppelte er zur Sicherheit nach, denn nicht alle hörten zu, wenn er im Freien zu der siebzig-, achtzigköpfigen Gruppe sprach. »Geht nicht auf die schwarze Rennloipe, klar?! Nicht einmal die Topläufer. Am Baawaldschtuzz hat es schon dumme Unfälle gegeben. Geht heute also anderswo trainieren. Capito?«

Ein paar Aufmerksame nickten oder gaben mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie ihn gehört hatten.

»Gut, Sportsfreunde«, schloss Carlo. »Allen einen guten Tag!«

Es ist also nichts durchgesickert, dachte Kauz, sonst hätte er etwas gesagt. Kauz hatte von anderen Kursteilnehmern gehört, wie Carlo am Samstagabend die Gäste, die im Galenblick logierten, informierte: Die Skilehrerin Fabienne Bacher werde seit Mittwochnachmittag vermisst. Es gebe Anhaltspukte dafür, dass sie mit dem Zug weggefahren sei. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass sie zu Fuß unterwegs gewesen und vom Weg abgekommen oder dass ihr sonst etwas zugestoßen sei. Man habe sie deshalb bei der Polizei als vermisst gemeldet. Die Suchtrupps und Rettungskräfte täten alles, um sie zu finden. Björn würde seine Klasse weiterbetreuen, auch wenn er begreiflicherweise tief besorgt sei. Man solle aber bitte so viel Feingefühl haben, ihn nicht mit Fragen zu löchern. Das alles sagte Carlo, ohne dass Björn oder die anderen Skilehrer dabei waren. Die Gerüchte über einen Streit zwischen dem Paar hatte er nicht kommentiert.

Tatsächlich verstummten die Tuscheleien über Fabiennes Verschwinden allmählich, und Björn blieb von Fragen unbehelligt. Dies wiederum führte dazu, dass er aus freien Stücken zu reden begann. Vor allem sprach er mit den anderen Skilehrern, aber auch mit seiner Klasse und überhaupt mit allen, die ihm in der Mittagspause zuhören mochten. Das bekam Kauz mit, als er einmal in seiner Nähe stand.

»Ich mache mir selber enorme Vorwürfe«, hörte er ihn sagen. »Es stimmt, wir hatten am Mittwoch Streit«, »Ja, sie reagiert manchmal impulsiv«, »Nein, sie ist nicht depressiv«, »Ihr mache ich sicher keinen Vorwurf«, »Bestimmt taucht sie heute wieder auf« und ähnliche Dinge. Es war spürbar, dass er der Verzweiflung nahe war und dass er jede Gelegenheit nutzte, sich selbst zu erklären und damit auch ein bisschen zu entlasten.

Björn war der Instruktor der am weitesten fortgeschrittenen Skater. Die sogenannte Rennklasse bestand nur aus sechs Teilnehmern, alles routinierte Skater, die jedes Jahr mit ihm trainierten, um sich auf einen Wettkampf vorzubereiten. Björn selbst war ein ehemaliger Spitzenathlet, war sogar bei internationalen Wettkämpfen ganz vorne mitgelaufen, bis er seine Rennkarriere wegen einer Verletzung beenden musste. Er stammte aus der Üsserschwiiz, war von Beruf Elektroinstallateur, verbrachte aber jeden Winter als Langlauflehrer im Goms. Hier hatte er die Gommerin Fabienne Bacher kennengelernt. Sie waren seit vier Jahren liiert, seit einem halben Jahr verheiratet. Das junge Paar wohnte in Glis, wo beide ihren ursprünglichen Berufen nachgingen. Von Dezember bis März waren sie bei Steffen Sport angestellt und logierten bei Fabiennes Eltern in Münster.

Kauz warf einen Blick zu Björn hinüber, der eben seine neue Klasse begrüßte. Er versuchte, sich nicht vorzustellen, wie es Björn ergehen würde, wenn er die Nachricht vom Tod seiner Frau entgegennehmen musste. Denn dass es sich bei der Toten von der Enggä Briggä um Fabienne Bacher handelte, stand für Kauz so gut wie fest.

»Hallo, Kauz! Du gehörst doch zu uns, oder nicht?«, rief eine Stimme. Kauz drehte sich um. Da stand Nik und winkte mit dem Skistock.

»Ich komme!«, rief Kauz.

