Читать книгу: «Feenders», страница 5

Шрифт:

9 – Antje

»Oma?« Lilli Feenders hatte gegenüber ihrer Großmutter am Stubentisch Platz genommen.

»Ja, mien Deern, was hast du denn auf dem Herzen?« Melitta Feenders legte ihr Buch zur Seite.

»Georg – ich mache mir Gedanken über meinen Bruder.«

Ihre Großmutter schmunzelte: »Er ist schon ein recht wilder Vogel. Was hat er denn wieder angestellt?«

»Wenn ich das sage, hätte er keinerlei Vertrauen mehr zu mir.«

»Ja, aber was möchtest du von mir?«

»Wenn ich das nur selber wüsste. Ich fürchte, wenn Georg weiterhin solchen Unsinn treibt, wird es über kurz oder lang Verletzte oder gar Tote geben.«

»Übertreibst du nicht ein wenig?«

»Eben nicht.« Lilli schüttelte den Kopf. »Man müsste ihn in eine andere Richtung lenken.«

»Er hat schon einige Aufgaben auf dem Hof zu erledigen. Das macht er ja meist recht zuverlässig. Aber noch mehr Arbeit?« Melitta Feenders sah ihre Enkelin mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck an.

»Es müsste irgendetwas mit größerer Verantwortung sein … aber was?« Lilli schaute ihre Großmutter ratlos an.

Melitta Feenders überlegte einen Moment. Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. »Ich habe eine Idee!«

»Und welche?«

»Warte mal ab, ich muss erst mit Oltmanns sprechen, ob das geht.«

»Was haben unsere Nachbarn damit zu tun?«

»Das verrate ich dir, wenn es geklappt hat.« Melitta Feenders begann zu lachen. »Dein Bruder wird Augen machen!«

Georg staunte nicht schlecht über den Vorschlag seiner Großmutter. Die alte Dame war klug genug, ihren Enkel nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen. Den Hintergrund ihrer Idee verriet sie ihm wohlweislich nicht.

»Und ab wann soll das sein?«

»Wenn du willst, kannst du gleich rübergehen.«

»Mensch, Oma, das ist ’ne tolle Idee, danke!« Weg war er.

Ein Weilchen später kam er zurück – mit einer Schubkarre. Und darin lag auf einer Decke ein kleines Hundekind, ein braun-grau gefleckter Jagdterrierwelpe.

»Oh, ist der niedlich!« Lilli war begeistert.

»Das ist kein der, sondern eine die!« Georg hob das kleine Tier vorsichtig hoch und nahm es auf den Arm. »Ich werde sie Antje nennen.«

»Und wer kümmert sich darum?« Lilli musste innerlich lachen, als sie die Idee ihrer Großmutter erkannte.

»Ich natürlich«, sagte Georg im Brustton der Überzeugung. »Frau Oltmanns hat mir genau erklärt, wie ich das machen muss. Swantje, die Hundemutter, hat vier Junge bekommen. Sie ist bei der Geburt leider gestorben. Daher wollen sie einen Welpen behalten und drei weggeben. Antje ist jetzt mein Hund!«

»Hoffentlich bringst du ihr nicht lauter Unsinn bei!«

»Lilli, wie kommst du denn da drauf?«, antwortete Georg empört. Dann musste er selber lachen. »Nee, nee, ich werde mir schon Mühe geben. Antje ist so klein, die kriegt noch die Flasche. Und wenn ich in der Schule bin, übernimmt Oma das, hat sie mir versprochen!«

Ob Georg wirklich weniger Unfug machte, ist nicht überliefert. Größere Zwischenfälle waren jedoch nicht mehr zu vermelden. Es gab nun zwei, die regelrecht unzertrennlich wurden. Nur als Antje eines Morgens in Georgs Bett lag, da protestierte seine Mutter energisch. Also wurde ein Hundekorb neben das Bett gestellt. Wenn Georg morgens zur Schule fuhr, heulte Antje regelmäßig. Wenn er mittags zurückkam, brachte sie sich bald um vor Freude. Für den Rest des Tages wich sie meist nicht mehr von seiner Seite.

