Читать книгу: «30 Jahre Deutsche Einheit – eine Bilanz», страница 2

Шрифт:

UNGARN REISST DEN EISERNEN VORHANG EIN

Während Erich Honecker Ende Januar 1989 noch trotzig postuliert „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben“14, hat sich der Eiserne Vorhang für die Ungarn vor ihrer Grenze zu Österreich bereits überlebt: Seit anderthalb Jahren dürfen sie mit ihrem „Weltpass“ ins nichtsozialistische Ausland reisen. Anfang März fliegt der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh nach Moskau, um Kremlchef Michail Gorbatschow über die Absicht seiner Regierung zu informieren, die Grenzsperren einzureißen. Die Reaktion des sowjetischen Staatschefs verblüfft den Reformer aus Budapest: „Ich sehe da, ehrlich gesagt, gar kein Problem“, versichert ihm Gorbatschow.15

Für den Kremlchef ist das Thema Grenzöffnung nicht neu; Ende Mai 1987 hatten er und sein Außenminister Eduard Schewardnadse der DDR-Führung vorgeschlagen, „die Mauer abzureißen“, wie ein enger Mitarbeiter Schewardnadses samt der ostdeutschen Antwort notiert: „Scharfe Reaktion unserer Freunde auf diese Idee“.16 Seit dem Frühjahr 1987 strebt die sowjetische Führung die Ablösung des reformunwilligen SED-Chefs Erich Honecker an; am 4. März waren der kurz zuvor als Chef der DDR-Auslandsspionage ausgeschiedene Markus Wolf, der stellvertretende KGB-Vorsitzende und Gorbatschow-Vertraute Wladimir Krjutschkow sowie Dresdens SED-Chef Hans Modrow im Gästehaus der SED-Bezirksleitung Dresden im Villenviertel Weißer Hirsch zu einem Geheimtreffen zusammengekommen. „Krjutschkow wollte von mir wissen, wie ich die Situation in der DDR beurteile“, erinnert sich Modrow.17 Honecker und MfS-Minister Erich Mielke trauen Modrow nicht über den Weg und weisen den Chef der MfS-Bezirksverwaltung Dresden an, massiv gegen ihn vorzugehen, um ihn wegen Hochverrats anklagen zu können. „Meine Wohnung und mein Dienstzimmer waren total verwanzt“, sagt Modrow nach Sichtung der heute beim Bundesnachrichtendienst archivierten Beweissammlung des MfS.18 „Post und Telefon wurden ebenfalls überwacht.“ Die Zeit von Wolf und Modrow läuft ab, erkennt Gorbatschow, und richtet den Blick auf Bonn: „Es ist nötig, sich in den Beziehungen mit der BRD auf ungewöhnliche Dinge einzulassen“, erklärt der Kremlchef im Politbüro.19


Nach 40 Jahren öffnet sich der Eiserne Vorhang im Sommer 1989 zunächst in Ungarn.

Und so sind es ungarische Soldaten, die am 2. Mai 1989 nahe der Ortschaft Köszeg an der Grenze zu Österreich mit dem Abbau der Grenzanlagen beginnen und damit einen Epochenwechsel einleiten. „Heute endet hier an dieser Stelle die 40-jährige Teilung Europas in Ost und West“, berichtet Joachim Jauer, ZDF-Sonderkorrespondent für Mittel- und Osteuropa, in den „heute“-Nachrichten live vor Ort.20 „Dies wird unabsehbare Folgen haben – für Europa, für die Deutschen in der Bundesrepublik und insbesondere in der DDR.“ Die Führung in Ost-Berlin unterschätzt die Brisanz dieser vom „Westfernsehen“ in Millionen DDR-Haushalte übertragenen Bilder: „Wenn das die Leute in der DDR sehen, fangen sie sofort an zu laufen“, ahnt Axel Hartmann, Spitzendiplomat im Bonner Kanzleramt.21 „Das einzige, was die suchen, ist das Loch im Zaun. Jetzt bekommen sie es über das Fernsehen geliefert.“

