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„EIN GUTER TAG FÜR DEUTSCHLAND, EIN GLÜCKLICHER TAG FÜR MICH“

Nicht nur auf den ostdeutschen Straßen, auch im Kreml schwindet der Rückhalt für die Regierung Modrow: „Wenn das Volk der DDR die Wiedervereinigung will, dann wird sie kommen“, sagt der Oberste Berater der internationalen Abteilung im ZK der KPdSU Nikolai Portugalow am 24. Januar in einem „Bild“-Interview.174 „Wir werden uns in keinem Fall gegen diese Entscheidung stellen, werden uns nicht einmischen.“ Wenige Wochen zuvor hatte er sich noch dafür stark gemacht, Panzer gegen die Demonstranten in Leipzig, Dresden und Berlin einzusetzen. Dieses Interview signalisiert eine grundlegende Wende in der sowjetischen Haltung gegenüber der deutschen Einigung. „Gorbatschow hat sich am 26. Januar 1990, vier Tage bevor ich zu ihm kam, mit seinen engsten Beratern über die deutsche Frage unterhalten“, blickt Modrow im Mai 2019 zurück.175 „Da war man zu dem Schluss gekommen, die DDR preiszugeben.“ Als Modrow Gorbatschow am 30. Januar in Moskau gegenübersitzt, bekennt er freimütig: „Die wachsende Mehrheit der DDR-Bevölkerung unterstützt die Idee von der Existenz zweier deutscher Staaten nicht mehr; es scheint nicht mehr möglich, diese Idee aufrechtzuerhalten. Wenn wir jetzt nicht die Initiative ergreifen, dann wird sich der eingeleitete Prozess spontan und eruptiv fortsetzen, ohne dass wir dann darauf noch Einfluss nehmen könnten.“176

Um die dramatische Lage in der DDR und die Zukunft Deutschlands mit Kremlchef Michail Gorbatschow zu erörtern, fliegt Bundeskanzler Helmut Kohl am 10. Februar nach Moskau. Am Tage vor seiner Abreise hatte ihm der amerikanische Präsident George Bush schriftlich versichert, die Vereinigten Staaten respektierten den Wunsch des deutschen Volkes nach Wiedervereinigung, allerdings müsse auch das geeinte Deutschland Mitglied der Nato bleiben, selbst wenn das Gebiet der DDR möglicherweise einen besonderen militärischen Status erhalte. Während Kohl mit Gorbatschow konferiert, trifft Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher seinen sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse. „Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, wie offen und freimütig, ja verzweifelt DDR-Ministerpräsident Hans Modrow Gorbatschow kurz zuvor über die katastrophale Lage der DDR informiert hatte“, blickt Kohl auf sein Gespräch mit dem sowjetischen Generalsekretär zurück.177 „Ich wollte ihm erklären, dass wir kein Interesse an einer Destabilisierung der Situation hatten, sondern dass der Wille zur Einheit in der DDR weit verbreitet sei. Und dass sich von den Warschauer-Pakt-Staaten die tschechoslowakische, die polnische, die ungarische, die rumänische und selbst die bulgarische Regierung für die deutsche Einheit ausgesprochen hatten, wusste Gorbatschow auch.“

Während Gorbatschow das Recht der Deutschen bekräftigt, selbst über den Weg zur Einheit und deren Zeitpunkt zu entscheiden, schlägt er für das wiedervereinigte Deutschland dessen Blockfreiheit vor und regt an, die Frage der Bündniszugehörigkeit Deutschlands mit den übrigen Siegermächten und den beiden deutschen Staaten im Rahmen von „Zwei-plus-Vier-Gesprächen“ zu erörtern, über deren Einrichtung er mit US-Außenminister James Baker bei dessen Moskau-Besuch tags zuvor bereits Einvernehmen erzielt habe. „So hatte ich Gorbatschow noch nie sprechen gehört, solche Sätze hatte er in meinem Beisein noch nie formuliert“, staunt der Bundeskanzler.178 „Am Ende des Treffens konnte ich hochzufrieden sein: Wir hatten Gorbatschows Zustimmung zum Zwei-plus-Vier-Prozess und vor allem auch sein grünes Licht für die Regelungen der inneren Aspekte der deutschen Einheit. Ich erinnerte mich an Gorbatschows Brief vom Dezember 1989, in dem er noch kalt und unnachgiebig auf den Einigungsprozess reagiert hatte. Jetzt sah die Welt ganz anders aus. Der Durchbruch war geschafft!“

