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„GEFAHREN WARTEN NUR AUF JENE, DIE NICHT AUF DAS LEBEN REAGIEREN“

Den berühmt gewordenen Rat des mit seiner Frau Raissa zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 angereisten sowjetischen Partei- und Staatschefs Michail Gorbatschow mutet Erich Honeckers Dolmetscher diesem zunächst nur in einer nebulösen Übersetzung zu: „Ich halte es für wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.“ Helmut Ettinger, Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch, der in jener Begegnung Honeckers Part übersetzt hat, erinnert sich: „Gorbatschow sagte auf Russisch eindeutig ‚zu spät kommen‘, der Dolmetscher suchte nach dem richtigen Wort und kam nach einer Pause auf ‚zurückbleiben‘. Mir schien das unklar, und da ich in den Gesichtern mehrerer Zuhörer Ratlosigkeit sah, musste ich eingreifen und fasste den letzten Satz etwas allgemeiner mit den Worten zusammen: ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‘.“55

Doch SED-Chef Honecker blendet Rat und Realität im strahlend illuminierten Palast der Republik völlig aus, spricht in seiner Rede von der DDR als einem „Grundpfeiler der Stabilität und Sicherheit in Europa“ und „Wellenbrecher gegen Neonazismus und Chauvinismus“.56 „Die These von der angeblich offenen deutschen Frage wird lauter vorgebracht als früher“, klagt er. „Die Neubelebung der Alleinvertretungsanmaßung der 50er und 60er Jahre gipfelt in der sogenannten Obhutspflicht für alle Deutsche“, empört er sich, wohl wissend, dass in Budapest, Prag und Warschau gerade Tausende von DDR-Bewohnern dankbar von ihr Gebrauch machen. Was mag Honecker meinen, wenn er einen Toast „auf das Glück aller Völker“ ausbringt, während draußen die Sicherheitskräfte gegen Tausende von Demonstranten in Stellung gehen? Deren Rufe „Gorbi, hilf uns!“ und „Wir sind das Volk!“ sind im Palast der Republik auch vom jenseitigen Spreeufer laut und deutlich vernehmbar.


7. Oktober 1989: Honecker empfängt Gorbatschow am Flughafen Berlin-Schönefeld.

Am Alexanderplatz wächst der Protestzug auf 7.000 Demonstranten an und zieht über die Schönhauser Allee zur Gethsemanekirche im Bezirk Prenzlauer Berg, vor deren Kirchenportal Hunderte Kerzen für die willkürlich inhaftierten Demonstranten in Leipzig, Potsdam und Berlin brennen. Um 21 Uhr riegeln Einheiten der Volkspolizei und der Staatssicherheit die Gegend hermetisch ab, fahren mit vergitterten Lastwagen und Wasserwerfern auf, gehen mit Gewalt gegen die Demonstranten vor und verhaften über 1.000 von ihnen; vielen glückt die Flucht in die Gethsemanekirche. Elf Tage später, am 18. Oktober, drängt das Politbüro Erich Honecker zum Rücktritt als Vorsitzender des Staatsrats der DDR und Generalsekretär der SED und ersetzt ihn durch Egon Krenz.

„… DAMIT DER FRIEDLICHE DIALOG MÖGLICH WIRD. ES SPRACH KURT MASUR“

Seit dem 4. September kommt es überall in der DDR zu „Montagsdemonstrationen“, in Plauen, Leipzig, Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Arnstadt, Rostock, Potsdam und Schwerin. Trotz Angst vor Gewalt, persönlichen Nachteilen und drohender Verhaftung gehen die Menschen zu Tausenden auf die Straße, sagen offen ihre Meinung und schreiben ihre Forderungen auf Plakate. Über 3.500 Protestaktionen gibt es in den neun Monaten zwischen August 1989 und April 1990. In Plauen machen 20.000 Demonstranten, mehr als ein Viertel der Stadtbevölkerung, am 7. Oktober, dem „Tag der Republik“, den Anfang. Es ist die erste Massendemonstration in der DDR, die nicht von den zum Teil mit Maschinenpistolen bewaffneten Sicherheitskräften aufgelöst werden kann. An diese Vorreiterrolle erinnern der örtliche Gedenktag, der „Tag der Demokratie“, und das am 7. Oktober 2010 eingeweihte „Wende-Denkmal“, ein fast vier Meter hohes Kunstwerk in Form einer bronzenen Kerze.57