FURCHT VOR „CHINESISCHER LÖSUNG“

Auch die chinesische Bevölkerung verfolgt Gorbatschows Reformen mit großer Sympathie. Dessen für den 15. Mai 1989 geplanten Staatsbesuch, des ersten seit dem Bruch zwischen Moskau und Peking 1959, hat Chinas kommunistische Führung um den „Obersten Führer“ Deng Xiaoping akribisch vorbereitet. Doch angesichts der bereits seit Wochen andauernden Massendemonstrationen für mehr Demokratie, Pressefreiheit und gegen Parteiprivilegien sehen sich die Gastgeber genötigt, ihr Programm zu ändern. Vier Wochen zuvor ist der reformorientierte frühere KP-Generalsekretär Hú Yàobāng mit knapp 74 Jahren verstorben, Ikone der Studentenbewegung und Hoffnungsträger der nach Reformen dürstenden Chinesen. Viele zweifeln am natürlichen Tod ihres Idols. Zwei Tage vor dem Besuch des sowjetischen Gastes treten zahlreiche Studierende in den Hungerstreik, die Zahl der Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens („Tian’anmen“) steigt auf 1,2 Millionen: „Kurz vor der Landung in Peking wurde per Funk bekanntgegeben, dass das offizielle Empfangszeremoniell am Flughafen stattfinden werde“, erinnert sich Gorbatschow.22 „Der Tian’anmen-Platz sei seit dem 4. Mai von Studenten besetzt. Eine Demonstration wie diese war in China alles andere als üblich.“

Gastgeber Deng Xiaoping sieht sich brüskiert und schäumt vor Wut ob dieses Gesichtsverlustes. Kaum ist Gorbatschow abgereist, verhängt die chinesische Führung über einige Stadtbezirke von Peking den Ausnahmezustand und lässt Truppen in die Stadt einmarschieren. In der Nacht vom 3. zum 4. Juni räumen bewaffnete Kräfte von Armee und Polizei den Tian’anmen-Platz und die angrenzenden Wohnviertel und schlagen die studentische Demokratiebewegung – den „Pesthauch der bürgerlichen Liberalisierung“ – blutig nieder; nach Schätzungen des chinesischen Roten Kreuzes werden beim Tian’anmen-Massaker 2.600 Demonstranten getötet und 7.000 verletzt. „Wir brachten unser Beileid mit den Betroffenen zum Ausdruck, außerdem aber die Hoffnung, dass Weisheit und gesunder Menschenverstand sich durchsetzen und einen Ausweg aus dieser komplizierten Situation finden werden, der des großen chinesischen Volkes würdig sei“, erinnert sich Gorbatschow.23 „So verband sich in unserer Haltung das Prinzip der Nichteinmischung mit dem aufrichtigen Wunsch, das befreundete Land möge so bald wie möglich seine Stabilität zurückgewinnen – und zwar auf dem Weg der Reformen und der Offenheit, des zivilen Friedens und der Gewaltlosigkeit.“

Ganz anders fallen die Reaktionen in Ost-Berlin aus. Die DDR-Führung solidarisiert sich mit den Machthabern in Peking, ohne zunächst allzu viele Details zu kennen: „Im Politbüro herrschte zu diesem Zeitpunkt noch Skepsis und Unklarheit über die Vorgänge“, erinnert sich dessen Mitglied Günter Schabowski.24 „Konterrevolutionärer Aufruhr in China wurde durch Volksbefreiungsarmee niedergeschlagen“, titelt das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“.25 Und DDR-Außenminister Oskar Fischer bekundet gegenüber seinem chinesischen Amtskollegen Qian Qichen „die Solidarität und Verbundenheit mit der Volksrepublik China und dem chinesischen Brudervolk“.26

Drei DDR-Delegationen geben sich kurz darauf in Peking die Klinke in die Hand. Hans Modrow macht den Anfang. Empfangen wird der Dresdner SED-Chef von Politbüromitglied Wu Xueqian: „Im Namen der Partei- und Staatsführung dankte dieser für die solidarische Haltung der SED und des ganzen Volkes der DDR mit dem chinesischen Volk und der KP Chinas in dieser schwierigen Phase“, heißt es im „Neuen Deutschland“.27 Als nächster fliegt Politbüromitglied Günter Schabowski nach China und wird am 14. Juli vom neuen Staats- und Parteichef Jiang Zemin empfangen. Ein Massaker an den Studenten habe es nicht gegeben, beteuert der KP-Chef, im Gegenteil: Der Platz sei vom Militär weitgehend friedlich geräumt worden. Allerdings seien in den angrenzenden Straßen bei „Auseinandersetzungen rund 400 Menschen umgekommen, Soldaten und Studenten“.28 An diese Begegnung wird sich Schabowski im Herbst erinnern, als es um die Frage geht, in Leipzig Panzer gegen Demonstranten einzusetzen. Ende September reist schließlich Egon Krenz zum 40. Jahrestag der Volksrepublik nach China. Klassensolidarität sei für die Kommunisten der DDR „eine Sache der Klassenehre und Klassenpflicht“, betont er.29 Man stehe „auf der Barrikade der sozialistischen Revolution“ demselben Gegner gegenüber. „Bei der Beurteilung der Ereignisse in der Volksrepublik China kann man nicht von den Horrordarstellungen der BRD-Medien ausgehen“, erklärt Krenz gegenüber der DDR-Nachrichtenagentur ADN.30 „Man muss sich auf die wirklichen Ereignisse und die Erklärungen der chinesischen Partei- und Staatsführung stützen.“