Nach dem Bankett im Katharinensaal des Großen Kremlpalastes und „reichlich Wodka“ tritt Kohl zu später Stunde vor die wartenden Journalisten: „Ich habe heute Abend an alle Deutschen eine einzige Botschaft zu übermitteln: Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will. Generalsekretär Gorbatschow hat mir unmissverständlich zugesagt, dass die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird; und dass es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen. Ich danke Generalsekretär Gorbatschow, dass er dieses historische Ergebnis ermöglicht hat. Meine Damen und Herren, dies ist ein guter Tag für Deutschland und ein glücklicher Tag für mich persönlich.“179

Die Journalisten reagieren zurückhaltend. „Eigentlich hätten jetzt alle aufstehen und Beifall klatschen müssen. In anderen Ländern wäre das geschehen“, notiert Kanzlerberater Horst Teltschik irritiert.180 „Nach der Pressekonferenz kommt eine Reihe von Journalisten auf mich zu. Ich sage ihnen offen, dass ich über ihre Reaktion enttäuscht sei. Ob sie nicht begriffen hätten, welche Botschaft der Kanzler vorgetragen habe. Ich muss ihnen allerdings recht geben, dass Kohl selbst durch seinen Vortrag Geschäftsmäßigkeit vermittelt habe und nicht den Eindruck erweckte, dass da etwas Großes geschehen sei.“ Die Tragweite der Begegnung im Kreml wird vielen erst am nächsten Tag bewusst: „Auf der Fahrt zum Flughafen lese ich die offizielle Tass-Mitteilung über das Gespräch Kohls mit Gorbatschow“, hält Teltschik fest.181 „Ich empfinde die Ausführungen erneut als sensationell. Sie wirken auf mich in dieser Zusammenfassung fast noch aufregender als gestern beim Gespräch. Im Flugzeug gebe ich die Tass-Erklärung dem Bundeskanzler und den Journalisten zu lesen. Viele reagieren völlig überrascht – sie erkennen erst jetzt die volle Bedeutung dessen, was in Moskau geschehen ist. Der Kanzler ruft nach Sekt, und gemeinsam mit den Journalisten stoßen wir auf den Erfolg an.“

MODROW KEHRT MIT LEEREN HÄNDEN AUS BONN ZURÜCK

Acht Tage nach der Kabinettsumbildung vom 5. Februar reist Ministerpräsident Hans Modrow mit 17 Ministern zu Gesprächen mit der Bundesregierung nach Bonn; es ist der erste Besuch eines DDR-Regierungschefs seit Erich Honeckers Visite im September 1987. „Die Atmosphäre des Gesprächs bleibt ziemlich kühl“, notiert Kanzlerberater Horst Teltschik.182 „Der Kanzler ist nicht mehr interessiert, mit einem hilflosen Modrow noch entscheidende Verabredungen zu treffen. Der Wahltag steht bereits vor der Tür. Auch das anschließende Gespräch mit der riesigen DDR-Delegation bleibt unfruchtbar.“ Kohl kommt ohne Umschweife auf den Punkt: „Der Strom der Übersiedler in die Bundesrepublik schwäche sich nicht ab“, konstatiert er.183 Allein für Februar rechnet die Bundesregierung mit 100.000 Übersiedlern. „Deshalb sei es erforderlich, jetzt dramatische Schritte zu unternehmen. Es müsste möglichst bald über die Verwirklichung der Einheit gesprochen werden. Bereits in den nächsten Wochen könnten die Expertengespräche über die Währungsunion und die Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen werden. Das sei mein deutliches Signal für die Menschen in der DDR. Unser mittlerweile gemeinsam mit den USA vertretener Vorschlag, Gespräche der beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten zu führen, sollte bald realisiert werden.“