*

Schon der »Anschluss« Österreichs und die Besetzung der Tschechoslowakei geschahen unter anderem, um sich der dortigen Industrie und der Bodenschätze zu bemächtigen. Sie waren unabdingbare Voraussetzungen für die weitere deutsche Aufrüstung.

Am 9. April 1940 um 5.15 Uhr morgens begann das Unternehmen »Weserübung«. Die Besetzung Dänemarks erfolgte aus militärstrategischen Gründen. Hauptziel war jedoch Norwegen mit seinen eisfreien Häfen wie Narvik, dem Endpunkt der von Schweden herführenden Erzbergbahn. Während der dänische König Christian X. seinen unvorbereiteten Truppen jegliche Gegenwehr untersagte, leisteten die Norweger erheblichen Widerstand. In mehreren Häfen des Landes kam es außerdem zu schweren Kämpfen mit den englischen und französischen Expeditionskorps. Vor allem die deutsche Kriegsmarine erlitt hohe Verluste.

10 – Marijke Dijkstra

Nieuweschans, Nederland, zaterdag, 4 mei 1940

Zij mocht de splinternieuwe fiets van haar ouders lenen.8 Es war eine geradezu unerhörte Neuheit, die dieses Rad darstellte. Es besaß nicht nur einen Freilauf, der es gestattete, auch einmal die Füße stillzuhalten, während das Rad dahinrollte – nein, es wies noch eine weitere Besonderheit auf. Ihre Eltern hatten lange gespart, überlegt und gerechnet. Da ihr Vater seine sichere Arbeit bei »de Nederlandse spoorwegen«, den Niederländischen Eisenbahnen hatte, konnten sich ihre Eltern dazu entschließen, dieses sündhaft teure Rad zu kaufen. Es war sozusagen das Familienrad. Sie hatte auch etwas dazu beigesteuert. Schließlich arbeitete sie seit einiger Zeit im Dorfladen der alten Frau Wijnands. Und sie, Marijke, durfte das erste Mal eine längere Fahrt mit dem neuen Rad unternehmen.

Das ganz Besondere an diesem Rad war die Gangschaltung. Die kam aus England von der berühmten Firma Sturmey-Archer. Drei Gänge, einfach über einen Hebel am Lenker zu schalten. Das Fahren mit diesem Wunderwerk war einfach herrlich, auch bei Gegenwind. Aus Groningen hatte ihr Vater das Prachtstück geholt. Die ganze Strecke war er damit hergefahren.

»Let goed op jezelf!«, hatte ihr Vater noch gesagt. Und Marijke fragte sich unwillkürlich, ob seine Sorge nun mehr dem Rad oder seiner Tochter galt. Sie war, wie man so schön sagte, een heel mooi meisje9, dem die Männer mittlerweile gerne nachschauten. Ihre Eltern erfüllte dies naturgemäß mit Freude und Sorge zugleich.

Marijke kümmerte das wenig. Sie hatte ein sonniges Gemüt und eine freundliche Art, und wenn ihr einer zu nahe kam, konnte sie ziemlich resolut werden. Bislang hatte das jeder respektiert und so machte sie sich keine allzu großen Gedanken. Für einen Freund, Verehrer, Kavalier oder wie auch immer man das nennen wollte, fühlte sie sich einfach noch zu jung.