Nicht erst seit diesen martialischen Sprüchen geht unter den Bürgerrechtlern in der DDR die Angst um, auch bei ihnen könnte das Regime zu einer „chinesischen Lösung“ greifen. „Wir haben die Bilder aus Peking im Westfernsehen gesehen“, erinnert sich der bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Werner Schulz.31 „Es war schrecklich. Ich habe das nicht für möglich gehalten in einem Jahr, in dem man das Gefühl von demokratischem Aufbruch im sozialistischen Lager verspürte – Frühling in Moskau, Glasnost, Perestrojka. Die Bilder der chinesischen Studenten auf dem Tian’anmen kamen für uns überraschend. Wir wussten relativ wenig von diesem hermetisch abgeschlossenen kommunistischen Reich.“

Die unverhohlene Warnung der DDR-Führung vor möglicher Gewaltanwendung treibt im Spätsommer 1989 Tausende in die Flucht in den Westen. Wie in jedem Jahr, so machen sich auch in diesem Sommer mehrere Hunderttausend DDR-Bürger mit Zelt oder Wohnwagen nach Ungarn auf, der Balaton zählt zu den beliebtesten Urlaubszielen im Ostblock. Doch im Sommer 1989 wollen Zehntausende von Ausreisewilligen nicht zurück. Sie fühlen sich durch die jüngsten Ereignisse ermutigt, nach Ungarn zu reisen, um über die sich öffnende Grenze nach Österreich und weiter in die Bundesrepublik zu flüchten. Über 100 Flüchtlinge campieren bereits in der Bonner Botschaft in Budapest.

Am 19. August 1989 bietet sich während des „Paneuropäischen Picknicks“ an der österreichisch-ungarischen Grenze bei Sopron eine unerwartete Chance zur Flucht. Im Mai hatten Mitglieder des oppositionellen Ungarischen Demokratischen Forums bei einem Abendessen die Idee entwickelt, am noch verbliebenen Abschnitt des Eisernen Vorhangs ein österreichisch-ungarisches Fest der Begegnung und des Freiheitswillens zu veranstalten und dabei für wenige Minuten symbolisch die Grenze zu öffnen. Die Schirmherren der Veranstaltung, der ungarische Staatsminister und Reformer Imre Pozsgay und der CSU-Europaabgeordnete Otto von Habsburg, hatten in Budapest und Sopron mit Tausenden von Flugzetteln zur Teilnahme am Picknick eingeladen, und viele Urlauber aus der DDR waren daraufhin an die Grenze gefahren.

„Plötzlich war die Möglichkeit da, zu testen, wie viel Gorbatschows Zusage wert war, nicht einzugreifen“, sagt Ministerpräsident Németh.32 „Ich war mir der Verantwortung und der Gefahr bewusst und sehr nervös.“ Als sich nachmittags das Grenztor symbolisch für drei Stunden öffnet, nutzen knapp 900 DDR-Bürger, darunter Familien mit Kindern, die Chance und stürmen an den fünf Grenzsoldaten vorbei in die Freiheit – es ist die bis dahin größte Fluchtbewegung aus Ostdeutschland seit dem Bau der Berliner Mauer. Die Nachricht von der Massenflucht verbreitet sich wie ein Lauffeuer: „Die Flüchtlinge hatten frisch ausgestellte Pässe der bundesdeutschen Botschaft in Budapest in der Hand“, berichtet der Ungarn-Korrespondent des RIAS live im „Abendreport“.33 „Die Grenzsoldaten ließen die DDR-Bürger unbehelligt; die konnten mit dem Auto in die Nähe der Grenze fahren, wurden dort angehalten, ließen das Auto stehen und gingen dann praktisch mit nichts als den Kleidern am Körper über die Grenze.“