In Leipzig ist die Nikolaikirche einer der Ausgangspunkte der Friedlichen Revolution. Seit Oktober 1980 wirkt der Pastorensohn Christian Führer als Gemeindepfarrer im ältesten und größten Gotteshaus der Messestadt. „Nikolaikirche – offen für alle“ steht auf einem Schild am Haupteingang: Wer an seinen 1982 ins Leben gerufenen Friedensgebeten montags um 17 Uhr teilnehmen möchte, ist ihm willkommen, ob Christ oder nicht; der Termin ist geschickt gewählt: nach Feierabend, vor Ladenschluss und zeitgleich mit den SED-Parteiversammlungen in den Betriebsparteiorganisationen. Der Protestant wird zu einem der wichtigsten Wortführer der Friedlichen Revolution in der DDR, die Nikolaikirche zu einer Insel der Opposition. „Keine Gewalt!“, für Führer „die kürzeste Zusammenfassung der Bergpredigt“, wird zur zentralen Losung, die im Herbst 1989 von Leipzig aus auf die gesamte DDR ausgreift.

Der DDR-Führung sind Führers Friedensgebete ein Dorn im Auge, sie übt massiven Druck aus, um sie zu unterbinden. Mehr als ein Dutzend Spitzel setzt die Staatssicherheit auf ihn an, dennoch überwindet Führer seine Angst und bietet dem Regime die Stirn. Die Westmedien müssen draußen bleiben: „Die Journalisten akzeptierten meine Bitte stets ohne Murren, vor allem wenn sie meine Begründung hörten“, sagt Pastor Führer.58 „‚Was wir dem Staat der DDR zu sagen haben, das sagen wir ihm nicht über ARD, ZDF und Deutschlandfunk. Das sagen wir ihm ins Gesicht‘, erklärte ich. Die Knopflochtechnik von Geheimdiensten interessierte mich nicht. Wenn der Staat seinen Verstand vor lauter Hass auf uns nicht ganz ausschaltete, dann konnte er an solchen Maßnahmen vor allem eines erkennen: Wir waren ansprechbar. Wir waren nicht falsch und agierten nicht hinter seinem Rücken. Was er von uns an Kritik zu hören bekam, das war nicht vordergründig und schon gar nicht auf Effekthascherei aus.“

„Die Lage ist so, Genosse Minister, nachdem jetzt acht Wochen Pause war, findet jetzt zur Messe am 4. September um 17.00 Uhr das erste Mal wieder dieses operativ relevante ‚Friedensgebet‘ statt“, berichtet der Leiter der Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Generalleutnant Manfred Hummitzsch, am 31. August auf einer Dienstkonferenz bei Stasi-Minister Mielke.59 „Die Lage wird kompliziert sein, aber ich denke, wir beherrschen sie.“ Nach dem Friedensgebet strömen die Menschen aus dem Gotteshaus. Vor der Kirchentür entrollen Gesine Oltmanns und Katrin Hattenhauer ein Bettlaken, darauf haben sie geschrieben: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“. Sofort stürzen sich Stasi-Mitarbeiter auf die jungen Frauen: „Vor uns positionierten sich durchtrainierte junge Kerle in Zivil, solche 1,90-Leute, die rannten auf uns zu und rissen uns mit einer unheimlichen Aggressivität die Plakate runter“, erinnert sich Gesine Oltmanns.60

Horst Hano, ARD-Korrespondent in Ost-Berlin, berichtet live für die „Tagesschau“.61 Während der Messe darf er aus Leipzig senden, außerhalb der Messezeiten ist die Pleißestadt für westliche Medien dagegen gesperrt. Vor laufender Kamera reißen die Stasi-Mitarbeiter die Transparente herunter und versuchen, die Demonstration aufzulösen. „Stasi raus!“ skandieren die einen, „Wir wollen raus!“ die anderen. Neu an diesem Abend ist jedoch der Ruf „Wir bleiben hier!“. Von nun an demonstrieren „Ausreiser“ und „Hierbleiber“ montags gemeinsam für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn auch mit unterschiedlichen Motiven. Und es werden immer mehr, 20.000 Demonstranten am 2. Oktober, über 70.000 Teilnehmer in der Woche darauf.

Am 9. Oktober marschieren 8.000 Polizisten, Kampfgruppenmitglieder und NVA-Soldaten in der Leipziger Innenstadt auf, die Krankenhäuser haben sich mit zusätzlichen Blutkonserven bevorratet, deren medizinisches Personal ist zur Nachtschicht zwangsverpflichtet. Die Gefahr einer „chinesischen Lösung“ wie auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz vier Monate zuvor liegt drohend über der Stadt. Drei Stunden vor dem Friedensgebet strömen 600 abkommandierte SED-Genossen und MfS-Mitarbeiter in die Nikolaikirche, um die Kirchenbänke zu besetzen. Führer heißt auch sie willkommen: „Ich habe es immer positiv gesehen, dass die zahlreichen Stasi-Leute Montag für Montag die Seligpreisungen der Bergpredigt hörten“, sagt er später.62

Hier wie in den übrigen Kirchen in der Innenstadt wird abschließend der „Aufruf der Leipziger 6“ verlesen: „Die Leipziger Bürger Professor Kurt Masur, Pfarrer Dr. Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel wenden sich mit folgendem Aufruf an alle Leipziger: Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach Kurt Masur.“63

Nach 18 Uhr wird der Appell mehrfach über die an öffentlichen Gebäuden und zentralen Plätzen angebrachten 200 Lautsprecher des Stadtfunks gesendet, und er verfehlt seine Wirkung ebenso wenig wie die Parolen auf den Straßen: „Wir sind das Volk!“, „Keine Gewalt!“. Nicht nur die 100.000 Demonstranten, auch die von der gewaltigen Teilnehmerzahl überraschten Sicherheitskräfte reagieren besonnen und verhalten sich friedlich. „Keine aktiven Handlungen gegen Personen unternehmen, wenn keine staatsfeindlichen Aktivitäten und Angriffe auf Sicherheitskräfte, Objekte und Einrichtungen erfolgen“, weisen der amtierende Erste Sekretär der Leipziger SED-Bezirksleitung Helmut Hackenberg und Polizeipräsident Generalmajor Gerhard Straßenburg die Sicherheitskräfte an.64 Gegen 20 Uhr ist die Demonstration beendet und die Macht des SED-Regimes gebrochen. Dieser 9. Oktober in Leipzig, an dem die Staatsmacht vor der schieren Masse der friedlichen Demonstranten kapituliert, schafft erst die Voraussetzungen für die am 9. November errungene Öffnung der Mauer in Berlin.

„MIT DEM KLUGEN VOLK DER DDR EIN DEMOKRATISCHES LAND AUFBAUEN“

Die Alexanderplatz-Demonstration ist ein Meilenstein der Friedlichen Revolution; Hunderttausende folgen dem Aufruf von Künstlern der Berliner Theater und Kulturschaffenden, sich am 4. November im Zentrum von Ost-Berlin zu versammeln, um friedlich für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu demonstrieren. Das DDR-Fernsehen überträgt live. „Ich hatte zunächst große Angst“, erinnert sich der Wittenberger Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer.65 „Zum einen, weil ich nicht wusste, wie viele Menschen kommen würden. Zum anderen, weil ich befürchtete, dass die Stasi-Leute Gewalt provozieren würden.“ Doch Prügelszenen wie vier Wochen zuvor in Leipzig bleiben aus. „Die Demo wurde zu einem politischen Volksfest“, sagt Schorlemmer.66 „Es war für mich ein Tag der Freiheit, den ich nie vergesse.“ Die Demonstranten haben viele Anliegen, allen voran freie Wahlen, Presse- und Reisefreiheit, von der Deutschen Einheit ist noch keine Rede: „Die stand überhaupt nicht auf der Agenda“, blickt der Prediger an der Wittenberger Schlosskirche zurück.67 „Wir wollten ein anderes Land aufbauen, wir wollten eine grundlegende Veränderung der DDR.“


4. November 1989: Alexanderplatz-Demonstration, erste nichtstaatliche Demo in der DDR

Unter den 26 Rednern, die auf der gut dreistündigen Abschlusskundgebung zu den Demonstranten sprechen, sind Autoren wie Christa Wolf und Stefan Heym, Schauspieler wie Ulrich Mühe und Jan Josef Liefers und Bürgerrechtler wie Marianne Birthler von der Initiative Frieden und Menschenrechte und Jens Reich vom Neuen Forum; dem von Bärbel Bohley eingeladenen Wolf Biermann verweigern die DDR-Grenzer am Sektorenübergang Friedrichstraße die Einreise. Auch Repräsentanten der alten Ordnung möchten sich als Reformer präsentieren, doch weder den SED-Vertretern Gregor Gysi, Lothar Bisky und Günter Schabowski, geschweige denn Ex-Spionage-Chef Markus Wolf nehmen die Demonstranten kreideweiche Stimme und Schafspelz ab: „Sie wurden lautstark ausgepfiffen, die müssen in einer völlig verklärten Welt gelebt haben“, erinnert sich der Bürgerrechtler Siegbert Schefke.68 Am 9. Oktober hatte der Fernsehjournalist vom Turm der Evangelisch-reformierten Kirche in Leipzig heimlich die entscheidende Montagsdemonstration gefilmt und die Kassette dem Spiegel-Korrespondenten Ulrich Schwarz zugesteckt. Dieser hatte sie aus der DDR geschmuggelt und der „Tagesschau“ damit die Ausstrahlung der spektakulären Aufnahmen ermöglicht. Keine vier Wochen später blamieren sich die SED-Vertreter auf dem Berliner „Fest der Demokratie“ (Jens Reich) bis auf die Knochen: „Sie wurden vor den Fernsehaugen von der Bühne gelacht“, erinnert sich Schorlemmer.69 „Nie habe ich mich mit der DDR so identisch gefühlt wie an diesem Tag. Ich dachte, wir können mit dem klugen Volk der DDR ein demokratisches, ein freies Land aufbauen.“

LETZTES FAUSTPFAND DER DDR-FÜHRUNG

Die dem Politbüro am 31. Oktober vom Chef der Zentralen Plankommission der DDR, Gerhard Schürer, vorgetragene geheime „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ ist ein Weckruf. Daran mitgewirkt haben Außenhandelsminister Gerhard Beil, der stellvertretende Direktor der DDR-Staatsbank Edgar Most und der Leiter des geheimen Bereichs für Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel Alexander Schalck-Golodkowski. „Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen“, referiert Schürer.70 „Dieses Papier hatte einen Zweck“, erinnert sich Co-Autor Edgar Most.71 „Wir wollten Egon Krenz Druck machen und ihm vermitteln, dass wir völlig neu denken müssen.“ Die von Schürer präsentierten Zahlen korrigiert dieser 1990 selbst: „Die Auslandsverschuldung der DDR war mit 20,3 Milliarden DM um mehr als die Hälfte niedriger, als wir im Oktober 1989 ausgewiesen haben.“72

Am folgenden Tag macht Krenz seinen Antrittsbesuch bei Michail Gorbatschow: „Ich habe ihn an die Verantwortung der Sowjetunion erinnert, schließlich war die DDR ein Kind der UdSSR“, blickt Krenz im Sommer 2019 zurück.73 „‚Michail Sergejewitsch, sag’ mir bitte: Steht ihr zu eurer Vaterschaft?‘ Erst tat er so, als habe er mich nicht verstanden, dann antwortete er mit fast vorwurfsvollem Unterton: ‚Egon, wie kannst du nur so was denken! Nach den Völkern der Sowjetunion ist uns das Volk der Deutschen Demokratischen Republik das liebste.‘“

Konkrete Hilfe erhofft sich die DDR-Führung jedoch eher von der christlich-liberalen Bundesregierung in Bonn. Um die Bonner Koalition für neue Kredite zu gewinnen, empfehlen die vier Analyseautoren Schürer, Beil, Most und Schalck-Golodkowski der DDR-Führung eine mutige Gegenleistung: „Um der BRD den ernsthaften Willen der DDR zu unseren Vorschlägen bewusst zu machen, ist zu erklären, dass durch diese und weitergehende Maßnahmen der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit DDR-BRD noch in diesem Jahrhundert solche Bedingungen geschaffen werden könnten, die heute existierende Form der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten überflüssig zu machen.“74

Am 6. November fährt Schalck-Golodkowski nach Bonn. Sechs Jahre zuvor hatte der MfS-Oberst mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit ausgehandelt, der die DDR vor dem Staatsbankrott bewahrt hatte. Nun soll er den CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters informell um einen Kredit über 13 Milliarden DM bitten und dafür weitere Lockerungen der Reisebeschränkungen in Aussicht stellen. Darüber hinaus soll sich die Bundesregierung kurzfristig an der Finanzierung des mit dem beabsichtigten Reisegesetz zu erwartenden ansteigenden Reiseverkehrs beteiligen; 3,8 Milliarden DM jährlich erhofft sich die DDR-Führung aus diesem Deal.

„Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren“, sagt Bundeskanzler Helmut Kohl am 8. November vor dem Bundestag in seinem – ohne es zu wissen – letzten „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“.75 „Aber wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird. Die SED muss auf ihr Machtmonopol verzichten, muss unabhängige Parteien zulassen und freie Wahlen verbindlich zusichern. Unter dieser Voraussetzung bin ich auch bereit, über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen.“ Am Tage darauf schlagen die Demonstranten in der DDR dem SED-Regime dessen letztes Faustpfand für Verhandlungen mit der Bundesregierung aus der Hand. „Das Volk ist der Führung praktisch zuvorgekommen“, sagt Schalck-Golodkowski später resigniert.76

„… NACH MEINER KENNTNIS … IST DAS SOFORT, UNVERZÜGLICH“

Seit dem Rücktritt Erich Honeckers am 18. Oktober reagiert die DDR-Führung zunehmend kopf- und orientierungslos auf die sich im Land vollziehenden Umwälzungen. „Euch ist ja bekannt, dass es ein Problem gibt, das uns alle belastet, die Frage der Ausreisen“, eröffnet Generalsekretär Egon Krenz am 9. November den zweiten Sitzungstag der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED.77 „Was wir auch machen in dieser Situation, wir machen einen falschen Schritt.“ Welche Wirkung der nach kleinen stilistischen Korrekturen vom ZK abgenickte nächste Schritt, die Verkündung der „Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR“, entfalten wird, übersteigt allerdings die Fantasie sämtlicher 213 Tagungsteilnehmer. „Der Genosse Schabowski wird wieder, wie gestern Abend, Fragen der internationalen Presse zu beantworten haben“, kündigt Krenz an.78 „Die Konferenz ist zu 18 Uhr einberufen. Ich denke, wir sollten ihn auch befreien, selbst wenn wir die Diskussion nachher weiterführen. Es wird sicherlich sehr viele Fragen geben zu unserer Parteikonferenz.“

Eine knappe Stunde schleppt sich die von Fernsehen und Hörfunk live übertragene Pressekonferenz mit Politbüromitglied Günter Schabowski an diesem 9. November nun schon dahin, als der Journalist Riccardo Ehrman von der italienischen Nachrichtenagentur Ansa schließlich nach den neuen Reisebestimmungen fragt – und jetzt, um 18.54 Uhr, wartet Schabowski unwissentlich mit der Sensation auf: Wie geistesabwesend liest er lässig-nuschelnd von einem Blatt ab, das ihm SED-Generalsekretär Krenz nachmittags am Rande der ZK-Sitzung zugesteckt hat. Hier war die vom Leiter des Pass- und Meldewesens im Innenministerium Gerhard Lauter morgens zu Papier gebrachte neue Reiseregelung unbeanstandet durchgewinkt worden. Keiner der Sitzungsteilnehmer begreift die Tragweite, und Schabowski fehlt bei der Erörterung dieses Tagesordnungspunktes, er kennt weder den Inhalt noch die Sperrfrist „10. November, 4 Uhr“. „Verlesen Text Reiseregelung“ notiert er sich für die bevorstehende Pressekonferenz handschriftlich auf seinem Zettel, der an diesem Abend Weltgeschichte machen wird.


9. November 1989: Die Friedliche Revolution zwingt die SED-Diktatur in die Knie.

„Der Ministerrat der DDR hat beschlossen: Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden“, liest Schabowski monoton vor.79 „Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt. Es werden auch Visa zur ständigen Ausreise erteilt, die Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise Berlin-West erfolgen.“ Die Journalisten im Saal sind sprachlos, der aus Hamburg angereiste „Bild“-Reporter Peter Brinkmann hakt nach und ruft: „Ab sofort?“ Schabowski dreht und wendet seinen Zettel: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ – „Gilt das auch für West-Berlin?“ Wieder guckt Schabowski unschlüssig in seine Papiere: „Also, doch, doch: Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen.“

Bundeskanzler Helmut Kohl erfährt beim Staatsbankett im ehemaligen Palais der Fürsten von Radziwill von den Ereignissen in Berlin. Es ist sein erster Abend in Warschau, fünf Tage sind für diesen wichtigen Staatsbesuch bei Tadeusz Mazowiecki, Polens erstem nichtkommunistischen Regierungschef, angesetzt. „Es war eine höchst feierliche Stimmung“, erinnert sich Ursula Lehr, damals Bundesministerin für Familie und Gesundheit und Mitglied der 70-köpfigen deutschen Delegation, an den Abend.80 „Plötzlich ging ein Raunen durch den Raum. Es hieß: Die Mauer ist gefallen! Doch während des Dinners kannte niemand die Details.“ Kohl bekommt nun ständig Nachrichten zugesteckt, „jeder war froh, als das Essen endlich vorbei war“, sagt Lehr.81 Schließlich kommt ein Telefonat mit dem Kanzleramt in Bonn zustande: „Herr Doktor Kohl, halten Sie sich fest, die DDR-Leute machen die Mauer auf“, berichtet dessen Vertrauter Eduard Ackermann.82 „Sind Sie sicher, Ackermann?“, fragt Kohl zurück. „Das Fernsehen überträgt live aus Berlin, ich kann es mit eigenen Augen sehen.“ – „Das ist ja unfassbar!“ Abbrechen kann der Bundeskanzler seinen Staatsbesuch nicht: „Zu viel ist in den Besuch in Warschau investiert worden“, schreibt Kohls engster Berater Horst Teltschik später.83 „Zu viel hängt davon ab für das künftige deutsch-polnische Verhältnis.“ Und so entscheidet sich die deutsche Delegation schließlich, den Staatsbesuch lediglich für einen Tag zu unterbrechen.

Die am Zentralinstitut für Physikalische Chemie in Berlin-Adlershof tätige Physikerin Angela Merkel hat Schabowskis Pressekonferenz zu Hause am Prenzlauer Berg im Fernsehen gesehen und sofort ihre Mutter Herlind Kasner im brandenburgischen Templin angerufen: „Mama, wenn die Mauer fällt, dann gehen wir in West-Berlin im Kempinski Austern essen!“84 Doch zunächst geht Merkel wie an jedem Donnerstag mit einer Freundin in die Sauna im Schwimmbad des Ernst-Thälmann-Parks und anschließend in die Kneipe „Zur alten Gaslaterne“, ehe ihre Wissbegier obsiegt, sie zum Sektorenübergang Bornholmer Straße fährt und einen Ausflug in den West-Berliner Wedding unternimmt.

Währenddessen berät der Deutsche Bundestag im Pumpenhaus des Alten Bonner Wasserwerks das „Vereinsförderungsgesetz“. Um 20.30 Uhr unterbricht der CSU-Abgeordnete Karl-Heinz Spilker seine Rede und verliest die ihm ans Rednerpult gereichte Eilmeldung aus Berlin. Minutenlang applaudiert das gesamte Hohe Haus. Als die Unions-Abgeordneten Hermann Josef Unland, Franz Sauter und Ernst Hinsken kurz vor Schluss der Sitzung spontan „Einigkeit und Recht und Freiheit“ anstimmen, erheben sich die übrigen Parlamentarier von ihren Bänken und stimmen ein. Tief ergriffen verlässt Willy Brandt mit Tränen in den Augen den Plenarsaal.