Er stand bereits auf seinen Skiern, stieß sich mit den Stöcken ab und gliederte sich bei seiner neuen Klasse der Fortgeschrittenen ein. Da die Skilehrer für jeden Kurs neu zugeteilt wurden, hatte Claire dieses Mal die Anfänger und Nik die Fortgeschrittenen. Kauz war es mehr als recht. Einzig bei der Rennklasse der Skater gab es keinen Wechsel, die wurde immer von Björn geleitet. Die meisten Gäste kamen in der Vorsaison für drei, vier Tage ins Goms, um sich in der Langlaufschule auf die Wintersaison vorzubereiten, und kehrten dann in der Hauptsaison für ein bis zwei Wochen zurück.

»Was hab ich gesagt?«, meinte Nik am Schluss des Vormittags zu Kauz. »Du läufst schon recht gut, dir fehlt einfach die Routine. Üben, üben, üben, heißt jetzt die Devise.«

Kauz ging nach dem Unterricht sofort in seinen Speicher. Gerade angekommen, klopfte es: Kriminalinspektor Gsponer stand vor der Tür. Er trug eine braune Wildlederjacke mit breitem Kragen, die er trotz der Kälte nicht zugeknöpft hatte. Üppiges Lammfellfutter quoll hervor. Seine Füße steckten in gefütterten Wildlederstiefeln mit Ziernähten. Er kam auch im Winter stets schick daher. In einem Mundwinkel glomm eine Zigarette, er grinste filmstarmäßig. Doch dann drückte er die Kippe aus, trat ein und wurde ernst. Kauz setzte sich mit ihm an den Küchentisch, und die Befragung konnte beginnen. Kauz führte ihm seine digitale Spiegelreflexkamera vor, Gsponer hatte einen Stick dabei, auf den sie die Fotos herunterluden. Dann gab er Gsponer einen Abriss seiner Suchaktion.

»Wenn wir dich brauchen, kommen wir auf dich zu, Kauz«, sagte der Kriminalinspektor, der seit dem Sommer ein Freund geworden war. »Und wenn du etwas für uns hast, melde dich bitte.«

Den Nachmittag verbrachte Kauz wieder auf der Loipe. Zwar langweilte es ihn bereits, ständig die gleichen Runden auf der kurzen Hundeloipe zu drehen, während alle andern das ganze Loipennetz zwischen Oberwald und Niederwald zur Verfügung hatten, aber so war das nun mal mit einem Hund. Die Loipe war stellenweise vereist. Wenn sie an diesen Stellen ein Gefälle aufwies, kam Kauz rasch in Schwierigkeiten. Einmal geriet er prompt in Rücklage. Wild mit den Stöcken fuchtelnd fiel er hin und schlug hart auf.

Glück gehabt, dachte er, als er sich hochrappelte. Wenn es hier richtig steil und eisig gewesen wäre, hätte es mehr als ein paar blaue Flecken am Hintern abgesetzt.

Mit den Loipen stand es wirklich nicht zum Besten, mit der Winterlandschaft auch nicht: Die Schneedecke war nach dem starken Regen zusammengesunken und jetzt durch die neuerliche Kälte hart und karstig. Bereits waren die Beschneiungsanlagen wieder in Betrieb, Kunst- und Echtschnee war am frühen Morgen auf den heiklen Stellen verteilt worden. Die meisten Langläufer waren mit den präparierten Loipen zufrieden. Aber wenn es nach Kauz gegangen wäre, so hätte es jetzt Neuschnee gegeben, schon allein der Optik wegen.

Auf dem Rückweg ging er wieder über Reckingen. Nik hatte gesagt, er brauche ein Schnellwachs, um die leicht strapazierten Skier zu pflegen. Bei Steffen Sport wurde er von Noldi bedient, der ihm drei Artikel zur Auswahl auf die Theke legte.

»Welchen empfiehlst du mir?«, fragte Kauz.

»Deer ischt güät«, erklärte Noldi lakonisch und tippte mit dem Mittelfinger auf eine von drei Dosen, die er auf den Ladentisch gelegt hatte. Damit war das Verkaufsgespräch beendet. Kauz zahlte, und Noldi verschwand in seiner Werkstatt. Kauz sah sich im Geschäft um.

»Kann ich behilflich sein?«, fragte, weder freundlich noch unfreundlich, eine Stimme in seinem Nacken.

Er blickte über die Schulter.

»Danke, Zara. Ich schau mich bloß um.«

»Ach so, du bist’s?«, machte sie. Sie sah ihn mit ihren etwas eng stehenden, braunen Augen unter kräftigen Brauen aufmerksam an, ohne eine Miene zu verziehen. »In Ordnung«, sagte sie und wandte sich wieder ab.