GEHEIME BEGEGNUNG AUF SCHLOSS GYMNICH

Vom Wohlwollen Gorbatschows ermutigt, plant Regierungschef Németh nun die dauerhafte Öffnung der ungarischen Westgrenze. In einer geheimen zweieinhalbstündigen Begegnung mit Kohl und Genscher auf Schloss Gymnich bei Bonn unterrichten Németh und Außenminister Gyula Horn ihre deutschen Amtskollegen am 25. August von ihrer Absicht, die nach Ungarn Geflohenen nicht in die DDR abzuschieben, sondern die Grenze zu öffnen und alle Deutschen bis Mitte September über Österreich ausreisen zu lassen. „Mir stiegen die Tränen in die Augen, als Németh dies ausgesprochen hatte“, erinnert sich Kohl.34 „In diesem Moment wurde mir deutlicher denn je bewusst, wie wichtig und richtig es gewesen war, dass wir all die Jahre an der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten hatten.“

Wie der DDR, so steht auch Ungarn das Wasser ökonomisch bis zum Hals. Angesichts der erdrückenden Auslandsschuldenlast seines Landes hatte der in Harvard ausgebildete Wirtschaftswissenschaftler Németh als Erstes die kostspielige Instandhaltung der Grenzanlagen aus dem Etat gestrichen. „Es sprach sich herum, dass die ungarischen Grenzanlagen bereits Mitte der 80er-Jahre technisch veraltet waren“, sagt Axel Hartmann, seit 1987 Osteuropa-Referent im Kanzleramt.35 „Sie bestanden zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur noch, um die Flucht von DDR-Bürgern zu verhindern.“ Auf die Frage Helmut Kohls, was Ungarn als Gegenleistung erwarte, antwortet Németh: „Wir sind keine Menschenhändler wie (Rumäniens Staatschef) Ceaușescu oder Honecker.“36 Er bittet jedoch darum, Ungarn bei den Partnerschaftsverhandlungen mit der EU zu helfen und dem Land beizustehen, falls es Probleme mit den Energielieferungen aus der Sowjetunion geben sollte.

Der Bundeskanzler kommt Németh umfänglich entgegen: „Die Bundesregierung gewährte Ungarn einen Kredit von 500 Millionen DM, außerdem sagten wir die Aufhebung des Visumzwangs zu und versicherten Budapest der deutschen Unterstützung beim angestrebten Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Zur Entschuldungsproblematik — Ungarns Verbindlichkeiten bei Banken in der Bundesrepublik beliefen sich auf über 400 Millionen DM — sagte ich die Entsendung des Chefs der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, nach Ungarn zu. Ebenso erklärte ich den ungarischen Gästen, mich in der EG und in den USA dafür einsetzen zu wollen, dass den Ungarn umgehend und unbürokratisch aus der großen Wirtschaftskrise geholfen werde.“37

„… UM IHNEN MITZUTEILEN, DASS HEUTE IHRE AUSREISE …“

Am Abend des 10. September 1989 öffnet die ungarische Regierung den Flüchtlingen aus der DDR schließlich das Tor zum Westen. Für das SED-Regime ist dies der Anfang vom Ende seiner Existenz. „Vor der Grenzöffnung wollte ich nach Ost-Berlin fahren und mit der Regierung sprechen“, erinnert sich Németh.38 „Aber sowohl Staats- und Parteichef Erich Honecker als auch Ministerpräsident Willi Stoph waren krank, sodass ich keinen Verhandlungspartner hatte. Wir haben dann Außenminister Oskar Fischer informiert. Daraufhin schickte die DDR-Führung einen Brief an den ungarischen Parteichef, weil sie hoffte, dass die Partei auf mich Einfluss nehmen würde. Die Antwort lautete: In Ungarn schreibt die Partei der Regierung nicht mehr vor, was sie zu tun hat.“

Bereits seit drei Monaten ist die DDR praktisch führungslos und taumelt ohne Erich Honecker in die schwerste Krise ihrer 40-jährigen Geschichte. Auf dem Gipfel des Warschauer Paktes am 7. und 8. Juli 1989 in Bukarest war der SED-Chef mit schweren Gallenkoliken ins rumänische Regierungskrankenhaus eingeliefert und später nach Ost-Berlin ausgeflogen worden. Fünf Wochen später hatten die Ärzte ihm im Regierungskrankenhaus Berlin-Buch die Gallenblase und einen Abschnitt des Dickdarms entfernt, von dem dabei entdeckten Nierentumor und seiner Krebserkrankung erfährt Honecker jedoch erst im Januar 1990.