Den Wunsch der DDR-Delegation nach einem „Solidaritätsbeitrag“ in Höhe von 15 Milliarden DM lehnt der Bundeskanzler ab: „Für kurzfristige humanitäre Hilfe hatten wir gesorgt. In das bankrotte DDR-System noch einen Pfennig zu investieren, verbot sich einfach.“184 Stattdessen wiederholt er das Bonner Angebot einer Währungs- und Wirtschaftsunion. „In großer Runde, an der auch mehrere Ministerpräsidenten und Bundesminister teilnahmen, wurden die Gespräche fortgesetzt“, erinnert sich Kohl.185 „Es ging um den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes, den die Gäste ablehnten. Danach gingen Modrow und ich vor die Presse. Die Delegation aus Ost-Berlin hatte so gut wie nichts erreicht und fühlte sich spürbar gedemütigt. Doch was hätte ich anders machen sollen? Später war in der DDR-Delegation die Rede von einer bedingungslosen Übergabe der DDR an die Bundesrepublik, die sich seit dem 13. Februar abgezeichnet habe. Doch davon konnte überhaupt keine Rede sein. Zuvor hatte sich der Runde Tisch auf vorgezogene Volkskammerwahlen geeinigt, die für den 18. März 1990 festgesetzt wurden.“186

Kurz nachdem Bundeskanzler Kohl die Währungsunion beim Besuch des DDR-Ministerpräsidenten Modrow in Bonn auf den Tisch gelegt hat, nimmt die im Bundesfinanzministerium von Sarrazin geleitete abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe „Innerdeutsche Beziehungen“ ihre Arbeit auf.

KOHL BEEINDRUCKT VON STRUKTURELLER STÄRKE DER „SCHMUTZIGEN BRÜDER“

Die Volkskammerwahl 1990 ist die letzte und zugleich erste demokratische Wahl zur Volkskammer der DDR. Ursprünglich auf den 6. Mai 1990 angesetzt, wird sie angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in Verhandlungen zwischen Rundem Tisch und der Regierung Modrow auf den 18. März vorgezogen. Entsprechend kurz und organisatorisch herausfordernd ist der Wahlkampf; lediglich die seit Februar in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) umgeflaggte SED verfügt über einen schlagkräftigen Parteiapparat und unbeschränkte finanzielle Ressourcen. Doch die liegt in den Wahlprognosen angesichts ihrer desaströsen Bilanz nach 41 Jahren Realsozialismus abgeschlagen bei nur zwölf Prozent. Haushoher Favorit sind die Sozialdemokraten: Einer Anfang Februar 1990 veröffentlichten Meinungsumfrage zufolge liegt die Ost-SPD bei den 12,4 Millionen Wahlberechtigten bei 54 Prozent, die Ost-CDU dagegen weit abgeschlagen bei elf Prozent. Mit ihrem neu verabschiedeten Partei- und Wahlprogramm, das die DDR demokratisieren und strukturell auf die deutsche Einheit vorbereiten soll, einer Düsseldorfer Werbeagentur und drei wahlkampferprobten westdeutschen PR-Beratern wähnen sich die ostdeutschen Sozialdemokraten in einer guten Ausgangsposition. Allein in der letzten Wahlkampfwoche lässt die Ost-SPD vier Millionen Flugblätter drucken.

Der CDU-Vorsitzende Lothar de Maizière hat rasch erkannt, dass seine durch ihre Vergangenheit stigmatisierte einstige Blockpartei die Unterstützung der westdeutschen Schwesterpartei benötigt, um für die Befürworter einer zügigen Wiedervereinigung wählbar zu sein. Doch insbesondere der Generalsekretär der West-CDU Volker Rühe ist strikt gegen eine Kooperation mit der Ost-CDU: „Mit uns, den schmutzigen Brüdern, wollte in der Union niemand sprechen“, erinnert sich de Maizière.187 „Es gab in Bonn quasi ein Redeverbot. Das Bonner Adenauerhaus wollte von den ‚Blockflöten‘ aus dem Osten partout nichts wissen. In meinem Kalender ist unter dem 24. November 1989 ein Besprechungstermin zwischen Volker Rühe und mir vereinbart, an dem auch (Berlins früherer Regierender Bürgermeister) Eberhard Diepgen und mein Vetter Thomas teilnahmen. Volker Rühe erschien so, als ob er feindliches, vermintes Gelände beträte. Er halte die Ost-CDU und mich persönlich für politische Greenhorns, sagte er uns. Und so sei er, Rühe, strikt gegen den Aufbau von ständigen Kontakten zwischen der Ost-CDU und der West-CDU.“

