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3 – Wotans Mickymaus

Im November 1928 erschien der erste Micky-Maus-Film unter dem Titel »Steamboat Willie« in den US-Kinos. Im Jahre 1930 kam der Streifen über den Atlantik und wurde auch in Deutschland schnell populär. Hier entwickelte sich eine besondere Version der Trickfilmfigur, die im folgenden Kapitel eine Rolle spielen wird.

*

Rheidersum, Mittwoch, 15. Mai 1935

Die mechanische Türglocke läutete Sturm, unterbrochen nur von einem Hämmern gegen die Haustür, gefolgt von verzweifelten Rufen, und das morgens um halb sechs. Ilse Feenders lief zur Tür, öffnete sie und wurde fast umgerannt. Marga Strodt­hoff, ihre Schwägerin, stürzte in den Flur, zitternd am ganzen Körper, weinend, völlig aufgelöst.

»Marga, was ist mit dir, was ist passiert?«

»Sie haben ihn abgeholt. Wo ist mein Bruder? Er muss helfen!«, stieß sie hervor.

»Helfried ist noch im Stall beim Melken. Und wer hat wen abgeholt?«

»Theo haben sie gerade geholt! Die Gestapo!«

»Warum? Moment eben!« Mit lauter Stimme rief Ilse Feenders: »Lilli, hol Papa aus dem Stall. Es ist etwas passiert. Er soll schnell kommen!«

Elisabeth, die fünfzehnjährige Tochter, hastete die Treppe herunter, lief durch den langen Flur, riss die Tür auf und verschwand in der Diele, die in den angrenzenden Stall führte.

Keine Minute später stand Helfried Feenders vor seiner von Weinkrämpfen geschüttelten Schwester: »Marga, nun komm. Wir gehn jetzt in die Stube, da vertellst du uns alles!« Er schob sie zum Sofa, drückte sie auf die Polster und setzte sich neben sie: »Was ist passiert?«

Marga antwortete schluchzend und stoßweise: »Die – Gestapo – hat – Theo – abgeholt!«

»Warum? Haben sie etwas gesagt?«

»Nee, das würde er schon auf der Dienststelle erfahren!«

Ilse Feenders drückte ihrer Schwägerin ein Glas Korn in die Hand: »Trink das, damit du wieder beikommst!«

Helfried ergriff das Glas und führte es seiner Schwester zum Mund.

»Bah, Schnaps am frühen Morgen!«

»Wenn die Gestapo kommt, reicht ’ne ganze Buddel nicht!«, entgegnete Helfried. »Mal ehrlich, hat Theo vielleicht den Schnabel wieder zu weit aufgemacht?«

»Du meinst …?«

»Ich weiß es nicht, ist nur so ’ne Vermutung. Was er von den Braunen hält, hat er ja oft genug gesagt.«

»Was machen wir denn nun? Ich muss doch wissen, was mit ihm ist!«

»Bei der Gestapo nachfragen? Das macht keiner, Marga! Und die Schupos wissen meist nicht, was die Ledermäntel treiben.«

»Aber ich muss doch …«

»Ganz ruhig, Marga. Lass mich eben ’n Moment überlegen … Erinnerst du dich noch an den alten Kriminalrat Tammen aus Leer?«

»Das war doch der, der Berend die Mane als den Mörder der kleinen Gesa Hellmann überführt hat!«

»Genau der!«

»Tammen ist aber nicht mehr im Dienst.«

»Egal, wenn hier einer helfen kann, dann er! Und dass er nicht mehr im Dienst ist, kann sogar von Vorteil sein. Denn unserem Dorfpolizisten möchte ich mit der Bitte nicht kommen. Aber der weiß vielleicht, wo Tammen wohnt.«

Kriminalrat Tammen war in seiner Dienstzeit eine Kapazität auf seinem Gebiet gewesen, in den Kreisen seiner Kundschaft geachtet und gefürchtet zugleich. Bekannt wurde er durch seine rasche Ermittlungsarbeit und sein Verhalten in dem bereits erwähnten Mordfall, der sich im Frühjahr 1930 nahe dem sonst so friedlichen Ort Rheidersum zugetragen hatte. Die zehnjährige Gesa Hellmann, Tochter des Dorfschullehrers, war abends nicht nach Hause gekommen. Ein eilig zusammengetrommelter Suchtrupp fand kurz darauf ihre entsetzlich zugerichtete Leiche an einem Weg nahe der Bahnstrecke zwischen Leer und Emden. Das Kind war missbraucht und mit einem großen harten Gegenstand erschlagen worden. Recht bald geriet der jugendliche Berend de Buhr ins Visier des Kriminalrats. Berend war von Geburt an schwachsinnig, galt aber als harmlos. Seinen Beinamen »die Mane« hatte der Junge erworben, als er eines Abends auf die untergehende Sonne deutete und sagte: »Dat is die Mane!«, was so viel heißen sollte wie: »Das ist der Mond!«

Lehrer Hellmann hatte sich sehr um den Jungen bemüht, letztlich aber keinen Erfolg gehabt. Selbst einfachste Rechenaufgaben, mit Knöpfen dargestellt, konnte der Junge nicht verstehen. Er starrte nur fasziniert auf die Knöpfe und stotterte: »Dat is ja ’n heel anner Knoob!«2

Danach gab der Lehrer auf. Entgangen war ihm jedoch, dass der in die Pubertät gekommene Berend ein gewisses ungutes Interesse an seiner Tochter, der kleinen Gesa, entwickelte. Dies endete schließlich in der Katastrophe.

Tammen, der im Umfeld der Lehrersfamilie genauestens recherchierte, stieß auf Berend de Buhr. Er fand sich in die eigenartige Sprache des Jungen, der ihm schließlich den ganzen Hergang erzählte, inklusive des Wissens, das nur der Täter haben konnte. Den Stein, mit dem Gesa erschlagen worden war, fand man unter seinem Bett.

Als Berend de Buhr von Polizeibeamten abgeführt werden sollte, stürzte der Lehrer Hellmann, mit einer Axt bewaffnet, wie von Sinnen auf den Mörder seiner Tochter los. Kriminalrat Tammen trat ihm in den Weg, hob nur die Hände ein wenig und sagte ruhig: »Das wirst du nicht tun, Hellmann. Und auf mich gehst du ja schon gar nicht los.«

Die beiden Schupos, die bereits ihre Pistolen gezogen hatten, brauchten nicht mehr einzugreifen. Tammen nahm dem Lehrer, der wie erstarrt stehen geblieben war, die Axt aus den Händen. Hellmann brach weinend zusammen. Vom Kriminalrat mühsam wieder aufgerichtet, wurde er zum Haus des Pastors gebracht, der sich weiter um ihn kümmerte.

Kriminalrat Otto Tammen hatte noch eine andere Seite, die wenig später zutage trat. Mit den braunen Flegeln, wie er sie gelegentlich zu nennen pflegte, konnte er rein gar nichts anfangen. Vor der Machtergreifung hatte er einige SA-Leute nach einer Schlägerei, die mit einem toten Kommunisten endete, vorläufig festnehmen lassen. Die neuen Herren im Lande wollten ihn loswerden und hatten ihn kurzerhand vom Dienst suspendiert. Da der verdiente Kriminalrat aber einflussreiche Fürsprecher besaß, hatte man ihn schließlich mit voller Pension anderthalb Jahre eher in den Ruhestand geschickt.

Und dieser Mann sollte nun nach dem Verbleib von Theodor Strodthoff, dem Saatguthändler aus Rheidersum, forschen.

Der Dorfpolizist wunderte sich zwar ein wenig über Helfried Feenders’ Ansinnen, stellte aber keine weiteren Fragen und nannte ihm die Adresse des alten Kriminalrates.

»Was wünschen Sie?« Eine ältere Frau hatte Helfried Feenders die Tür geöffnet. Misstrauisch schaute sie ihn an.

»Frau Tammen? Moin, Feenders ist mein Name, aus Rheidersum. Könnt ich wohl Ihren Mann sprechen?«

»Worum geht es denn?«

»Das möcht ich ihm lieber selber sagen. Ist eine ziemlich vertrackte Geschichte. Vielleicht weiß Ihr Mann einen Rat.«

Die Verzweiflung musste Helfried Feenders im Gesicht gestanden haben, denn die Frau antwortete nach kurzem Zögern: »Na, denn kumm Se man rin. Hoffentlich bring’ Se kien’ Ärger mit!«

Der alte Kriminalrat saß in der Küche und sah von der Zeitung auf, als seine Frau mit dem Besucher hereinkam. Er stand auf. »Moin, Herr Feenders!« Tammen freute sich über das verblüffte Gesicht. »Wir hatten im Mordfall Hellmann kurz miteinander gesprochen!«

»Dass Sie sich noch an mich erinnern?«

»Ich bin zwar ’n büschen älter geworden und außer Dienst, aber hier oben funktioniert noch alles!« Er tippte sich leicht an den Kopf. »Schreckliche Sache damals mit der kleinen Gesa. Aber deshalb sind Sie bestimmt nicht hier!«

»Nee, da haben Sie recht! Könnte ich eben mit Ihnen allein sprechen? Nichts für ungut, Frau Tammen, aber das ist, wie ich eben schon sagte, eine sehr vertrackte Sache.«

Henrike Tammen nickte nur vielsagend und verließ die Küche. Helfried Feenders schloss die Tür leise und vorsichtig hinter ihr.

»Na, nun nehm’ Se man erst mal Platz. Tass’ Tee?«, fragte Otto Tammen.

»Danke, gern. Das ist so, Herr Kriminalrat …« Helfried Feenders erzählte die Sache mit der Verhaftung seines Schwagers und stellte die Frage, was wohl aus ihm geworden sei.

»Gestapo, sagten Sie?« Tammen atmete hörbar ein und schwieg eine Weile. »Mit denen habe ich rein gar nichts zu tun, möchte ich auch nicht! Aber ich werde versuchen, Ihnen zu helfen – unter einer, nein, zwei Bedingungen!« Er sah den Besucher prüfend an.

Der nickte nur wortlos.

»Wenn ich etwas herausgefunden habe, melde ich mich bei Ihnen. Sie warten und rühren sich nicht in der Sache, auch wenn es ein paar Tage dauert. Und die zweite Bedingung: völliges Stillschweigen!«

»Natürlich, Herr Kriminalrat!« Helfried Feenders wirkte erleichtert. »Danke, dass Sie uns helfen wollen. Meine Schwägerin ist schon völlig durch ’n Wind!«

»Ich werde tun, was ich kann. Also, Ohren steifhalten!« Mit diesen Worten verabschiedete Otto Tammen seinen Besucher.

Eine Woche war vergangen und in den Familien Strodthoff und Feenders wurde man immer nervöser.

»Helfried, meinst du, dass Tammen etwas unternimmt?«, fragte seine Schwester.

»Ja, Marga, in den Mann habe ich absolutes Vertrauen! Der wird schon kommen!«

Er kam und seine Botschaft war kurz und knapp: »Also, er lebt. Das ist die Hauptsache! Man hat ihn ins Konzentrationslager Börgermoor gebracht, zur Umerziehung!«

»Umerziehung?«

»Ja, Frau Strodthoff! Ihr Mann muss sich schon des Öfteren sehr negativ über die neuen Herren geäußert haben. Die Gestapo hatte ihn bereits einmal vorgeladen und verwarnt. Aber das hat ihn wohl nicht beeindruckt. Daher jetzt die Verhaftung.«

»Was bedeutet das? Kommt er irgendwann wieder frei?«

»Wenn er sich entsprechend führt, denke ich mal, haben Sie ihn in sechs Wochen wieder!«

»Und woher wissen Sie das – ich meine, dass er lebt und dass es ihm gut geht!«

»Von gut gehen habe ich nichts gesagt. Die Häftlinge müssen im Moor arbeiten bis zur Erschöpfung. Aber er lebt, so viel weiß ich. Und die Frage, woher ich das weiß, werde ich Ihnen nicht beantworten. Haben Sie einfach Geduld!«

»Vielen Dank, Herr Kriminalrat!«

»Noch etwas – es ist doch allgemein bekannt, dass unsere neuen Herren ihre Gegner in Arbeitslager stecken. Verharmlosend werden sie auch Konzertlager genannt.«

»Gegner! Wie sich das anhört! Er hat nur seine Meinung über das braune …«

»Sehen Sie, das kann schon zu viel sein!« Otto Tammen hatte warnend die Hand erhoben. »Sie sollten vorsichtiger sein!«

*

Kriminalrat a. D. Otto Tammen hatte mit seiner Vermutung richtiggelegen. Anfang Juli tauchte Theodor Strodthoff wieder zu Hause auf.

Elisabeth Feenders erschrak, als sie ihren Onkel Theo zum ersten Mal wiedersah. Diese graue Gestalt, dieser Mensch, der gar nichts mehr von dem ausstrahlte, das ihn vorher ausgemacht hatte, das sollte ihr Onkel sein? »Onkel Theo?« Lilli stand in der Wohnzimmertür. »Geht es dir einigermaßen?«

»Ooch, mien Deern, danke, recht gut!«

»Darf ich dich mal was fragen?«

»Wenn es wegen meiner Haft ist, nein! Deinen Eltern habe ich schon gesagt, was ich sagen darf. Jeden Tag zig Stunden Arbeit im Moor bis zum Umfallen und häufige Misshandlungen!«

»Das haben sie mir erzählt. Furchtbar, das sind keine Menschen, die so etwas machen. Ich weiß, dass du nichts weiter erzählen darfst. Sonst holen sie dich wieder und du kommst nicht zurück!«

»Dann ist doch alles klar!«

»Das ist es ja gerade, nichts ist klar! Warum machen die das? Das hat es doch früher nicht gegeben!«

»Wie sagt unser werter Führer? Wir leben in einer großen Zeit! Und da scheint alles erlaubt zu sein, was die Herrschaften sich herausnehmen.«

»Ja, aber der Führer tut auch viel Gutes. Dein Bruder hat eine gute Arbeitsstelle gefunden und dein Geschäft läuft wieder!«

»Kind, das ist alles richtig, aber …«

»Oh, Onkel Theo! Nenn mich doch nicht immer Kind!«

»Verzeihung, Lilli, du bist ja schon eine richtige junge Dame«, antwortete Theodor Strodthoff mit einem leichten Lächeln. »Das hätte ich bald vergessen! Setz dich mal hin. Ich will versuchen, dir das zu erklären, so gut ich kann.«

Die beiden nahmen am Wohnzimmertisch Platz.

»Sieh mal, nach dem verlorenen Krieg, an dem die damalige deutsche Regierung und der Kaiser einen großen Teil der Schuld trugen, haben die Sieger im Vertrag von Versailles …«

»Das ist ein Schandvertrag, sagt unsere BDM-Führerin. Ein richtiges Diktat wird er genannt!«

»Ja, aber weißt du, dass dieser Vertrag ein deutsches Vorbild hatte?«

»Wieso?«

»Als 1917 die Bolschewiken mit ihrer Oktoberrevolution in Russland Erfolg hatten – übrigens mit deutscher Hilfe –, war im Osten der Krieg zu Ende. Die Russen bekamen von Deutschland den Vertrag von Brest-Litowsk aufgezwungen und der war knapp zwei Jahre später in großen Teilen die Vorlage in Versailles!«

»Das wusste ich zwar nicht, aber was hat das mit den Nationalsozialisten zu tun?«

»Das will ich dir ja gerade erklären, soweit das kurz gefasst möglich ist!«

Lilli rutschte unruhig auf dem Sofa herum, das konnte dauern, wie sie ihren Onkel kannte. Außerdem passte ihr das so gar nicht in den Kram, wenn sie an die vielen schönen Erlebnisse beim BDM dachte, dem »Bund deutscher Mädel«. Irgendetwas stimmte da nicht!

»Die Sieger wollten Deutschland wirtschaftlich nicht wieder hochkommen lassen«, sprach Theodor Strodthoff weiter. »Sie wollten ein für alle Mal verhindern, dass sich so etwas wiederholte. Dass sie selber erheblich zum Ausbruch des Weltkriegs beigetragen hatten, interessierte dabei nicht. Deutschland lebte weit über zehn Jahre in mehr oder weniger großer Not und die gemäßigten Politiker fanden keine Lösung. Einer der wenigen, der etwas bei den Siegern erreichte, Gustav Stresemann, starb leider zu früh. 1929 kam, ausgehend von Amerika, die große Weltwirtschaftskrise …«

»Wir hätten bald unseren Hof verloren …«, unterbrach Lilli ihn.

»… und ich stand kurz vor der Pleite!«, ergänzte Strodthoff ihren Satz. »So ging es vielen Leuten! Die Radikalen in Deutschland lieferten sich Straßenschlachten und es gab jede Menge Mord und Totschlag!«

»Und dann kam der Führer und es war Ruhe!«

»Das ist zwar richtig, aber du übersiehst dabei, dass er und seine SA-Schläger die eine Seite der Radikalen waren und es heute noch sind!«

»Hauptsache, Ruhe. Sagt mein Papa!«

»Eben, und so denken die meisten Leute. Außerdem hat niemals eine Mehrheit des Volkes die Braunen gewählt, selbst in der letzten Wahl am 5. März ’33 nicht, bei der noch mehrere Parteien zugelassen waren. Erst durch eine Koalition mit der schwarz-weiß-roten Kampffront unter der Führung der Deutschnationalen hatten die Braunen die parlamentarische Mehrheit. Und um welchen Preis haben wir jetzt diese trügerische Ruhe?«

Oh je, jetzt doziert er wieder, dachte Lilli, das kann anstrengend werden. Sie fragte: »Wie meinst du das, um welchen Preis?«

»Man darf nicht mehr sagen, was man denkt! Wenn ich früher auf Brüning und Papen geschimpft habe, machte das gar nichts. Da hätte man es schon recht toll treiben müssen. Und heute? Ein paar falsche Sprüche und man landet im Konzen­trationslager!«

»Onkel Theo?« Lilli schaute ihn an. »Was hast du denn gesagt, dass sie dich eingesperrt haben?«

»Lilli!«

»Ja, ich weiß, du darfst nicht darüber reden.«

»Eigentlich ist das Ganze lächerlich, aber wenn du das zum Beispiel unter dem Siegel der Verschwiegenheit deiner besten Freundin erzählst und die sagt es weiter, dann war es das mit mir.«

Elisabeth zuckte ratlos die Achseln.

»Was soll’s, das ganze Wirtshaus hat es ohnehin mitbekommen. Aber du hältst wirklich den Mund?«

Lilli nickte wortlos.

»Ich habe erzählt, der dicke Hermann …«

»Göring?«

»Ja! Der ist doch so eitel mit seinen vielen Orden. Die habe er sich noch einmal aus Gummi anfertigen lassen, damit er sie auch in der Badewanne tragen kann.«

Elisabeth kicherte leise.

»Und unseren hochverehrten Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels habe ich als Wotans Mickymaus bezeichnet.«

Lilli presste sich die Hand vor den Mund und prustete los: »Goebbels als Mickymaus! Das ist gut!«

»Schließlich ist mir noch der Satz rausgerutscht: ›Lieber Gott, mach mich blind, dass ich Goebbels arisch find!‹«

Lilli lachte schallend: »Ich werd nicht wieder!«

»Ja, du lachst. Und fast alle anderen auch. Aber mir hat es sechs Wochen Arbeitslager eingetragen.«

»Wegen solcher Lappalien?«

»Ja!«

»Und wer hat dich verpetzt?«

»Weiß ich nicht. Das kann jeder gewesen sein. Es haben genügend Leute gehört.«

»Und nun?«

»Und nun?«, echote Theodor. »Halte ich meinen Rand und gehe nicht mehr ins Gasthaus! Wem soll man noch trauen? Und genau das ist es, was die heutigen Herren wollen!«

»Aber warum?«

»Verstehst du denn nicht, Lilli? Je mehr Leute aus Angst den Mund halten, desto ungenierter können die Braunen schalten und walten, wie sie wollen.«

»Aber was haben sie davon?«

»Hast du das Buch unseres geliebten Führers gelesen? ›Mein Kampf‹?«

»Ooch nee, der Wälzer hat über siebenhundert Seiten! Ich hab mal reingeschaut, als unsere BDM-Führerin sagte, jedes deutsche Mädel und jeder deutsche Junge sollte die Gedanken unseres Führers kennen.«

»Da hat sie völlig recht!«

»Wieso, ich denke, du magst die Braunen nicht?«

»Man sollte trotzdem – oder gerade deshalb – wissen, was unser glorreicher Führer vorhat.«

»Und? Was hat er vor?«

»Beispielsweise will er Land im Osten gewinnen, weil wir angeblich ein Volk ohne Raum seien. Weißt du, was das in letzter Konsequenz bedeutet? Krieg, das gibt den nächsten Krieg!«

»Ach, Onkel Theo, du bist immer so schrecklich pessimistisch. Das macht der Führer bestimmt nicht. Er redet doch immer vom Frieden!«

»Und warum schreibt er in seinem Buch etwas anderes?«

Lilli schaute nur ratlos.

»Oder die Sache mit den Juden.«

»Die Juden sind unser Untergang, sagt der Führer!«

»Und warum?«

»Papa ist mal von einem jüdischen Viehhändler übers Ohr gehauen worden!«

»Und bei mir haben treudeutsche Bauern ihre Rechnungen nicht bezahlt!«

»Das war in der Weltwirtschaftskrise. Und daran ist die jüdische Hochfinanz in Amerika schuld!«, antwortete Lilli mit leichtem Triumph in der Stimme.

»Und selbst wenn es so wäre. Sollen wir deshalb nicht mehr in jüdischen Geschäften kaufen? Was hat etwa der Kaufhausbesitzer Rosenfeld damit zu tun?«

»Der Führer wird es schon wissen!«

»Der Führer, der Führer«, räsonierte Strodthoff. »Weißt du, wie er mit den Juden umgehen will? Ziemlich am Ende des Buches schreibt er, man hätte einige Tausend von ihnen unter Gas halten sollen. Das empfiehlt unser famoser Führer, auch wenn er das in seinem Buch auf das Ende des Weltkrieges bezogen hat.«

»Das kann nicht wahr sein. So wie an der Front mit Giftgas?«

»Lilli, ich kann das jetzt nicht wörtlich wiedergeben, aber sinngemäß – ja! Jeder sollte dieses Buch lesen, denn wie ich diese Herrschaften kennengelernt habe, werden sie das so oder ähnlich umsetzen. Krieg und Massenmord!«

Elisabeth schaute ihren Onkel entsetzt an und schwieg.

»Lilli, ich hätte dir das gar nicht sagen dürfen. Eine versehentliche Bemerkung von dir an der falschen Stelle und ich bin geliefert! Die schlagen mich tot!«

*

1935 begann das Fernsehzeitalter in Deutschland. Geräte in Privathaushalten gab es kaum. Dafür konnten die braven deutschen Volksgenossen das Programm des Fernsehsenders Paul Nipkow in sogenannten Fernsehstuben sehen. Im Jahre 1936 erschien – mitten im Verlauf einer Varietésendung – ein sardonisch grinsender Kerl auf der Mattscheibe und gab Folgendes zum Besten:

Um mal wieder über die Musik zu sprechen:

Ich freue mich eigentlich,

dass es heute alles so wunderbar im Takt geht, nicht wahr?

Wenn es auch hier und da immer noch so etliche Querpfeifer bei uns gibt und vielleicht auch mal solche,

die gerne mal wieder die Zentrummel rühren möchten,

sogenannte Devisenmusikanten, nicht wahr,

da machen wir wenig Federlesen.

Die kommen zu ihrer weiteren Ausbildung

in ein Konzertlager,

wo man ihnen dann so lange die Flötentöne beibringt,

bis sie sich an eine taktvolle Mitarbeit gewöhnt haben!

*

Ende Februar 1936 ratifizierte Frankreich den sowjetisch-französischen Beistandsvertrag. Adolf Hitler nahm dies zum Anlass, das bis dahin entmilitarisierte Rheinland zu besetzen. Seitens der Ententemächte gab es keine sonderlichen Proteste, obwohl es sich um einen klaren Bruch sowohl des Versailler Vertrages als auch des von Deutschland freiwillig unterschriebenen Vertrages von Locarno handelte. Frankreich und Großbritannien versäumten damit die letzte Möglichkeit, durch entschlossenes Handeln die nationalsozialistische Diktatur in die Schranken zu weisen. Zu ernsthaftem Widerstand wäre die zu diesem Zeitpunkt noch relativ schwache Wehrmacht kaum in der Lage gewesen.

2 Das ist ja ein ganz anderer Knopf!

1 148,15 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
385 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783839267387
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