Marijke rollte mit dem schönen neuen fiets die Straße entlang, die nach Bunde führte. Die Grenze zum Deutschen Reich beschrieb hier eine Ausbuchtung, einen spitzen Zipfel, der in das Nachbarland hineinragte. Früher hatte an dieser Stelle vielleicht einmal jemand vom Zoll oder ein Polizist gestanden, meistens jedoch überhaupt niemand. Nun befand sich am Ortsende der Posten van de »Koninklijke Landmacht«10, ein kleines Wachlokal, eine Holzbaracke und eine Barriere von Sandsäcken in der Form eines Hufeisens. Daraus lugte ein Maschinengewehr hervor. Die beiden wachhabenden Soldaten winkten ihr freundlich zu. Im November 1938, nach den fürchterlichen Anschlägen auf die Synagogen, als immer mehr Juden in die Niederlande geflohen waren, hatte man offiziell nur noch wenige Flüchtende aufgenommen und ansonsten die Grenze geschlossen, um den mächtigen Nachbarn nicht zu provozieren. Häufig schauten jedoch niederländische Grenzbeamte und Soldaten in die andere Richtung, wenn Flüchtlinge die Grenze passieren wollten. Herzloses Verhalten kam für die meisten nicht infrage. Auch dieser Militärposten war seit dem schrecklichen September, dem Kriegsausbruch im letzten Jahr, noch einmal verstärkt worden. Auf der anderen Seite der Grenze bei den Deutschen war es ähnlich. Es herrschte Krieg zwischen Deutschland und den Alliierten, England und Frankreich. Und keiner wusste, ob und wann der Wahnsinn im Westen richtig losgehen würde. Respektierten die verfeindeten Mächte die niederländische Neutralität, wie dies im »wereldoorlog«, dem großen Krieg, der Fall gewesen war?

Vom deutschen Posten wurde Marijke allerdings kontrolliert, ihr »persoonlijk document« sorgfältig studiert.

»Gute Fahrt, Fräulein Dijkstra!«, wünschte der Wachhabende und trat aus dem Weg. Höflich waren sie, die deutschen Wachposten. Meist trugen sie keine Helme, sondern nur diese komischen Mützen. Das ließ sie ein wenig menschlicher erscheinen.

Normalerweise hätte Marijke die Emsfähre bei Leerort genommen. Der Bau der neuen Brücke, vor drei Jahren begonnen, war noch nicht fertig. An der Dampffähre gab es oft längere Wartezeiten. So hatte sie beschlossen, über Bunde und Weener zu fahren und den Bohlenweg an der großen Eisenbahnbrücke über die Ems zu nehmen, obwohl es ein Umweg war.

Dort an der Emsbrücke stand zwar ein Posten, der sie sehr höflich bat, einen Blick in ihre Fahrradtaschen werfen zu dürfen, aber das war es auch schon.

»Obacht!«, hatte der Soldat noch gesagt. »Die Bohlen sind glitschig, schieben Sie Ihr Rad lieber!«

Nun ging es den alten Klosterweg entlang bis zur nächsten Eisenbahnbrücke. Die führte über die Leda. Aber was war das?

Mitten auf dem Weg zur Brücke mit ihrem seitlichen Übergang stand wiederum ein Posten. Groß, mit grimmigem Gesichtsausdruck, Stahlhelm auf dem Kopf und einem geradezu bösartig aussehenden Gegenstand in den Händen!

Een machinepistool, dachte Marijke.

»Kein Durchgang! Umdrehen!« Der grimmige Soldat unterstrich seine Worte durch eine unmissverständliche Bewegung mit seiner grässlichen Waffe.

Marijke machte kehrt und murmelte nur noch: »Als je me niet bijt, bijt ik jou ook niet!«11

»Werden Sie nicht frech, junge Frau!«

Ooch, jetzt verstand der widerliche Kerl auch noch ihre Sprache! Sie machte, dass sie fortkam. Sie wusste, ein wenig weiter führte die Brücke der Reichsstraße 70 über den Fluss.

Gleich darauf blieb sie wieder stehen, denn sie hatte etwas Merkwürdiges gesehen. Ein ganzes Stück hinter der Brücke, auf einem Seitengleis – da stand etwas, das dort irgendwie nicht hingehörte. Sie blickte noch einmal in die Richtung, aber das Ding war auf diese große Entfernung im Dunst des Tages nicht recht auszumachen. So richtig wie ein Zug sah das nicht aus. Schon wurde der Posten wieder auf sie aufmerksam.