Auch der Vorsitzende der West-CDU, Bundeskanzler Helmut Kohl, hält ein Zusammengehen mit der Ost-CDU für problematisch: „Über Jahrzehnte hatte sie die SED-Diktatur willig mitgetragen und war folglich mitverantwortlich sowohl für die verheerenden wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Entscheidungen der DDR-Regierung als auch für die massiven Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen der Meinungs- und Reisefreiheit in der DDR“, notiert Kohl später.188 „Abgesehen davon hatten Vertreter der Ost-CDU jahrelang jegliche Kontakte zu uns abgelehnt, so wie umgekehrt auch mir jegliches Interesse an politischen Beziehungen zu ihnen fehlte. Sollten wir nun gemeinsame Sache machen, wie es Wolfgang Schäuble und Walter Wallmann forderten? Ich war da eher skeptisch.“

Doch de Maizière ist beharrlich, spricht mit dem CSU-Bundesminister und Präsidiumsmitglied der Evangelischen Kirche (EKD) Jürgen Warnke, mit dem CDU-Vorsitzenden von Nordrhein-Westfalen Kurt Biedenkopf und mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Willy Wimmer. Und schließlich erreicht er sein Ziel: „Willy Wimmer telefonierte mit verschiedenen Personen aus der Führungsriege der CDU, auch mit dem Bundeskanzler“, so de Maizière.189 „Nach einigen Stunden teilte er mir erleichtert mit, dass der Chef eingelenkt habe. Kohl sei zu einer Zusammenarbeit bereit. Am folgenden Donnerstag kam es zu einem ersten Zusammentreffen zwischen Helmut Kohl und mir. Wir waren uns zwar schon am 22. Dezember 1989 in Berlin bei der Öffnung des Brandenburger Tores begegnet, als er von der Westseite in Begleitung von (Berlins Regierendem Bürgermeister) Walter Momper, Hans-Dietrich Genscher und Rudolf Seiters auf die Ostseite zukam. Die Ostseite wurde vertreten von Hans Modrow, Außenminister Oskar Fischer und mir. Doch Helmut Kohl übersah mich bei dieser Gelegenheit geflissentlich.“

Das erste Zusammentreffen von Kohl und de Maizière findet am 1. Februar 1990 im Gästehaus der Bundesregierung in der West-Berliner Pücklerstraße statt. „Mir war vorher das Verfahren mitgeteilt worden“, erinnert sich de Maizière.190 „Wenn die 45 Minuten nicht voll ausgeschöpft würden, also das Gespräch früher zu Ende wäre, müsse ich davon ausgehen, dass das Gespräch gescheitert sei. Tatsächlich dauerte das Gespräch jedoch über eine Stunde, und wir führten eine sehr vernünftige Unterhaltung.“ Kohl teilt diese Einschätzung: „Zwar kamen wir uns nicht besonders nahe, erörterten aber trotzdem mögliche Formen einer Zusammenarbeit mit Blick auf den Volkskammerwahlkampf.“191


Zeitvergleich: Gregor Gysi (SED-PDS, l.) und Lothar de Maizière (CDU)

Natürlich sind dem Politprofi Kohl die strukturellen Vorzüge der Ost-CDU gegenüber den neu gegründeten Parteien bewusst. Als einstige Blockpartei ist sie in jedem Kreis und in den größeren Städten in jedem Stadtbezirk mit Büro und hauptamtlichem Sekretär vertreten. Die CDU-Zeitungen „Neue Zeit“, „Die Union“, „Der Neue Weg“, „Thüringer Tageblatt“, „Der Demokrat“ und „Märkische Union“, bis zum Ende der SED-Herrschaft durch Zensur und knappe Papierzuteilung drangsaliert, haben sich zwar seit November 1989 emanzipiert, doch bleiben sie der Union politisch gewogen. Mit einer Gesamtauflage von 244.000 Exemplaren sind die CDU-nahen Zeitungen ein weiteres Pfund im bevorstehenden Wahlkampf. „Die strukturelle Stärke der Ost-CDU beeindruckte ihn“, resümiert de Maizière nach seiner ersten Begegnung mit Kohl.192

DIESTEL STRÄUBT SICH GEGEN „SCHMUDDELIGE JOPPE“

Das Vorhaben, ein bürgerliches Parteienbündnis zu schmieden, erweist sich jedoch als schwierig. Sowohl der im Oktober 1989 in der Ost-Berliner Wohnung des Pfarrers Ehrhart Neubert gemeinsam mit den Pastoren Rainer Eppelmann und Friedrich Schorlemmer sowie dem Juristen Wolfgang Schnur gegründete Demokratische Aufbruch (DA) als auch die im Januar 1990 in Leipzig mit Unterstützung der bayerischen CSU aus mehr als zehn konservativen Splitterparteien hervorgegangene Deutsche Soziale Union (DSU) mit dem Leipziger Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling und dem Juristen Peter-Michael Diestel an der Spitze zeigen zunächst wenig Neigung, ein Bündnis mit der belasteten Ost-CDU einzugehen.