Was hat sie bloß?, fragte sich Kauz. Ist sie depressiv oder was? Irgendwie reizte es ihn, das herauszufinden.

Zara wirkte frisch geduscht, ihr Haar war noch etwas feucht. Vermutlich hatte sie ihre freie Zeit auf der Loipe verbracht und sich dann für die Nachmittagsschicht umgezogen. Sie ging ins Kursbüro hinüber, das mit dem Laden verbunden war, und stellte sich hinter der Theke an ihren Computer. Nur ganz kurz hob sie den Blick und sah ihn noch einmal an.

Kauz schaute auf die Uhr: vier Uhr nachmittags. Er überlegte, ob er den Zug nehmen oder mit Max zum Speicher spazieren sollte, da kamen Claire und Björn herein. Sie hatten wohl gerade die Privatlektionen beendet.

Claire kam auf ihn zu.

»Wie geht’s?«, fragte sie aufgeräumt. »Du bist ja jetzt bei Nik. Der ist prima, oder?«

»Das stimmt«, bestätigte Kauz. »Mir fehlen nur die frisch verschneiten Loipen.«

»Das kommt schon noch, keine Sorge. Für die nächsten Tage ist Schneefall angesagt. Du bleibst doch noch länger?«

Kauz nickte.

»Da kannst du dich freuen.«

»Salü«, sagte Björn, der jetzt hinzutrat. »Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht begrüßt. Ich bin Björn«, stellte er sich vor und streckte die Hand aus.

»Ich kenne dich natürlich«, lächelte Kauz und nahm die Hand des Skilehrers. Björn hatte einen kräftigen Händedruck, Kauz erwiderte ihn. »Ich heiße Kauz.«

»Kauz?«, fragte Björn zurück.

»Ja, Kauz. – Tut mir leid, das wegen Fabienne«, fuhr er fort. »Ich habe davon gehört, war letzte Woche schon da, weißt du.«

»Ich glaube, ich habe dich gesehen«, erwiderte Björn. »Ja, das ist schlimm«, nahm er die Bemerkung auf und erzählte ungefragt, wie Fabienne nach einem heftigen, aber in seinen Augen unbedeutenden Streit davongelaufen sei. So etwas sei schon oft vorgekommen, fuhr er fort und erging sich dann in weiteren Einzelheiten. Kauz hörte geduldig zu, bis Björn schließlich sagte: »Ich hoffe einfach, sie taucht heute wieder auf.«

»Klar«, murmelte Kauz. Er spürte einen Kloss im Hals.

»Also dann«, sagte Björn und nickte Claire und Kauz zu. Damit drehte er sich um und rief ins Kursbüro hinüber: »Zara, hast du Sue gesehen?«

»Ja, auf der Loipe. Sie trainiert wie wild.«

»Seit wann?«

»Seit etwa halb eins, schätze ich.«

Björn schaute auf die Uhr. »Seit mehr als drei Stunden? Nach der Doppelstunde am Vormittag? Sie übertreibt wirklich«, meinte er und sah kopfschüttelnd Claire an.

»Sie hat eben einen Riesenehrgeiz«, meinte die.

»Schon. Aber so baut sie ihre Form ab, nicht auf.«

»Sie hat gesagt, sie macht die ganze Tour«, hörte man Zara aus dem Kursbüro rufen.

Das würde heißen, dachte Kauz, nach Oberwald rauf, dann nach Niederwald runter und wieder zum Ausgangspunkt zurück. Das ist in etwa die Marathondistanz. Donnerwetter!

Fünf Stunden später, als Kauz eben den Abwasch gemacht hatte und sich die Hände trocknete, summte sein Handy.

»Du glaubst es nicht, Kauz«, rief Ria ins Telefon. »Schon wieder wird jemand in Reckingen vermisst. Und wieder eine junge Frau!«

»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, sagte Kauz. »Aber nicht noch einmal eine Skilehrerin, oder doch?«

»Nein, eine Kursteilnehmerin. Eine Top-Skaterin, heißt es. Da sie bei Dunkelheit noch nicht von der Loipe zurück war, schlug Carlo Steffen Alarm. Das wollte ich dir sagen, weil …«, sie sprach nicht weiter.