»Weiterfahren!«, brüllte er. »Hier gibt’s nichts zu sehn!«

Marijke setzte sich sofort wieder in Bewegung. Wer konnte schon wissen, was diesem moffen als Nächstes einfiel. Aber warum machte der solch einen Aufstand? Die anderen deutschen Soldaten hatten sich dagegen ganz freundlich verhalten. Egal, weiter! Auf der Straßenbrücke über die Leda und noch ein ziemliches Stück zwischen Weideland dahin, dann hatte sie Leer erreicht. Auf der Bremer Straße fuhr sie über den großen Bahnübergang, um gleich darauf an den Gleisen entlang den Weg nach Norden einzuschlagen.

Bah, was für ein Mullsand. Das Vorderrad ihres schönen fiets grub sich ständig ein. Das fehlte noch, sich hier mit ihrem Prachtstück langzulegen. Auf einmal kam von hinten ein motorfiets herangerast. Der Kerl fuhr für einen Moment neben ihr her und sie erschrak fast zu Tode. Stahlhelm, Schutzbrille und ein hässlicher grauer Gummimantel. Er brüllte durch den Motorenlärm: »Mädel, runter von der Straße!« Mit der stulpenbewehrten Hand deutete er nach hinten.

Panzer!

Marijke flüchtete nach links hinter die Baumreihe. Und da fegten sie auch schon vorbei. Große Dinger mit acht Rädern und in einem Höllentempo. Der Kradfahrer war bereits ganz weit vorne, stand jetzt am Logaer Weg und sperrte die Straße. Die Panzer rasten, ohne die Fahrt zu vermindern, über die Kreuzung hinweg und verschwanden in der Ferne – auf demselben Weg, den Marijke nehmen wollte.

Sie wartete, bis der Staub sich gelegt hatte, dann fuhr sie gemächlich weiter. Rheidersum kam in Sicht.

Och nee, nicht auch noch hier. Militär, wohin sie blickte. Auf der Hauptstraße stand die Schützenpanzerkolonne, die eben noch an ihr vorbeigerast war. Dort lag der große Bauernhof, schon fast ein Gutshof mit seinem großen Gulfhaus und dem angebauten Scheunenteil. Hier wohnte ihre Freundin, die sie endlich wieder einmal besuchen wollte. Sie zog an dem Griff, der die mechanische Glocke in Gang setzte. Das laute Schellen konnte man bis in den Stallbereich hören, wie sie wusste.

Gleich darauf öffnete Georg Feenders mit seinem Hund im Schlepptau die Tür: »Moin, Marijke, kumm rin!« Das unvermeidliche Grinsen – von einem Ohr zum anderen, wie sie dachte – fehlte auch diesmal nicht.

»Halloo, hoe gaat het?«, begrüßte sie ihn und kraulte Antje hinter den Ohren.

»Oh ja, all heel mooi! Lilli is achtern in de Stal!« Er deutete mit dem Daumen der erhobenen Rechten hinter sich. »Jümmers doorlang!«

Ihre Unterhaltung wurde meist in dieser komischen Mischung aus niederländischer Sprache und ostfriesischem Platt geführt. Beides klang recht ähnlich. Verständigungsprobleme gab es nicht.

Im Stall traf Marijke auf eine bunte Gesellschaft. Lilli stand dort und unterhielt sich mit mehreren Soldaten. Einer führte gerade zwei Reitpferde in leer stehende Boxen. Trakehner, wie Marijke am Brandzeichen, der Elchschaufel, feststellte. Es waren wunderschöne Tiere.

Die beiden Freundinnen umarmten sich zur Begrüßung.

»Warum so viel Militär?«

»Ich weiß nicht recht! Man sagte uns vor der Einquartierung, es sei eine Übung!« Lilli zuckte die Schultern.

Mitten in der Scheune war ein gewaltiger Heuhaufen aufgetürmt, wohl bald vier Meter hoch. Einer der Soldaten, der mit drei oder vier jungen Katzen spielte, machte sich einen besonderen Spaß. Er nahm eine und warf sie hoch in die Luft, sodass sie auf dem Heuhaufen landete. Marijke und Lilli schauten gespannt nach oben. Zunächst passierte gar nichts. Dann erschienen dort zwei Ohren, gleich darauf zwei große Augen. Die Katze setzte sich regelrecht auf ihren Hintern und rodelte den Heuhaufen hinunter. Sie rannte gleich wieder zu dem Soldaten und schaute ihn erwartungsvoll an.