Die Stasi-Vergangenheit wird für Wolfgang Schnur (DA) zum Strick.

Um mit dem „Demokratischen Aufbruch“ überhaupt aufbrechen zu können, hatten die Gründer eine List anwenden müssen: „Wir hatten einen Scheintreffort organisiert“, erinnert sich Neubert.193 „80 Leute sind in die Samaritergemeinde zu Rainer Eppelmann gefahren. Dort erst kriegten sie den Zettel, wo sie hinsollten. Ein Spitzel muss dabei gewesen sein, er hat diesen Zettel offenbar der Stasi gegeben. Es kam zur Wettfahrt: Wer ist zuerst bei mir in der Wohnung? Die ersten 17 kamen noch rein, dann hat die Stasi die Wohnung abgesperrt und Schwerbewaffnete vor dem Haus postiert.“ Entsprechend stichelt Rainer Eppelmann, es sei ihm nicht zuzumuten, mit einer Partei auf einer Liste zu stehen, die zuvor mit der SED ins Bett gegangen sei, und Peter-Michael Diestel mokiert sich öffentlich, er habe nicht die Absicht, sich die „schmuddelige Joppe“ der Blockflöten-CDU anzuziehen: „Ich gebe zu, dass ich nicht frei von Vorurteilen war“, räumt Diestel später ein.194 „Ich hatte mir die Haltung des CDU-Bundesvorstandes in Bonn zu eigen gemacht. CDU-Generalsekretär Volker Rühe hatte in einem Rundfunkgespräch öffentlich erklärt: ‚Es gibt eine Partei unseres Namens drüben, die aber nicht unsere Schwesterpartei ist.‘ Dabei übersahen die rheinischen Christdemokraten geflissentlich, dass der Begriff ‚Union‘ im Parteinamen eine genuin ostdeutsche Erfindung war. In ihrer katholischen Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit wussten sie das vermutlich nicht einmal. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte schon am 10. Juni 1945, also vier Wochen nach Kriegsende, die Bildung von Parteien in ihrer Zone gestattet. Am 26. Juni trat eine überkonfessionelle Sammlungspartei neuer Art ins politische Leben: die Christlich-Demokratische Union (CDU). Zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs gehörten Andreas Hermes, ehemals Reichsminister des Zentrum, Walther Schreiber, der Gewerkschafter Jakob Kaiser und der ehemalige Liberale Ernst Lemmer sowie Konservative wie Theodor Stelzer und Paul Graf Yorck von Wartenburg – Persönlichkeiten, die später in der westdeutschen Union eine wesentliche Rolle spielen sollten. Zur historischen Wahrheit gehört die Benennung der Wurzeln der Union. Und die befanden sich zweifellos hier, im Osten.“ Im Juni 1990 wird Diestel zur mittlerweile gesamtdeutschen Union wechseln und nach der deutsch-deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 deren Fraktionsführung im Landtag von Brandenburg übernehmen.

Schließlich gelingt es Helmut Kohl und Volker Rühe, die ostdeutsche CDU, den Demokratischen Aufbruch (DA) und die Deutsche Soziale Union (DSU) am 5. Februar 1990 zur „Allianz für Deutschland“ zusammenzuführen, wenngleich DA und DSU darauf bestehen, unter eigenen Namen anzutreten. Das Verhältnis innerhalb des Bündnisses bleibt angespannt, Kohl muss ständig schlichten und dabei auf das gemeinsame Ziel verweisen.

LAFONTAINE WARNT VOR „NATIONALER BESOFFENHEIT“

Eines der wichtigsten Ziele der sowjetischen Besatzungsmacht und der von ihr eingesetzten „Gruppe Ulbricht“ ist 1946 die Eliminierung der SPD und deren Zwangsverschmelzung mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). In der Sowjetischen Besatzungszone und im Ostsektor Berlins verbieten die Behörden eine Urabstimmung und vollziehen die Zwangsfusion am 21. April 1946. In den Westsektoren Berlins schlägt dieses Manöver dagegen fehl, hier votieren über 82 Prozent gegen die Verschmelzung. Und so kann die SPD bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung am 20. Oktober 1946 dank des Vier-Mächte-Status' Groß-Berlins auch im Ostsektor antreten, neben der SED. Obwohl die Sowjetische Militäradministration SED-Wähler mit Lebensmittelsonderzuteilungen ködert und SPD, CDU und Liberal-Demokraten kaum Papier für Plakate und Flugblätter zugesteht, erhält die SED lediglich 19,8 Prozent. In keinem einzigen Bezirk liegen die Einheitssozialisten vorn, das beste Resultat erzielen sie in Treptow mit 31,1 Prozent, das schlechteste in Wilmersdorf mit 6,3 Prozent. Die SPD dagegen holt in sieben der 20 Bezirke die absolute Mehrheit und in Kreuzberg und Neukölln mit 56,4 Prozent ihre besten Ergebnisse. Auf eine zweite Niederlage lässt es die SED nicht ankommen: Für die Ost-Berliner ist diese erste freie Wahl seit 1933 bis 1990 zugleich die letzte.

Auch bei der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) sind es im Frühjahr 1989 mit Martin Gutzeit und Markus Meckel zwei Theologen, die die inhaltliche und organisatorische Vorarbeit zur Parteigründung leisten. „Das Ziel jahrzehntelanger Kaderpolitik der SED war es, geistige und politische Kompetenz außerhalb des Personenkreises derer, die zu Loyalitätserklärungen bereit waren, zu verhindern“, heißt es in dem am 26. August 1989 veröffentlichten Gründungsaufruf.195 „Wir halten es für notwendig, eine politische Alternative für unser Land zu erarbeiten, die an politische Traditionen anknüpft, die an Demokratie und sozialer Gerechtigkeit orientiert sind. Zu diesen Traditionen gehört an wichtiger Stelle die des Sozialismus.“ In der Außenpolitik bekennt sich die SDP zur Zweistaatlichkeit Deutschlands „als Folge der schuldhaften Vergangenheit. Mögliche Veränderungen im Rahmen einer europäischen Friedensordnung sollen damit nicht ausgeschlossen sein. Besondere Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufgrund der gemeinsamen Nation, Geschichte und der sich daraus ergebenden Verantwortung.“196 An der Gründungsversammlung im Pfarrhaus in Schwante 30 Kilometer nordwestlich von Berlin nehmen am 7. Oktober 1989 rund 50 Personen teil, unter ihnen der Bibliothekar Ibrahim Böhme, der zum Geschäftsführer der SDP und im Februar 1990 auf dem ersten Parteitag der kurz zuvor in SPD umbenannten Partei in Leipzig zu deren Vorsitzendem gewählt wird.

Zwei Tage nach Öffnung der Mauer war es in Berlin zur ersten Begegnung zwischen Ibrahim Böhme, Martin Gutzeit und seinem Pfarrer- und Parteikollegen Steffen Reiche auf ostdeutscher und Willy Brandt sowie dem SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel auf westdeutscher Seite gekommen. „Willy Brandt zeigte mir einen Brief, den er von einem der Gründungsmitglieder der damaligen SDP – ich glaube, es war Ibrahim Böhme – erhalten hatte“, erinnert sich Gerhard Schröder, damals niedersächsischer Oppositionsführer, an jene Zeit.197 „Böhme schrieb ihm, er und einige andere, darunter auch Markus Meckel, hätten eine sozialdemokratische Partei in der DDR gegründet und bäten ihn um Unterstützung für deren Aufnahme in die Sozialistische Internationale. Er lachte herzlich über die Aktivisten dieser kleinen Partei mit dem so großen Anspruch, wurde dann aber sehr ernst und sagte: ‚Man muss die Leute im Auge behalten. Alles in unserer Bewegung hat einmal klein begonnen.‘“