Oberstleutnant Harald Jäger ist diensthabender Offizier am Sektorenübergang Bornholmer Straße an diesem Abend. Während einer Pause sitzt er in der Kantine und guckt sich Schabowskis live übertragene Pressekonferenz an. Beim Satz „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich“ bleibt ihm sein Abendbrot im Halse stecken. Er ruft seinen in der Hauptabteilung VI des MfS für diesen Grenzabschnitt zuständigen Vorgesetzten Oberst Rudi Ziegenhorn an: „Wenn jemand an die Grenze kommt, schick ihn zurück“, antwortet dieser.85 Auch als gegen 20.10 Uhr immer mehr Ost-Berliner am Sektorenübergang erscheinen, bleibt Ziegenhorn dabei: „Vertröste die Leute weiter!“86 Um 21.21 Uhr stehen bereits 1.000 Ost-Berliner und über 100 Trabis vor dem Tor. „Lasst die Waffen stecken, damit nichts passiert!“, weist Jäger seine 14 Grenzer an.87 „Wenn wir schießen, hängen wir da vorne am Fahnenmast.“ Nur 60 Meter vom Kontrollposten entfernt wohnen viele Menschen, die sie bei der Staatssicherheit „feindlich negative Kräfte“ nennen. „Eine hohe Anzahl Nichtwähler, Ausreiseantragsteller, Umweltbewegte – alles, was da Rang und Namen hatte“, sagt Jäger 25 Jahre später.88 „Das war mit ausschlaggebend für das, was passierte.“

Um 21.30 Uhr erhält er den Befehl zur „Ventillösung“: die Lautesten durchlassen, Stempel direkt auf das Passfoto und damit Wiedereinreise verweigern. „Wer das entschieden hat, weiß bis heute keiner“, wundert sich Jäger.89 „In dem Moment war mir nicht bewusst, was für Unrecht wir begingen. Das ging mir erst auf, als gegen 23 Uhr ein junges Ehepaar zurückkam, beide Mitte 30, er mit Stempel auf dem Lichtbild, sie ohne, die Kinder zu Hause im Bett. Mit dem Stempel hatten wir die Staatsbürgerschaft aberkannt.“ Jäger lässt das Paar und schließlich auch alle übrigen Rückkehrer wieder einreisen.

„Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab“, leitet Moderator Hanns Joachim Friedrichs an diesem Abend um 22.42 Uhr die „Tagesthemen“ ein.90 „Aber heute darf man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen.“

Bald drängen Tausende nach drüben, skandieren „Tor auf, Tor auf!“. Vergeblich bemüht sich Oberstleutnant Jäger um konkrete Anweisungen. „Ich fühlte mich in diesem Moment verlassen“, sagt er.91 „Von der politischen und militärischen Führung, die nicht mehr wusste, was ihre Bevölkerung gerade tat. Mir wurde klar, ich muss alleine eine Entscheidung treffen.“ Um 23.07 Uhr ruft er ein weiteres Mal bei Oberst Ziegenhorn an, doch diesmal fragt er nicht, diesmal teilt er mit: „Ich stelle die Kontrollen ein und lasse die Leute raus. Wir fluten jetzt!“92 Kurz darauf geht an der Bornholmer Straße der Schlagbaum hoch, und 20.000 ausgelassene Ost-Berliner strömen nach West-Berlin. Jäger ist nicht nach Feiern zumute: „Ich stürzte ins Bodenlose. Ich wollte meinen Tränen freien Lauf lassen und mich in eine Baracke zurückziehen. Aber da stand schon ein Hauptmann und weinte bitterlich. Den musste ich erst mal beruhigen. Also bin ich wieder raus, der andere Stellvertreter und ich standen zwei, drei Minuten da und haben geschwiegen. Irgendwann sagte er: ‚Harald, das war‘s wohl mit der DDR‘.“93

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9783813210323
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