Dieser lachte. »Noch mal?« Im nächsten Moment flog das fidele Katzenkind wieder nach oben und das Spiel wiederholte sich. Nun wurden auch die anderen jungen Katzen aufmerksam und bald darauf gab es ein munteres Katzenfliegen. Die Kleinen konnten gar nicht genug davon bekommen. Der Soldat, sicher noch keine zwanzig Jahre alt, kam aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, bis … Die beiden Mädchen hatten den Offizier gar nicht bemerkt, der plötzlich neben ihnen stand.

»Gefreiter Dieckmann! In drei Minuten sind Sie startklar und melden sich bei mir!«

»Jawoll, Herr Hauptmann!«, brüllte der Soldat überrascht und salutierte – mit einer Katze in der linken Hand.

Die beiden Mädchen bogen sich vor Lachen. Es hätte eher in den Film von Pat und Patachon gepasst, den die beiden sich kürzlich im Kino angesehen hatten. Der Offizier ging nur kopfschüttelnd wieder nach draußen, ohne ein weiteres Wort über diese tierische Grußvariante zu verlieren.

Der Gefreite setzte schnell die Katze auf den Boden und rannte … Da sah Marijke das Motorrad, das halb verborgen hinter dem großen geöffneten Scheunentorflügel stand, und erkannte den Soldaten wieder, der sich in Windeseile anzog. Es war der Kradmelder, der sie in fürsorglicher Rauheit vom Sandweg gescheucht hatte. Das war ja noch ein großes Kind, das hier den Soldaten geben musste!

Der junge Kerl wuchtete die Maschine vom Ständer und schob sie eilends nach draußen. Der Hauptmann erteilte den Fahrbefehl und drückte ihm einen Papierstoß in die Hand, den der Gefreite in seiner großen Umhängetasche verschwinden ließ.

Als der Kradmelder davongebraust war, trat Marijke zu dem Offizier: »Meneer, ich möchte Sie etwas fragen!«

»Nur zu, junge Dame! Sie sind Holländerin?«

Marijke nickte nur. Diese Bezeichnung ihrer Nationalität war sie von den Deutschen gewohnt. Wer von ihnen wusste schon, dass ihr Heimatland die Vereinten Niederlande waren und Holland, genauer gesagt Nord- und Südholland zwei ihrer Provinzen. Aber das war lediglich eine der Feinheiten, die man nicht unbedingt erörtern musste.

»Meneer, was machen Sie und Ihre Männer hier?«, fragte sie ihn direkt und unverblümt.

Der Hauptmann zögerte für einen Sekundenbruchteil. »Sie wissen, dass Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärt haben …«

»Nachdem deutsche Truppen Polen überfallen haben«, platzte Marijke heraus.

»Das mag Ihre Ansicht sein. Wir sind jedenfalls hier, weil unsere Führung befürchtet, dass die alliierten Truppen die Neutralität Ihres Landes missachten und uns von dieser Seite her angreifen. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme!«

Marijke sah ihn an und schoss ihre nächste Frage ab: »Ich dachte, das deutsche Militär sei komplett motorisiert. Warum haben Sie so viel Kavallerie?«

Der Offizier setzte zu einer spontanen Antwort an, stockte aber für einen winzigen Moment.

Marijke war dies nicht entgangen. Der wusste mehr, als er zugeben wollte!

»Daran sehen Sie, dass wir nur lautere Absichten haben. Wir nutzen die Pferde für Patrouillenritte im unwegsamen Gelände. Einen Krieg kann man mit ihnen heute nicht mehr führen.«

»Danke, meneer. Einen friedlichen Sommer wünsche ich Ihnen – und uns allen!«

Der Hauptmann nickte freundlich und ging langsam davon. Er sollte sie nicht für dumm halten, dachte die junge Niederländerin. Pferde für Patrouillenritte! Auf den angrenzenden Weiden hatte sie wohl mehr als hundert gesehen. So viele konnte man dafür gar nicht brauchen. Aber bei der Bodenbeschaffenheit vieler niederländischer Gebiete umso besser!