„Erschrocken und hilflos“ habe die übrige DDR-Führung beobachtet, „wie der sozialistische Block in die Brüche ging“, schildert Politbüromitglied Günter Schabowski später die Stimmung im engsten Führungszirkel.39 Günter Mittag wirft der ungarischen Regierung „Verrat am Sozialismus“ vor, Außenminister Oskar Fischer erhofft sich Hilfe aus Moskau, doch Michail Gorbatschow lehnt das erbetene Treffen des Warschauer Paktes ab: Der Kreml werde keinen Druck auf die ungarische Regierung ausüben, die Grenzöffnung rückgängig zu machen. Die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 verkündete „Breschnew-Doktrin“, mit der die Sowjetunion das Recht beansprucht, bei „Gefährdung des Sozialismus“ in anderen Ostblockstaaten militärisch einzugreifen, ist seit Anfang Juli Geschichte. Als Honecker Mitte September seine Amtsgeschäfte abgemagert und sichtlich gealtert wieder aufnimmt („So, da wären wir wieder“), sind ihm und der DDR-Führung die Zügel längst entglitten. „Ungarn hat am 10. September 1989 den ersten Stein aus der Mauer geschlagen“, sagt Bundeskanzler Kohl später dankbar.40 Nun steigen die Flüchtlingszahlen rasant, bis Ende September verlassen 32.500 Menschen die DDR über Ungarn, obwohl Ostdeutsche seit dem 11. September für Ungarn ein Visum benötigen, was kaum noch zu bekommen ist.

DDR-Flüchtlinge gibt es in der bundesdeutschen Botschaft in Prag seit jeher, doch hält sich deren Zahl in Grenzen. „Im Innerdeutschen Ministerium war ich in die Geheimnisse des Freikaufs und in die Rolle eingeweiht worden, die Rechtsanwalt Dr. Vogel in diesem Zusammenhang spielte“, erinnert sich Botschafter Hermann Huber, von 1988 bis 1992 Bonns Repräsentant in Prag.41 Als Wolfgang Vogel am 12. September 1989 in Begleitung seiner Frau und des Rechtsanwalts Gregor Gysi in der Botschaft eintrifft, befinden sich bereits 434 Zufluchtsuchende auf dem Gelände, und es werden stündlich mehr. In einem dreistündigen Gespräch bemühen sich die ostdeutschen Anwälte, die Flüchtlinge zur Rückkehr zu überreden: Wer mit ihnen in die DDR zurückreise, könne binnen sechs Monaten mit „wohlwollender Prüfung“ seines Ausreiseantrages rechnen. 280 Ausreisewillige lassen sich darauf ein, 154 Flüchtlinge aber bleiben. Das Deutsche Rote Kreuz kümmert sich in einer Feldküche um deren Versorgung, der Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amtes um deren Gesundheit und die Lehrerinnen unter den Botschaftsangehörigen um den Schulunterricht. Doch in dem Maße, in dem die Zahl der Flüchtlinge erneut steigt, sinkt die Stimmung auf dem Botschaftsgelände. „Es braute sich das größte Flüchtlingsproblem zusammen, das eine deutsche Botschaft bis dahin erlebte“, sagt Hermann Huber.42 Mittlerweile 865 Flüchtlinge schlafen in drei Schichten, in viel zu kleinen Zelten, in den Büros, im Treppenhaus, zwei Personen auf jeder Stufe.

Als Wolfgang Vogel am 26. September ein zweites Mal in der Botschaft erscheint, um die Flüchtlinge mit aufgebesserten Angeboten zur Rückkehr in die DDR zu bewegen, trifft er auf eine fundamental gewandelte Situation: „Ihm schlug eine Woge eisiger Feindseligkeit entgegen“, erinnert sich Botschafter Huber später.43 „Er wurde teilweise regelrecht ausgepfiffen.“44 „Wir glauben dir nichts mehr!“, rufen ihm die Flüchtlinge hinterher, während Vogel mit lediglich 50 Rückkehrwilligen irritiert das Botschaftsgelände verlässt und hinter ihm schon wieder 100 neue Flüchtlinge über den Zaun klettern.45