»Ja? Weil?«

»Weil es so merkwürdig ist. So … so …«

»So unwahrscheinlich? Gleich zwei vermisste junge Frauen aus dem gleichen Umfeld – da gebe ich dir recht. Duplizität der Ereignisse nennen das, glaube ich, die gescheiten Leute.«

»Dupli… was?«

»Duplizität. Das heißt, dass manchmal zwei gleiche, eher unwahrscheinliche Ereignisse gleichzeitig oder kurz hintereinander eintreffen. – Geht ihr sie suchen?«

»Die Rettungsleute sind schon unterwegs. Diesmal wissen wir ja, wo wir suchen müssen: auf der Loipe. Das ganze Loipennetz ist aber weit über hundert Kilometer lang! Sie fahren es jetzt mit zwei Snowmobilen ab. Das kann dauern.«

»Gibst du mir Bescheid, wenn ihr sie gefunden habt?«, fragte Kauz, obschon er wusste, dass Ria das eigentlich nicht durfte. »Und wenn ihr sie nicht findet, bitte auch.«

»Wieso? Ich …«

»Wieso hast du dann überhaupt angerufen?«, fragte er zurück. »Ich behalte es für mich, Ria, das weißt du doch genau.«

Ich Trottel, dachte er, kaum dass er die rote Taste gedrückt hatte. Jetzt muss ich aufbleiben. Oder ich werde mitten in der Nacht geweckt.

Er holte die Flasche mit dem Drahtbügelverschluss vom Regal und genehmigte sich einen Schluck Heidelbeerlikör. Frau Imfang, Wendels Mutter, hatte sie ihm wie immer in den Speicher gestellt, ehe er anreiste.

Für einen Augenblick dachte er an Zara.

Depressiv? Melancholisch veranlagt oder ganz einfach ein missmutiger Mensch?, fragte er sich. Er geriet nun selber in eine etwas melancholische Stimmung. Er tippte das Chopin-Album an, das er sich im letzten Sommer heruntergeladen hatte. Er wählte die Nocturnes und stellte auf »endlos«. Unter den wehmütigen, unbeschreiblich schönen Klängen, die der russische Pianist aus seinem Flügel zauberte, schlummerte er ein.

Geweckt wurde er um halb zwei Uhr morgens.

»Entschuldige, Chüzz«, sagte Ria. »Aber du wolltest es so.«

Kauz richtete sich auf. Er war sofort hellwach. »Hat man sie gefunden?«

»Ja.«

»Tot?«

»Ja.«

»Wo?«

»Am Baawaldschtuzz. Im Bannwald, weißt du. Eine sehr gefährliche Stelle auf …«

»… auf der Rennloipe, ich weiß.«

»Die kennst du?«, staunte Ria.

»Nein, aber Carlo hat am Morgen davor gewarnt. Deshalb weiß ich von der Stelle. Ein Unfall?«

»Sieht so aus, ja. Sie muss schrecklich gestürzt sein und hat sich dabei wohl mit dem eigenen Skistock verletzt. Oder ist in einen Ast hineingerast.«

»Hast du sie gesehen?«

»Nein. Ich weiß das von den Rettungsleuten. Die sagten, sie habe eine offene Verletzung an der Brust, ich weiß nicht, was genau. Es scheint, dass sie auf der Loipe verblutet ist.«

»Das ist ja furchtbar!«

Kauz musste an seinen eigenen Sturz auf der nur leicht abschüssigen, vereisten Loipe vom Nachmittag denken. Aber es erstaunte ihn doch, dass ein Sturz auf der Langlaufloipe tödlich ausgehen konnte.

»Weiß man mittlerweile mehr über den agT Enggi Briggä?«

»Ja, leider«, sagte Ria: »Es ist tatsächlich Fabienne Bacher. Sie wurde noch am späten Abend von Björn identifiziert.«

»Ach, der tut mir wirklich leid. – Wo ist sie? Beim Bestatter?«

»Nein, auf der Rechtsmedizin in Sitten.«

Die Rechtsmedizin hatte Kauz selbst kennengelernt. Er hatte mit Doktor Bivinelli im Sommer intensiven Kontakt gehabt.

»Und die zweite Tote?«

»Bivinelli hat noch am Baawaldschtuzz entschieden, dass sie auch auf die Rechtsmedizin müsse.«

»Heißt sie Sue?«, fragte Kauz.

»Woher weißt du das jetzt schon wieder?«, Ria klang etwas irritiert. »Ja, sie heißt Sue. Sue Brongg.«

»Ich habe gehört, wie Björn Zara heute Nachmittag nach einer Sue fragte. Der Name ist mir hängen geblieben. Es schien ihn zu wundern, dass sie noch nicht vom Training zurück war.«

»Björn? Hmm. Wirklich? Und wer ist Zara?«

»Die Frau von der Kursadministration.«

»Ach so, ja, stimmt. Hör zu, Chüzz«, sagte sie dann, »ich muss Schluss machen. Drei, vier Stunden Schlaf brauche ich schon noch, ehe es morgen weitergeht.«

Dienstag, 11. Dezember

Gegen halb acht Uhr morgens rollte Thomas neben das Bett seiner Frau, lehnte sich über die Bettkante und rüttelte sachte an ihrer Schulter: »Ria, du musst allmählich …«

Ria richtete sich abrupt auf. »Hab ich verschlafen?«, fragte sie und rieb sich die Augen. »Ist Emma schon auf? Heute ist Kitatag, oder nicht?«

»Nur mit der Ruhe«, meinte Thomas. »Mama ist schon mit ihr unterwegs. Und deine Leute wissen Bescheid, dass du später kommst. Du bist ja erst gegen halb drei ins Bett gekommen, oder?«

»Kann schon sein«, erwiderte sie, sprang aus dem Bett und huschte ins Badezimmer.

Thomas rollte in die Küche. Mit dem Geschick eines Artisten bewegte er sich in seinem Rollstuhl zwischen Anrichte, Kühlschrank und Küchentisch und deckte einhändig, die andere Hand am Rad seines Vehikels, Rias Frühstück auf. Die Küche war so umgebaut worden, dass er das meiste aus dem Rollstuhl erreichen und bedienen konnte. Als Ria fertig geduscht hatte, stand ihr Müesli mit selbstgeschrotetem Getreide, gehackten Nüssen und frisch geraffelten Äpfeln auf dem Tisch, daneben die Tasse mit dem dampfenden Cappuccino.

»Was war eigentlich los, heute Nacht?«, fragte Thomas, als Ria ihr Müesli löffelte. »Zwei Tote, eine in Münster und eine sonst irgendwo im Goms, habe ich das richtig mitgekriegt?«

Thomas hatte keine Hemmungen, Fragen zu stellen. Er wusste natürlich, dass seine Frau als Postenchef der Walliser Kantonspolizei Goms eigentlich nichts sagen durfte. Aber nachdem er im vergangenen Sommer als Computertüftler und IT-Freak die entscheidenden Hinweise zur Aufklärung des Mordfalls Imfang geliefert hatte, hatte Ria ihre Zurückhaltung abgelegt. Auch die Staatsanwältin, Kriminalinspektor Gsponer, Chefinspektor Fux und alle Kriminaltechniker hatten Thomas in den höchsten Tönen gelobt. Ria betrachtete ihren Mann deshalb fast als einen Berufskollegen, der wie sie der Schweigepflicht unterstand.

»Richtig«, bestätigte sie und wischte sich den Milchschaum von den Lippen. »Eine seit Mittwoch vermisste Langlaufinstruktorin wurde am Sonntagabend tot unter der Enggä Briggä bei Münster gefunden.«

»Fabienne Bacher, nicht wahr? Dass sie verschwunden ist, hat sich im ganzen Goms herumgesprochen. Das habe ich am Loipentreff gehört.«

»Das kann ich mir vorstellen. Die andere ist eine ambitionierte Langläuferin, die offenbar wie vergiftet trainierte. Sie ist gestern auf der Loipe tödlich gestürzt. Am Baawaldschtuzz

»Die Loipe war total vereist. Wer geht denn unter solchen Bedingungen auf die Rennloipe?!«

»Eben. Offenbar hat Carlo Steffen seine Schüler gestern sogar ausdrücklich davor gewarnt, die Baawald Loipe zu befahren. Das hat mir dr Chüzz erzählt. Die Frau hat sich nicht darum geschert – und jetzt ist sie tot«, seufzte Ria.

Thomas rieb sich die Stirn, dann ließ er die Hände sinken.

»Schrecklich«, sagte er. »Aber Unfälle passieren«, fuhr er fort. Seine Hände glitten über die im Rollstuhl festgezurrten gelähmten Beine.

Ria sah auf und warf ihm einen halb traurigen, halb vorwurfsvollen Blick zu. Mir brauchst du das nicht zu sagen, sollte der Blick wohl heißen.

»Noch einen Cappuccino?«, fragte Thomas rasch.

»Danke, Thomi. Nein, ich muss los«, sagte sie, stand vom Küchentisch auf und stellte ihr Geschirr in den Spültrog.

»Lass nur. Ich mache das«, sagte Thomas. », noch etwas: Stimmt es, dass dr Chüzz Fabiennes Leiche gefunden hat? Ist er irgendwie in den agT verwickelt?«

Wie ein Insider benützte er gern den Juristen- und Polizistenjargon. So auch das Kürzel agT.

Ria winkte ab. »Später«, sagte sie, schlüpfte in die dicke Uniformjacke, beugte sich über ihren Mann und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Dann setzte sie die Polizeimütze auf, warf einen Blick in den Wandspiegel, rückte die Mütze zurecht und ging aus der Wohnung.

Unter der Tür drehte sie sich kurz um. »Bis heute Abend«, rief sie. »Und gib der Kleinen einen Kuss von mir.«

»Klar«, sagte Thomas.

Thomas Abgottspon war einmal nahe daran gewesen, bei der Walliser Kantonspolizei als IT-Spezialist Karriere zu machen. Die Stelle in der Abteilung Wirtschafts- und Internetkriminalität war ihm schon zugesichert, denn er brachte als IT-Experte und mit einem Bachelor der Rechtswissenschaften die besten Voraussetzungen mit. Der Gleitschirmunfall machte ihm dann einen dicken Strich durch die Rechnung. Ria war kurz zuvor zum Postenchef ad interim befördert worden. Nur dank der Hilfe ihrer Mutter war es möglich, Beruf und Mutterrolle unter einen Hut zu bringen. Emma war mittlerweile vierjährig und wurde zweimal die Woche in die Kindertagesstätte gebracht. Vom Haushalt war Ria dispensiert, den besorgte Thomas zusammen mit Mama Ritz, die im Obergeschoss des Mehrfamilienhauses wohnte. Um die kleine Emma kümmerten sie sich alle drei.

Heute war Thomas fürs Aufräumen und Putzen zuständig, denn für Emma war gesorgt, und an den Tagen, an denen sie in der Kita war, bereitete Mama Ritz in der Regel das Abendessen für die Familie vor. Rias Mutter war nach Thomas’ Unfall mit dem nicht ganz pflegeleichten Ehemann nach Fiesch gezogen, um die junge Familie zu unterstützen. Das Familienhaus in Niederwald stand seither leer. Ria träumte davon, irgendwann wieder in Niederwald zu wohnen, aber einstweilen war daran nicht zu denken.

Als Ria gegangen war, räumte Thomas die Küche auf, staubsaugte die Wohnung und putzte anschließend das Badezimmer. Dann zog er seine Langlaufsachen an, fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage, in welcher der für ihn umgebaute Familienwagen stand, hievte sich ins geräumige Auto – sein Paraplegikerschlitten war schon darin verstaut – und fuhr los.

Es war kurz nach Mittag, als er auf dem Parkplatz von Steffen Sport ankam. Er stellte den Wagen auf einem für Paraplegiker reservierten Parkplatz gleich neben der Loipe ab. Ein Paar, das sich eben für den Langlauf bereitmachte, half ihm, aus dem Auto in den Schlitten umzusteigen. Sie schoben ihn auf die Loipe, und Thomas stieß sich mit kräftigen Stockstößen Richtung Münster.

Es herrschte kein ideales Langlaufwetter. Der Himmel war bedeckt, kein Sonnenstrahl drang durch die Wolkendecke, und nach Schneefall sah es auch nicht aus. Die Wettervorhersagen hatten wieder einmal danebengelegen. Doch die Loipen waren gut präpariert, und wenn man die steilen Stellen mied, gab es keine Probleme mit Vereisungen. In der Rottenebene schaute Thomas zur Enggä Briggä hinüber. Es hätte ihn gereizt, sich dort umzusehen, aber das war natürlich ausgeschlossen. In seinem Schlitten musste er sich strikt in der Spur der klassischen Loipe halten, sonst gab es für ihn kein Vorwärtskommen. Der Aufstieg nach Münster, für Langläufer mit gesunden Beinen keine große Sache, forderte ihn sehr. Knapp unterhalb des Dorfrands führte die Loipe wieder zum Rotten hinunter. Thomas fuhr weiter, über Geschinen hinaus Richtung Ulrichen. Beim Loipentreff, einer alten Militärbaracke, vor der ein paar Holztische und Bänke aufgestellt waren, machte er Halt und gesellte sich zu den Hartgesottenen, die im Freien Pause machten, statt sich in die geheizte Baracke zu setzen. Es waren drei einheimische Langläufer, zwei junge und ein älterer. Thomas kannte sie, und sie kannten ihn. Doch wurde bei der Begrüßung kein großes Aufheben gemacht.