Marijke lief es eiskalt den Rücken herunter.

Sie ahnte nicht, unter welch merkwürdigen Umständen sie diesem deutschen Offizier Jahre später wiederbegegnen sollte.

Beim gemeinsamen Tee im Kreise der Familie Feenders kam unter anderem – nachdem man sich allgemein über die aktuelle Lage sehr besorgt gezeigt hatte – wieder unweigerlich die Sprache darauf, wie Marijke und Lilli sich kennengelernt hatten. Und Melitta Feenders, die Großmutter, bat die beiden, die Geschichte noch einmal zu erzählen. Die alte Dame schmunzelte. »Ihr wisst ja, ich kenn das schon. Aber ich möcht es gerne noch einmal hören. Es ist einfach zu komisch.«

»Ja«, sagte Marijke und lachte allein schon bei dem Gedanken an diese Episode. »Es war auch lustig. Also, das war so …«

Beim Gallimarkt vor etwa anderthalb Jahren, also im Oktober 1938, hatten die beiden Mädchen bei einem der Händler ein Kleid erspäht, und zwar praktisch zur gleichen Zeit. Es hatte ihnen ausnehmend gut gefallen und es gab nur noch eines davon, und da die beiden jungen Damen dieselbe Konfektionsgröße hatten … Nun hätte man meinen können, dass sich daraus ein Streit entwickelt hätte – aber nein, keineswegs. Eine wollte der anderen den Vortritt lassen, das Vorkaufsrecht sozusagen. Das jedoch wollte jeweils die andere aus lauter Höflichkeit nicht zulassen. Geradezu blitzartig war beiderseits der Funke übergesprungen und die beiden Mädchen machten sich einen Spaß daraus, sich gegenseitig das Kleid in den höchsten Tönen anzupreisen. Weitere Besucher wurden auf die Ulkvorstellung der beiden aufmerksam, die sich geradezu bühnenreif entwickelte, worauf die Mädchen sich angespornt fühlten, jeweils noch eins draufzusetzen. Der Verkäufer lachte auch – zunächst jedenfalls, bis – ja, bis die jungen Damen fast wie aus einem Munde lachend erklärten, sie könnten sich einfach nicht einigen und müssten daher leider beide auf das Kleid verzichten. Da lachte der Händler nicht mehr, die Umstehenden dafür umso mehr. Unter großem Applaus hatten die beiden den Ort der Vorstellung verlassen.

»Koffie klaar!«, hatte Marijke zum Ende des fröhlichen Unfugs gesagt und sich die Lachtränen aus dem Gesicht gewischt, von Lilli prustend begleitet. Lachend wie zwei übermütige Hühner waren sie einander untergehakt in das nächste Café gegangen.

Aus dieser Begegnung hatte sich eine feste Freundschaft entwickelt. Eine sah in der anderen so etwas wie eine Schwester, die sie beide leider nicht hatten. Marijkes Mutter konnte nach einer schweren Operation, bei der die Ärzte nur unter Aufbietung aller Kunst ihr Leben retteten, keine Kinder mehr bekommen. Und Lilli, sie hatte noch eine jüngere Schwester gehabt, die bereits im Alter von drei Jahren an einer schrecklichen Lungenentzündung gestorben war. Ihren Bruder Georg liebte sie zwar herzlich, besonders wenn sie wieder eine seiner Verrücktheiten ausbügeln konnte und durfte, aber ein Ersatz für eine Schwester war dieser komische Vogel natürlich nicht.

*

Familie Feenders bewunderte noch ausgiebig das schöne neue Fahrrad – Georg konnte nur mit Mühe von einer Probetour abgehalten werden –, dann brach Marijke zur Heimfahrt auf.

Da fiel ihr wieder deze walgelijke kerel met de machinepistool12 ein. Dem wollte sie nicht wieder begegnen. Andererseits, der war bestimmt schon abgelöst worden. Aber was hatten die da zu verbergen? Dazu dieser massive Aufmarsch an Truppen, der nur eines bedeuten konnte.