„Liebe Landsleute“, ruft Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher um 18.58 Uhr des 30. September vom Balkon des Prager Palais Lobkowicz ins Dunkel des Botschaftsparks hinein.46 Jubel brandet auf, „Genscher, Genscher!“, „Freiheit, Freiheit!“.47 „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“48 Der Rest des Satzes geht im frenetischen Jubel der nun fast 4.000 Flüchtlinge unter. Noch am selben Abend werde der erste Sonderzug fahren, versichert Genscher – durch die DDR. „Nein, niemals!“, ruft die Menge.49 „Sie wissen, dass ich selbst einmal die DDR verlassen habe“, beruhigt der im August 1952 über West-Berlin nach Westdeutschland übergesiedelte Hallenser.50 „Ich kann Sie gut verstehen, ich übernehme die persönliche Bürgschaft, dass Ihnen nichts geschehen wird.“ Lange hatte sich die DDR-Führung vor einer Entscheidung gedrückt, erst Genschers Gespräch mit seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse am Rande der UNO-Vollversammlung, dessen Telefonat mit Gorbatschow und ein Machtwort des Kremlchefs hatten schließlich binnen zwei Stunden zum Einlenken der Ost-Berliner Führung geführt. Die Bahnfahrt durch die DDR macht sie jedoch zur Bedingung, für Genscher eine absolut unverständliche Auflage: „Züge mit Tausenden von Flüchtlingen durch die DDR – das musste wie ein Fanal wirken. So kam es dann auch.“51

Bereits zwei Stunden nach Genschers Rede, „den bewegendsten Stunden in meiner gesamten politischen Arbeit“, verlässt der erste von sechs „Zügen in die Freiheit“ den Prager Bahnhof. Im letzten Zug sitzt Peter-Christian Bürger. Mehr als drei Monate hat der Koch aus Karl-Marx-Stadt (seit 1990 wieder Chemnitz) in der Botschaft verbracht. Nach Ablehnung zweier Ausreiseanträge hatte er Anfang 1986 schon einmal fliehen wollen, war aber von einem „Freund“ verraten worden und ins Zuchthaus Cottbus gekommen. Als Bürger Ende Mai 1989 die Fernsehberichte aus Prag sieht, versucht er es erneut, überquert nachts bei Oberwiesenthal im Erzgebirge die grüne Grenze und schlägt sich zur Bonner Botschaft in Prag durch. In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober fährt Bürger durch seine Heimatstadt: „Diese Zugfahrt war eines meiner schlimmsten Erlebnisse“, sagt er im Rückblick.52 Doch seine Angst, von den DDR-Sicherheitsorganen doch noch aus dem Zug geholt zu werden, ist unbegründet. Am Vormittag des 1. Oktober kommt auch Bürgers Zug im bayerischen Hof an.

Kaum haben die 4.000 DDR-Flüchtlinge die Prager Botschaft verlassen, stehen 200 neue Ausreisewillige vor dem Tor. Am 3. Oktober campieren über 5.000 Flüchtlinge in der Botschaft und im Park und über 2.000 auf dem Vorplatz. Angesichts fallender Temperaturen öffnet Botschafter Huber für 600 Frauen und Kinder ein weiteres Mal das Tor und muss sie im Heizungskeller, dem letzten verbliebenen freien Raum, unterbringen. Am 4. Oktober dürfen auch sie ausreisen. „Die Weltpresse hat diese zweite Ausreiseaktion kaum zur Kenntnis genommen“, wundert sich Botschafter Huber später.53 Als die DDR-Führung den Visumzwang für Reisen in die Tschechoslowakei am 1. November 1989 endgültig aufhebt, strömen Tausende in die Botschaft und erzwingen eine grundsätzliche Lösung der Flüchtlingsfrage. Schließlich lenkt die Führung in Ost-Berlin ein: „Die am 3. November verkündete und sofort in Kraft getretene Ausreiseregelung hatte rechtlich und politisch eine fundamental neue Qualität“, betont Huber.54 „Wer die DDR verlassen wollte, stieg einfach in einen Zug nach Prag und wurde dort von Botschaftspersonal in bereitstehende Züge umdirigiert, die ihn unbelästigt in die Bundesrepublik brachten. Es gab für DDR-Bürger also keinen eisernen Vorhang und keine Mauer mehr. Es gab nur noch den Umweg über Prag.“ Wenige Tage später ist dieser Umweg nicht mehr nötig.

1 914,22 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
545 стр. 143 иллюстрации
ISBN:
9783813210323
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
181