»Salü«, sagte Thomas und sah kurz in die Runde.

»Salü«, erwiderte einer. Auch wer sich kannte, nannte bei der Begrüßung kaum je den Namen des andern. Salü, das musste genügen. Sprach man jedoch von einem, klatschte man über einen, dann konnte dessen Name gar nicht oft genug fallen.

»Soll ich dir etwas zu trinken holen?«, fragte ein anderer.

»Nein, danke, ich habe was dabei«, sagte Thomas und griff nach seiner Thermosflasche, die er im Schlitten verstaut hatte.

»Geets güät?«, fragte der erste.

»Güät«, bestätigte Thomas. »Und sälber?«

»Jaja. Güät«, lautete die Antwort, und damit war der Austausch von Höflichkeiten beendet.

»Chaalt hittä, gäll?«, meinte ein dritter.

»Äs geet. Chennti cheltär sii.«

»Weischt dü äppäs?«

»Was meenscht?«

»Ä, va denä zwei tootä Fröwwä.«

Ob er etwas von den zwei toten Frauen wisse, war die Frage. Da er der Ehemann der obersten Polizistin im Goms war, müsste er doch mehr wissen …

»Was denn für Frauen?«, stellte sich Thomas dumm. Er wisse nur, dass Ria die halbe Nacht auf gewesen war.

Es wüssten doch alle, dass die vermisste Fabienne Bacher tot aufgefunden worden sei. Unten, bei der Enggä Briggä. Nicht erfroren, sondern verblutet. Das habe der Imwinkelried Ruedi gesagt, der beim Loipendienst arbeite.

Die drei kamen jetzt richtig in Fahrt mit dem Doorffä. Der Imwinkelried Ruedi habe in der Nacht vom Sonntag die Polizisten auf seinem Schneemobil zur Brücke gefahren. Er habe gehört, die Frau sei an Hals und Brust verletzt gewesen und wohl verblutet. Das Verrückte sei, dass auch die andere tote Frau, eine Langläuferin aus der Üsserschwiiz, die man vergangene Nacht am Baawaldschtuzz tot aufgefunden habe, eine Verletzung in der Brustregion aufgewiesen habe und daran verblutet sei. Auch das habe der Imwinkelried Ruedi gesagt, der habe nämlich auch gestern Nacht mit der Rettungskolonne ausrücken müssen. »Das gibt’s doch nicht!«, habe der Rechtsmediziner gerufen, »schon wieder so eine Verletzung!«, so etwas habe er noch nie erlebt. Ob er, Thomas, sagen könne, ob eine der Frauen oder vielleicht beide ermordet wurden?

»Keine Ahnung«, sagte Thomas. »Ich wusste nicht einmal etwas von diesen Verletzungen. Nur, dass man zwei tote Frauen gefunden hat, das wusste ich.«

Heute Abend weiß ich mehr, dachte er, und machte sich auf den Heimweg.

»Ade!«, rief er den andern zu und fuhr wieder los.

Wieder zu Hause, erfuhr er am Abend tatsächlich mehr: Laut Gerichtsmediziner seien Unfälle zwar nicht ausgeschlossen, aber genauso viel deute darauf hin, dass die Frauen umgebracht wurden.

»Hat Alain Gsponer gesagt«, so lautete Rias Rapport, als die kleine Emma endlich im Bett war.

Mama Ritz hatte für die kleine Familie das Abendessen zubereitet. Sie setzte sich aber nicht mit ihnen an den Tisch. Die Hälfte der Mahlzeit trug sie in einem Geschirr ins Obergeschoss. Ihr nicht ganz pflegeleichter Ehemann bestand darauf, gemeinsam mit ihr zu essen, und außerdem sollte die junge Familie auch ein Eigenleben haben.

»Tee?«, fragte Ria und setzte schon das Wasser auf.

»Ja«, sagte Thomas, »aber keinen Verveine.«

»Weiß ich doch«, sagte sie, goss sich selber einen Verveine- und ihm einen Abendkräutertee auf. »Dafür mit Honig, oder?«

Sie ging zur Sitzgruppe hinüber, stellte die Tassen aufs Beistelltischchen, ließ sich aufs Sofa fallen und fläzte sich hin.

Thomas rollte neben sie.

»Und was ist mit dem Chüzz?«, fragte er.

»Der hat die Leiche von Fabienne Bacher bei der Enggä Briggä gefunden.« Sie erzählte ihm die Geschichte von seinen Schwarz-Weiß-Fotos. »Hätte er sie nicht entdeckt, so hätten wir jetzt nur eine Tote – und würden wahrscheinlich von einem spektakulären Unfall ausgehen. Aber gleich zwei Frauen mit offenen Verletzungen an Hals und Brust und beide in der Kälte verblutet oder am eigenen Blut erstickt, das war für den Rechtsmediziner und auch für den Kriminalinspektor eine zu seltsame Duplizität der Ereignisse.«

Den Terminus, den Kauz gebraucht hatte, hatte sie gegoogelt.

»Eine was?«, fragte Thomas.

»Duplizität der Ereignisse.«

»Ach so«, lachte Thomas. »Du meinst, wenn etwas gleich zweimal passiert?«

»Zwei gleiche oder ähnliche, eher außergewöhnliche Ereignisse, gleichzeitig oder kurz hintereinander«, dozierte Ria.

»Eben. Und wie geht’s jetzt weiter?«

»Ermittelt wird in alle Richtungen: Unfall, bei Fabienne auch Suizid, und Mord. Die Leichen wurden heute auf die Rechtsmedizin nach Bern gebracht. Die untersuchen nicht nur die Todesursache, sondern auch die Natur der Verletzungen. Die Forensiker finden schon raus, ob die selbst beigebracht wurden, ob sie von einem Sturz in den eigenen Stock oder einem Ast herrühren oder ob sie von einem Dritten zugefügt wurden.«

»Klar finden die das raus«, meinte Thomas, der Computertüftler. »Mit 3D-Röntgen- und Computeraufnahmen von der Leiche, von den Verletzungen, von den Holzstöcken oder Ästen. Aber sag mal, wissen die Angehörigen Bescheid?«

»Die von Fabienne schon.«

Björn und die Eltern Bacher hatten die Tote noch am späten Montagabend auf der Rechtsmedizin in Sitten identifizieren müssen. Kurz danach wurde die Leiche von Sue Brongg gebracht. Doch wer sollte die identifizieren? Den Teilnehmern ihrer Rennklasse konnte man das wohl kaum zumuten. Sue war die letzten zehn Tage allein im Hotel Galenblick einquartiert gewesen. Björn, ihr Klassenlehrer, kannte sie von allen am besten, er trainierte sie schon die längste Zeit, ihn musste man wohl oder übel mit der Identifizierung beauftragen.

»Himmel noch mal!«, rief Thomas. »Björn wird nachts von Münster nach Sitten gerufen, um seine tote Frau zu identifizieren, fährt dann wieder nach Münster zurück – und wird in derselben Nacht noch mal nach Sitten zitiert, um eine Tote aus seiner Rennklasse zu identifizieren?! Was für eine Zumutung!«

»Das war tatsächlich zu viel für ihn«, gab Ria betreten zu. »Aber die Sache war etwas anders.«

Björn war in Tränen ausgebrochen, als der Rechtsmediziner das Leichentuch zurückschlug und seine tote Frau vor ihm lag. Dann fasste er sich wieder und kümmerte sich um die untröstlichen Schwiegereltern. Es war mittlerweile Nacht geworden, die drei beschlossen deshalb, nicht nach Münster zurückzufahren, sondern in Fabiennes und Björns Wohnung in Glis zu übernachten, um die Tote am nächsten Morgen nochmals besuchen zu können. Vielleicht ließen sich die Rechtsmediziner von Björns äußerlich gefasster Haltung täuschen. Und so fragte ihn am nächsten Morgen Bivinellis Assistentin, ob er auch die vermisste Langlaufschülerin identifizieren könne.

»Ist sie denn wieder aufgetaucht?«, fragte er zurück.

Irgendwie hatte er die Frage missverstanden. Es überstieg wohl seine Vorstellungskraft, dass er nochmals eine Tote identifizieren sollte. Er hatte am Vorabend selbst noch die Rettungskolonne alarmiert, als Sue gegen Abend nicht vom Training zurück war. Da wusste er noch nichts vom Tod seiner Frau.

Mittlerweile hatte man ihn schon in einen benachbarten Raum geführt.

»Nein, sie ist nicht aufgetaucht«, sagte die Assistentin. »Die Rettungskolonne hat sie gefunden. Am Baawaldschtuzz. Können Sie …«, und damit schlug sie das zweite Leichentuch zurück.

Björn sah den Leichnam und erstarrte.

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