Marijke konnte machen und denken, was sie wollte. Der Gedanke an dieses seltsame Ding auf den Gleisen zog sie geradezu übermächtig an. Fast wie von allein fuhr das fiets mit ihr wieder denselben Weg zurück. Kurz vor Erreichen der Leda schaute sie nach rechts. Weiden, Felder, weit hinten hohes Gestrüpp, eine gewaltige Hecke. Dahinter in einem leichten Geländeeinschnitt musste die Bahnlinie sein, das Nebengleis, das seltsame Ding. Wie sollte sie dort hinkommen? Über Gräben und Zäune? Ihr Blick fiel auf eine alte Feldscheune, halb von den Zweigen der Hecke verdeckt. Ein Weg, fast zugewachsen, führte dorthin. Marijke schob ihr Rad und lehnte es an die Rückwand des halbverfallenen Gebäudes. Ihr schlug das Herz jetzt bis zum Hals. Sie arbeitete sich so leise wie möglich durch den Bewuchs. Blutige Kratzer, egal. Jeden Schritt, jede Bewegung bedachte und plante sie genau. Wahrscheinlich waren da noch mehr solcher Kerle wie der Brückenposten.

Schließlich hatte sie es geschafft. Sie konnte von ihrem Platz aus nur einen Teil dieses seltsamen Dings in Augenschein nehmen. Es war tatsächlich ein Zug. Aber so einen hatte sie noch nie gesehen. Sie befand sich direkt neben der Lokomotive, erkennbar nur an den Speichenrädern, Schornstein und Führerhaus. Dieses Gefährt war komplett mit Panzerplatten versehen. Vorneweg, wenn sie in Richtung der Leda schaute, drei Waggons, ebenfalls gepanzert. Nur schmale Sehschlitze gaben Sicht nach außen. Auf dem ersten Waggon befanden sich zwei flache Kanonentürme, aus den beiden anderen ragten kleinere Waffen. Hinter der Lok – aber das konnte sie wegen des dichten Gestrüpps nicht recht erkennen – befanden sich noch weitere Waggons. Aus dem Führerstand der Lok waren plötzlich Stimmen zu vernehmen. Marijke erschrak. Wenn man sie entdeckte? Nicht auszudenken, was die mit ihr machen würden. Sie hatte in der letzten Zeit schlimme Dinge gehört. Gesehen hatte sie ohnehin genug – das war ein Panzerzug! Dieses Ding sah aus wie ein Schlachtschiff, das an Land gegangen war.

Von der Bahnlinie, die über die Leda in Richtung Papenburg und weiter nach Rheine führte, zweigte wenige Kilometer hinter der Flussbrücke eine eingleisige Strecke ab. Und diese führte über die Emsbrücke bei Weener, die sie auf der Herfahrt genommen hatte, in einem weiten Bogen in die Niederlande, durch Nieuweschans!

Marijke hörte ihren eigenen Herzschlag, es rauschte in ihren Ohren. So rasch und leise wie möglich arbeitete sie sich wieder durch das Gestrüpp und griff ihr Fahrrad. Nicht noch einmal am Ledabrückenkopf vorbei! Daher raste sie, als wäre der Teufel hinter ihr her, ein weites Stück zurück, durch Leer und Richtung Ems nach Leerort. Sie hatte Glück, die Fähre legte gerade an. Der nahe Militärposten nahm kaum Notiz von ihr. Marijke schob ihr Rad auf das Fahrzeugdeck und bezahlte ihren Obolus bei einem der Fährleute.

Dieser schaute sie fast besorgt an. »Mädchen, was ist denn mit dir geschehen? Du siehst ja ganz zerkratzt aus! Hat dich etwa einer …?«

»Nee, nee, alles in Ordnung!« Sie wollte nur weg, nach Hause.

Beim Verlassen der Fähre auf dem westlichen Emsufer versperrte ihr einer der Wachposten den Weg: »Dein Licht!«

Ach herrje, daran hatte sie gar nicht gedacht. Durch ihr Abenteuer und diese halbe Rückfahrt war es viel später geworden, als sie eigentlich geplant hatte. Es wurde schon dunkel.