4. März 1990: Willy Brandt, SPD-Ehrenvorsitzender, tritt in Gera auf.

Es ist allen voran der SPD-Ehrenvorsitzende Brandt, der sich mit seinem Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ klar zur Deutschen Einheit bekennt. Auf dem Berliner Programm-Parteitag wirbt er an seinem 76. Geburtstag am 18. Dezember 1989 mit Verve für seine Position: „Nirgends steht geschrieben, dass die Deutschen auf einem Abstellgleis zu verharren haben, bis irgendwann ein gesamteuropäischer Zug den Bahnhof erreicht hat. Ich kann nicht dazu raten, den Deutschen den Eindruck zu vermitteln, es werde über ihre Köpfe hinweg über Dinge verfügt, die sie selber angehen. 45 Jahre nach Ende des Krieges taugt die Kategorie Sieger/Besiegte nicht mehr. Die jungen Deutschen wollen Frieden und Freiheit, wie die Jungen in anderen Ländern auch. Noch so große Schuld einer Nation kann nicht durch eine zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden.“198 Doch die Position ihres Ehrenvorsitzenden teilen in der SPD beileibe nicht alle, wenn sie denn Ende der 1980er-Jahre überhaupt mehrheitsfähig ist. Beim Versuch, Brandt auf dem Berliner Programm-Parteitag zu unterstützen, wird die SPD-Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs regelrecht ausgebremst: „Ich wollte mittels Video einen eindrucksvollen Redebeitrag von Erich Ollenhauer vorführen, in dem er bei der Verabschiedung des Godesberger Programms die Wiedervereinigung als sozialdemokratisches Ziel herausstellt. Heidemarie Wieczorek-Zeul verhinderte als Tagungspräsidentin ein Abspielen dieses Redebeitrages wegen des zu eindeutigen Bekenntnisses zur Wiedervereinigung.“199

Als Lars Brandt seinen auf dem Sterbebett liegenden Vater fragt, wer seine Freunde gewesen seien, antwortet dieser: „Egon.“ Jahrzehntelang ist Egon Bahr Brandts engster politischer und persönlicher Weggefährte gewesen. Doch im Herbst 1989 setzt sich dieser deutlich von einst gemeinsamen Positionen ab: „Ist staatliche Einheit in greifbare Nähe gerückt? Alle erkennbaren Faktoren in West und Ost sprechen nach wie vor dagegen“, schreibt Bahr im Oktober 1989 im „Vorwärts“.200 „Wir haben keinen Grund, uns von der wiederholten Lebenslüge des CDU-Programms irre machen zu lassen, dass die Wiedervereinigung die vordringlichste Aufgabe geblieben ist, während Kohl die Nato zur Staatsräson der Bundesrepublik erklärt. Nato und Einheit kann es zusammen nicht geben.“ In der „Bild am Sonntag“ legt Brandts ehemaliger Spindoktor nach: „Lasst uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen. Was wir tun müssen: mehr Nähe schaffen zwischen den beiden deutschen Staaten, mehr Nähe beim Lebensstandard, bei den Freiheiten. Wenn das ‚Neue Deutschland‘ so interessant ist, wie die ‚Prawda‘ geworden ist, ist schon viel erreicht.“201 Selbst fünf Tage nach der Öffnung der Mauer sagt Bahr: „Es ist eine Lebenslüge, über Wiedervereinigung zu reden.“202 Erst im Januar 2005 räumt er selbstkritisch ein: „Kein Zweifel, die grauen Zellen haben nicht funktioniert.“203

Im Dezember 1985 war Gerhard Schröder als SPD-Bundestagsabgeordneter erstmals in die DDR gereist: „Ich fahre aus Interesse am Land, und weil ich aus meiner Zeit als Juso-Vorsitzender eine Reihe von Politikern dort kenne“, erklärt er damals.204 „Und außerdem folge ich einer Einladung Erich Honeckers, den ich für einen außergewöhnlich interessanten Mann halte.“ Schröders Vater stammte aus Leipzig, seine Mutter aus Burgstall in Sachsen-Anhalt. „Mit Erschrecken habe ich festgestellt, dass ich über die DDR weniger weiß als über andere, zum Beispiel westeuropäische Länder“, räumt er ein.205 Dennoch verspürt er einen emotionalen Bezug zu jenem Teil Deutschlands: „Wenn ich durch Leipzig oder Dresden fahre, ist das eben doch was anderes, als wenn ich durch Rom oder London gehe. Warum, kann ich nicht sagen. Das ist ein Gefühl von Gemeinsamkeit jenseits aller juristischen oder politischen Überlegungen. Das ist einfach so. Das soll man nicht erklären wollen.“206 Dieses Empfinden hindert Schröder jedoch nicht, die Deutsche Einheit abzulehnen: „Nach 40 Jahren Bundesrepublik sollte man eine neue Generation in Deutschland nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen“, sagt er im Juni 1989 gegenüber der „Bild“-Zeitung.207 „Es gibt sie nicht.“ Mehr noch: „Eine auf Wiedervereinigung gerichtete Politik ist reaktionär und hochgradig gefährlich.“208

Auch der sozialdemokratische Ministerpräsident des Saarlandes Oskar Lafontaine steht gesamtdeutschen Überlegungen ablehnend gegenüber; Ende November 1989 lässt er seine Staatskanzlei in Saarbrücken sogar ein Rechtsgutachten zur Zuzugsbegrenzung von DDR-Übersiedlern erarbeiten, Mitte Dezember kommt es im SPD-Präsidium zum offenen Konflikt: „Die bauen Mauern ab, und du versuchst, sie aufzurichten“, werfen Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau und Herta Däubler-Gmelin ihrem stellvertretenden Parteivorsitzenden vor.209 Ob ihm eigentlich bewusst sei, dass die Schleswig-Holsteiner sich den Mecklenburgern näher fühlten als den Saarländern, fragt der sozialdemokratische Ministerpräsident Björn Engholm aus Kiel seinen Amtskollegen aus Saarbrücken ärgerlich. Hamburgs Erster Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) kritisiert Lafontaines Initiative noch deutlicher: „Es ist unmoralisch und unhistorisch, die eigene Partei dem Verdacht auszusetzen, die Mauer aus Beton durch eine Mauer aus Paragraphen ersetzen zu wollen.“210 Während Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 vor den Ruinen der Dresdner Frauenkirche mit seiner „als historisch geltenden Rede die Herzen der Ostdeutschen bricht“, wie der Kohl-kritische „Spiegel“ schreibt, warnt Lafontaine seine Genossen auf dem Berliner Programm-Parteitag vor „nationaler Besoffenheit“ und kritisiert unter „lebhaftem Beifall“ Kohls Berater Horst Teltschik, der „kürzlich in der Bild-Zeitung zum Besten gab: vereintes Deutschland – ja, aber in der Nato! Welch ein historischer Schwachsinn!“211

Ausgerechnet auf dem ersten Parteitag der Ost-SPD in Leipzig, auf dem der Ehrenvorsitzende der West-SPD Willy Brandt am 24. Februar zum Ehrenvorsitzenden der Ost-SPD gewählt wird, ruft der drei Wochen später vom SPD-Parteivorstand einstimmig zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl am 2. Dezember nominierte Oskar Lafontaine die Bewohner der DDR auf, im Land zu bleiben: „Es muss angestrebt werden, dass das Übersiedeln nur noch möglich ist, wenn beim Verlassen einer Wohnung in der DDR eine Wohnung in der Bundesrepublik gefunden wurde, und wenn die Frage der sozialen Sicherung bzw. der Nachweis eines Arbeitsplatzes geklärt ist.“212

Auch den in der westdeutschen und ostdeutschen SPD angestellten Überlegungen zur Schaffung eines Wirtschafts- und Währungsverbunds – die West-SPD regt einen Umtauschkurs von 1 : 5, die Ost-SPD eine Umtauschquote von 1 : 1 an – steht Lafontaine ablehnend gegenüber. Seiner Partei empfiehlt er schließlich, dem Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion im Bundesrat zuzustimmen, ihn im Bundestag aber abzulehnen. Nicht nur Brandt und Vogel setzen sich über diese Empfehlung hinweg: In geheimer Abstimmung votiert die Mehrheit der SPD-Bundestagsfraktion für den auf ihr Betreiben hin nachgebesserten Staatsvertrag, und im Bundesrat verweigern lediglich zwei Bundesländer die Zustimmung: Lafontaines Saarland und das von Gerhard Schröder regierte Niedersachsen. „Kaum jemand aus meiner Generation hatte ernsthaft damit gerechnet, dass die Vereinigung friedlich, ohne dass auch nur ein einziger Schuss fiel, zu erreichen sein würde“, räumt Schröder 2006 ein.213 „Und selbst als sich genau dies direkt vor unseren Augen zutrug, betrachteten wir das Geschehen mit mehr Skepsis, als zuträglich war. Das Glück, das ich heute empfinde, wenn ich über die Vereinigung nachdenke, hatte sich damals nicht einstellen wollen.“

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