»Ik heb mijn aansteker vergeten!«

Der Soldat stutzte für einen Moment: »Ach so, du hast dein Feuerzeug vergessen! Kein Problem!« Er zog eines aus der Tasche, öffnete die Karbidlampe an Marijkes Rad und entzündete den Brenner.

»Bedankt!« Marijke schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln, das der Posten erwiderte. Dann hatte sie freie Fahrt.

Es war schon völlig dunkel, als sie, ein letztes Mal von Deutschen kontrolliert, den Ortseingang von Nieuweschans erreichte.

»Stop, bliejf staan!« Ein Soldat mit dem Gewehr in Anschlag kam auf sie zu. Ein weiterer leuchtete ihr mit seiner Lampe ins Gesicht. War denn die ganze Welt verrückt geworden?

»Oh, Marijke! Zo laat?«, sagte der Posten überrascht. »Je kunt doorgaan!«

»Ik moet met een officier spreken – onmiddellijk!« Sie war von ihrem eigenen Tonfall überrascht. Der Soldat grinste und salutierte: »Ja, mevrouw generaal!«

Marijke machte ihm unmissverständlich klar, dass dies keineswegs ein Witz, sondern sehr wichtig sei.

»Unser Kapitein ist in der Baracke«, antwortete der Soldat und hob die Handlampe.

In seiner Begleitung trat sie in das kleine Holzgebäude. Der Offizier schaute erstaunt auf.

»Kapitein, ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu berichten!«

Der Gesichtsausdruck des niederländischen Offiziers wurde sehr ernst.

»Von dem vielen Militär wissen wir. Aber ein Panzerzug bei den Deutschen? Und Sie versichern mir auf Ehre und Gewissen, dass dies stimmt?«

»Ja, was glauben Sie, weshalb ich unbedingt mit einem Offizier sprechen wollte und warum ich so aussehe?« Sie wies auf ihre Schrammen im Gesicht und an den Händen.

Der Offizier griff zum Telefon und ließ sich mehrfach durchstellen: »Ja, Colonel Weemstra, snell!« Endlich hatte er den Gesuchten erreicht und gab den Bericht des Mädchens einschließlich ihres Namens weiter. Gleich darauf drückte er der überraschten Marijke den Hörer in die Hand.

»Colonel Weemstra, Koninklijke Landmacht … Marijke Dijkstra ut Nieuweschans?«

Das Mädchen bejahte. Der Offizier wollte auch die letzten Details wissen, ob die Lokomotive unter Dampf gestanden habe … und … und … und.

Marijke versuchte, alle Fragen so gut wie möglich zu beantworten.

»Sei vielmals bedankt. Das war sehr wichtig für uns!«

Das Mädchen war regelrecht erschöpft, endlich lag der Telefonhörer wieder auf der Gabel.

Schließlich traf sie zu Hause ein.

»Marijke, endlich, da bist du ja wieder. Wir waren so besorgt!«

*

Unter dem Eindruck der furchtbaren Ereignisse im Deutschen Reich am 9. November 1938 verfasste der niederländische Dichter Eduard Hoornik (1910–1970) wenige Tage später das Gedicht »Pogrom«.

Er, der Deutschland, und vor allem Berlin, gut kannte, thematisierte darin die antisemitischen Ausschreitungen und die brennenden Synagogen. Dem Leser, der sich zunächst in Berlin wähnt, wird in ebenso erschreckender wie hellsichtiger Art und Weise das Schicksal vor Augen geführt, welches den niederländischen Juden droht, denn …

… Amsterdam liegt nur zehn Zugstunden von Berlin entfernt!

8 Sie hatte sich das nagelneue Fahrrad ihrer Eltern ausleihen dürfen.

9 Ein sehr hübsches Mädchen.

10 Königliche Landstreitkräfte.

11 Wenn du mich nicht beißt, beiß ich dich auch nicht!

12 Dieser widerliche Kerl mit der Maschinenpistole.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 148,15 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
385 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783839267387
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают