Читать книгу: «Feenders», страница 4

Шрифт:

7 – Ein elektrisches Problem und eine interessante Begegnung

Leer, Mittwoch, 15. März 1939

Die letzte Stunde, der Englischunterricht, fiel wieder aus. Dr. Gebhardt war noch immer krank. Georg hatte schon in entsprechender Voraussicht seinen Schulranzen mit einem Teil bestückt, das dort eigentlich nichts zu suchen hatte. Er rannte in Windeseile die Treppen des Ubbo-Emmius-Gymnasiums herunter, wäre auf einem Absatz beinahe mit dem Direktor kollidiert – »’tschuldigung« – und spurtete zu seinem Fahrrad. Das Elektrogeschäft lag nur zwei Straßen weiter. Wenn er sich beeilte, konnte er es noch schaffen, bevor der Inhaber seinen Laden zur Mittagspause zusperrte.

»Moin, Fräulein Degenhardt. Ist der Chef auch da?«

»Moin, Georg! Ich schau mal!« Sie öffnete die Tür der angrenzenden Werkstatt: »Chef? Kundschaft!« Marlene Degenhardt nickte Georg freundlich zu und verschwand wieder in ihrem Kontor.

Gleich darauf stand der Inhaber des kleinen Elektrogeschäftes im Laden. »Moin, Georg, du bist ja völlig aus der Puste!« Cornelius Holtkamp schaute ihn an. »Wer ist denn hinter dir her?«

»Niemand, Herr Holtkamp, moin erst mal! Ich hab nur ein Problem. Vielleicht können Sie mir helfen.«

»Es geht bestimmt um deinen Detektorempfänger, richtig?«

»Richtig! Ich hab die Antenne gewickelt, Messingstifte in ein Brett geklopft und die Bauteile nach dem Bauplan im ›Jugendfreund‹ darauf zusammengelötet.«

»Und jetzt sagt dein Radio keinen Mucks«, stellte Cornelius Holtkamp fest.

»Genau!«

»Gib mir das gute Stück mal rüber. Ich schau’s mir an.« Holtkamp verschwand mit Georgs Radio in der Werkstatt. Einige Minuten später tauchte er wieder auf.

»Und? Haben Sie den Fehler gefunden?«

»Ja, aber nicht so hastig, junger Mann. Wir gehen das Ganze einmal der Reihe nach durch. Die Bauteile sind alle in Ordnung. Spule, Gleichrichter, Kondensator und der Lautsprecher. Und deine gewickelte Antenne ist schon mal ein kleines Kunstwerk. Zusammengebaut und gelötet hast du es sehr ordentlich. Der Sender kommt gut herein, denn du kannst ein solches Radio ja von dessen Leistung betreiben und brauchst keinen Stromanschluss …«

»Ja, das weiß ich, Sie haben es mir wirklich sehr gut erklärt!«

»Kann es sein, dass du ’n klein büschen ungeduldig bist?«

»Nee, Herr Holtkamp, das täuscht. Ich muss nur unbedingt wissen, warum das Ding nicht funktioniert!«

Cornelius Holtkamp schmunzelte. Er mochte den wissbegierigen Jungen, der seinen Eltern mit Ausdauer klargemacht hatte, dass sein höchstes Glück darin bestünde, die Bauteile für ein einfaches Radio zu bekommen, wie es im Bauplan des »Neuen Deutschen Jugendfreundes« abgebildet war. Helfried Feenders hatte sich schließlich erweichen lassen und war eine Woche zuvor im Geschäft von Cornelius Holtkamp aufgetaucht, um die Teile zu kaufen. Georg hatte schon einen Tag später im Laden gestanden und dem Inhaber ein wahres Loch in den Bauch gefragt, vor allem im Hinblick auf die richtige Länge des Antennenkabels, abgestimmt auf den nächsten Rundfunksender. Immerhin waren sage und schreibe sechzig Meter des dünnen lackierten Drahtes auf einen kleinen Holzstern zu wickeln!

»Also, die Ursache ist recht einfach!« Cornelius Holtkamp gab Georg einen blanken Draht. »Schau dir diese Lötstelle einmal genauer an!« Er zeigte mit dem Finger auf den einen Anschluss des Kondensators. »Siehst du etwas?«

»Nee!«

»Jetzt überbrücke deine Lötstelle einmal mit dem Draht!«

Georg tat, wie ihm gesagt. Ein Knacken war im Lautsprecher zu hören, ein leichtes Rauschen und kurz darauf recht deutlich die Worte: »… eine Sendung des Großdeutschen Rundfunks. Sie hören jetzt …«

»Es geht!« Georg strahlte über alle vier Backen. »Ich habe nur eine kalte Lötstelle fabriziert!«

»Sehr gut erkannt, junger Mann! Kannst gleich in meine Werkstatt gehen und die Sache in Ordnung bringen!«

»Au prima, Herr Holtkamp!« Georg nahm sein Radio, wischte um den Tresen herum und rannte in die Werkstatt.

»Nimm den Lötkolben – der ist schon heiß – und entlöte die beiden Drähte! Anschließend schabst du sie schön blank …«

»… um die Oxidschicht zu entfernen!«, ergänzte Georg. »Na, das ist mal ’n Lötkolben, ein elektrischer – nicht wie dieses olle Riesending zu Hause, das ich erst im Feuer heißmachen muss!«

Einige Minuten später verließ Georg freudestrahlend den Laden, nachdem er sich bei Cornelius Holtkamp wohl mindestens dreimal bedankt hatte. Der stand hinter seiner Eingangstür und sah dem Jungen lächelnd nach.

*

Normalerweise fuhr Georg mit seinem Rad direkt zu dem Weg, der an der Bahnlinie zwischen Leer und Emden verlief. Heute aber, da er von dem Elektrogeschäft kam, bog er auf die Heisfelder Straße ein. Sonst hätte er ein Stück in Richtung Innenstadt zurückfahren müssen.

An der kürzlich neu erbauten Dapolin-Tankstelle, die schon fast in Heisfelde lag, gab es einen kleinen Volksauflauf. Georg, neugierig geworden, stellte sein Fahrrad an einer Hauswand ab, zerrte seinen Schulranzen herunter – da war schließlich sein neues Radio drin – und arbeitete sich durch die Menge.

Da standen sie! Gleich vier Wagen hintereinander. Schwarz lackiert und mit einer Karosserie, wie sie sonst kein anderes Auto aufzuweisen hatte. Nicht kantig und eckig, sondern – ja, wie ein längs halbiertes Ei, das auf seiner Schnittfläche lag. Einfach stromlinienförmig! Vorne und hinten waren an den Wagen Schilder mit der Aufschrift »Versuchswagen« angebracht. Die Nummernschilder der vier Fahrzeuge hatten dieselbe Anfangskennung, »III A«. Georg konnte damit nichts anfangen und fragte einen der Fahrer, einen schon etwas älteren Mann mit kurzem Schnurrbart. Bekleidet mit Hut und Mantel hob er sich in seiner äußeren Erscheinung deutlich von den übrigen Fahrern und Beifahrern ab, die überwiegend Uniformen des RAD trugen, des Reichsarbeitsdienstes.

»Das Kennzeichen steht für den Neckarkreis, also die Polizeidirektion Stuttgart!«

»Ich dachte, der neue KdF-Wagen wird bei Fallersleben gebaut?«

»Wird er auch. Aber diese Fahrzeuge stammen noch aus der letzten Vorserie. Die wurden in Stuttgart-Zuffenhausen entwickelt und gebaut. Daher die Stuttgarter Zulassung. Später werden alle Autos bei Fallersleben produziert.«

»Warum dort?«

»Wir haben da sehr viel freie Fläche zur Verfügung. Außerdem liegt das Gelände verkehrsgünstig am Mittellandkanal. Hameln war auch im Gespräch, weil es dort bis zur Weltwirtschaftskrise zwei kleinere Automobilfabriken gab. Aber letztlich hat Fallersleben das Rennen gemacht. Dort entsteht zurzeit das neue Volkswagenwerk.«

»Dürfte ich einmal den Motor sehen?«

»Klar!«, entgegnete sein Gegenüber und klappte am Heck des letzten Wagens die Motorhaube auf.

Georg ging in die Knie, betrachtete die Maschine des Autos und nannte die technischen Daten: »Vierzylinder-Viertakt, 986 Kubikzentimeter, 23,5 PS, von denen 8,5 PS für die Überwindung des Rollwiderstandes benötigt werden. Luft- und ölgekühlt, Leergewicht des Wagens 650 Kilogramm!«

»Donnerwetter, du kennst dich aber aus!«

»Ehrensache, hab ich neulich erst gelesen.«

Der Mann blickte auf seine Armbanduhr. »Wir liegen heute recht gut in der Zeit. Möchtest du einmal mitfahren?«

»Das wäre ein Traum!« Georg schaute den Mann nachdenklich an. »Eine Frage …«

»Ja?«

»Sie sind aber kein einfacher Versuchsfahrer?«

»Das lass nicht unsere Leute hören!« Der Mann lachte. »Es sind keineswegs einfache Fahrer, die sind schon sehr gut ausgebildet.«

»Nein, so meinte ich das nicht!«

»Um deine Frage zu beantworten, ich bin einer der Entwicklungsingenieure. Natürlich muss ich sehen, wie sich unsere Arbeit in der Praxis bewährt. Daher fahre ich teilweise mit oder auch selber! Komm mit zum ersten Wagen. Der ist schon fertig betankt. Den hintersten hier bekommen wir eh nicht aus der Menschenmenge heraus!« Der Ingenieur ging nach vorne und öffnete die Fahrertür des ersten KdF-Wagens. »Herr Wagner, unser junger Freund möchte gern ein Stück in unserem neuen Wagen mitfahren. Wenn Sie mich einmal ans Steuer lassen?«

Georg öffnete die Beifahrertür, setzte sich hinein und sah – nichts. Genauer gesagt, er schaute gegen das Armaturenbrett.

»Setz dich einfach auf deine Schultasche, dann kannst du rausschauen!«

»Moment, ich muss erst mein Radio herausnehmen. Sonst ist es platt!«

Georg beförderte zunächst die abgenommene Antenne und anschließend sein Radio ans Tageslicht.

»Darf ich mal sehen? Oh ja, ein Detektorempfänger!« Der Ingenieur musterte Georgs Radio genau. »Selbst gebaut?«

Georg nickte: »Ja.«

»Saubere Arbeit, vor allem die gewickelte Antenne. Ganz hervorragend!«

»Na ja, so hervorragend auch wieder nicht. Es funktionierte zunächst nicht. Ich komme gerade vom Radiohändler. Der hat mir auf die Sprünge geholfen.«

»Und, woran lag es?«

»An einer kalten Lötstelle.«

»Ach so. Na, wenn das die einzige Ursache war?«

Georg nickte erneut.

»Weißt du, einen Fehler zu machen ist nicht schlimm. Man sollte ihn sich nur genau merken und möglichst nicht wiederholen. Dann hat auch der Fehler seinen Sinn gehabt.«

»So habe ich das noch gar nicht gesehen!«

»Was glaubst du, wie viele Fehler und Irrtümer uns bei der Entwicklung dieses Wagens unterlaufen sind. Wir lernen ständig hinzu, bis das Auto möglichst perfekt ist.«

Der Ingenieur drehte den Zündschlüssel herum. Im nächsten Moment war das kernige Brummen des Boxermotors aus dem Heck des Wagens zu hören. Georg verfolgte alles genau. Der Fahrer trat das Kupplungspedal durch, legte den ersten Gang ein und gab das Pedal langsam wieder frei, während er mit dem rechten Fuß leicht auf das Gaspedal trat. Langsam rollte der KdF-Wagen an. Die Zuschauer machten Platz und das Auto bog auf die Heisfelder Straße ein. Zweiter, dritter Gang. Da flog schon die Kreuzung Dorfstraße/Logaer Weg vorbei. Der Ingenieur trat kräftig aufs Gas. Vierter Gang!

»Da staunst du, wie unser Wagen beschleunigt!«

»In vierzehn Sekunden von null auf sechzig Kilometer in der Stunde!«

»Gibt es auch etwas, was du nicht weißt?«

»Zu viel!«, räumte Georg selbstkritisch ein.

»Das ist allerdings schade. Sonst hätte ich dich gleich nach Fallersleben mitgenommen.«

Der Ingenieur schmunzelte. »Nein, im Ernst, du bist wirklich nicht von schlechten Eltern.«

»Oh, danke. Ich werd’s ihnen ausrichten.«

Georg hatte heimlich gehofft, der Ingenieur würde mit ihm bis Emden durchfahren, doch in Neermoor wendete er den Wagen. Auf der Rückfahrt war die Straße fast völlig frei. Die Tachonadel pendelte zeitweise bei sagenhaften neunzig bis einhundert Stundenkilometern und ein Hanomag wurde im Nullkommanichts überholt. Die Reifen sangen auf der mit Klinkern gepflasterten Straße ihr helles Lied. Viel zu schnell erreichten sie wieder die Tankstelle und die fantastische Fahrt war zu Ende. Georg fand seine Sprache erst wieder, als er sich bei dem Ingenieur recht herzlich bedankte.

Am nächsten Tag war Georgs Fahrt das Gesprächsthema in der Klasse. Er selbst hatte sie gar nicht erwähnt, aber ein Mitschüler hatte ihn gesehen und für entsprechende Verbreitung des Abenteuers gesorgt.

Bald stand auch ein ausführlicher Bericht in der Tageszeitung – mit Bild. Darauf war der Mann zu sehen, der ihn in dem neuen Wagen mitgenommen hatte. Darunter stand die Zeile: »Dipl.-Ing. Ferdinand Porsche und vier KdF-Versuchswagen in Leer!«

Oh nein! Wenn er das nur geahnt hätte! Er war mit dem Konstrukteur des zukünftigen Volkswagens unterwegs gewesen.

Ach, was hätte er ihn noch alles fragen können!

*

An diesem Tag »erledigte« der Führer sein Problem mit der Rest-Tschechei. Ab dem 15. März 1939 besetzten deutsche Truppen das gesamte Land. Die Tschechen sahen keinen Sinn in einer Gegenwehr und kapitulierten, ohne einen Schuss abgegeben zu haben. Ihnen war bekannt, dass England und Frankreich nicht eingreifen würden, obwohl das Vorgehen Hitlers einen klaren Bruch des Münchner Abkommens bedeutete. Mit ihrer Beschwichtigungspolitik hatten Chamberlain und Daladier dem deutschen Diktator dieses Land auf dem silbernen Tablett serviert. Anscheinend schenkte man immer noch den ein ums andere Mal wiederholten Beteuerungen Hitlers Glauben, dies solle seine letzte territoriale Forderung in Europa sein.

Auch tschechische Fahrzeug- und Rüstungsfabriken wie die Škoda-Werke mit Hauptsitz in Pilsen oder ČKD-Praga fielen in deutsche Hände. Die weitere Produktion nahm die deutsche Wehrmacht ab. Beispielsweise wurden ganze deutsche Einheiten mit dem leichten Kampfpanzer vom Typ 38(t) ausgerüstet. Es handelte sich dabei um die deutsche Bezeichnung. Die Zahl stand für das Jahr der Serienreife in der Tschechei, der Buchstabe für das Herkunftsland.

8 – Das verschwundene
Maschinengewehr

Am 1. September 1939 hatten deutsche Truppen die Grenze zu Polen überschritten. Die Ultimaten Frankreichs und Großbritanniens auf sofortige Einstellung der Kampfhandlungen und Rückzug waren verstrichen. Nachdem der deutsche Angriff weiterlief, kamen zwei Tage später aus Paris und London die angedrohten Kriegserklärungen.

*

Rheidersum, Montag, 4. September 1939

Ein Bomberverband der Royal Air Force, bestehend aus fünfzehn Maschinen, hatte am Abend den Marinestützpunkt Wilhelmshaven angegriffen. Mehrere Bomber wurden von der deutschen Flugabwehr abgeschossen, weitere von den sofort aufgestiegenen Jagdmaschinen vom Himmel geholt. Die Besatzung eines der britischen Blenheim-Bomber versuchte, mit ihrer schwer getroffenen Maschine in die neutralen Niederlande zu entkommen. Allen Bemühungen zum Trotz geriet das Flugzeug jedoch immer tiefer. Der Bomben- und der MG-Schütze sprangen ab. Zu spät, ihre Fallschirme öffneten sich nicht mehr vollständig. Wenige Kilometer vor Leer wagte der Pilot noch eine Notlandung, bei der die Maschine jedoch auf einer Weide zu Bruch ging.

Ein Landwirt, der die Heuernte einbringen wollte, wurde aus einiger Entfernung Zeuge des Geschehens und alarmierte den nächsten Dorfpolizisten. Dieser rief sofort bei der Sanitätsbereitschaft und seiner vorgesetzten Dienststelle in Leer an. Anschließend machte er sich mit dem Rad auf den Weg zum Wrack des Bombers. Der Pilot lebte noch. Der Polizist zog den Schwerverletzten mit größter Kraftanstrengung aus dem völlig zertrümmerten Cockpit und schleppte ihn zum nahen Rand der Weide. Mehr konnte er nicht für ihn tun.

Als der Sanitätskraftwagen schließlich eintraf, war der Pilot bereits seinen schweren Verletzungen erlegen. Den Helfern blieb nur, die beiden anderen toten Besatzungsmitglieder zu bergen und sie nach Leer zu überführen. Die Feldgendarmerie sicherte zunächst die Absturzstelle, zog aber gegen Abend ab.

Als am nächsten Morgen ein Bergungstrupp anrückte, stellte man sehr schnell fest, dass ein Maschinengewehr des Flugzeuges fehlte. Dem MG-Turm auf dem Rücken der Blenheim war zwar die Glaskuppel abhandengekommen, aber ansonsten war er völlig intakt. Die Halterung der Waffe wies keinerlei Beschädigungen auf. Hier war irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. Die Feldpolizei ging in den nahen Ortschaften von Haus zu Haus und befragte die Einwohner eindringlich nach möglichen Beobachtungen und sonstigen Hinweisen – ohne jedes Ergebnis. Während bei den zuständigen Dienststellen noch Ratlosigkeit herrschte, ging einer jungen Dame in der Ortschaft Rheidersum jedoch ein Licht auf – und zwar ein geradezu gleißend helles. Ihr Name war Elisabeth Feenders.

Hierzu muss allerdings erklärt werden, dass ihr Bruder Georg, zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt, Quintaner im Leeraner Ubbo-Emmius-Gymnasium und mehr oder weniger begeistertes Mitglied der HJ, sich zu einem rechten Schlingel entwickelt hatte. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war das Erlegen von Kaninchen in Feld und Flur. Jagdpächter war sein Vater, da gab es keinen Ärger, wenn Sohnemann die Speisekarte bereicherte und die Felle einem Kürschnermeister in Leer verkaufte. Irgendwie musste das Taschengeld schließlich aufgebessert werden. Wenn es darum ging, den allergrößten Unsinn zu machen, so war es sehr wahrscheinlich, dass Georg mit von der Partie war. Handelte es sich dabei um Dinge auf dem Gebiet der Elektro- oder Pyrotechnik oder gar einer Kombination derselben, etwa in Form elektrisch gezündeter Schwarzpulverladungen, so konnte man sich dessen sogar absolut sicher sein. Familienangehörigen, Lehrern und den anderen an der Erziehung dieses mehr als aufgeweckten Kerlchens Beteiligten ersparte solches Wissen zumindest eine längere Suche nach dem Missetäter, wenn wieder einmal etwas absolut Unmögliches passiert war. Fast jeder Erwachsene im Kreise der Familie erzog gelegentlich an ihm herum, ohne damit aber großartige Erfolge zu erzielen. Georg tat weiterhin, was ihm Spaß machte. Da er nicht nur seine Pflichten auf dem Hof erledigte, sondern auch ein recht guter Schüler war, hatte man nirgendwo eine rechte Handhabe gegen seine mehr oder weniger verrückten Ein- und Ausfälle.

Lilli stand nur Sekunden nach besagter Lichterscheinung vor der Tür, die auf den Dachboden des elterlichen Hauses führte. Sie drückte langsam die Klinke herunter. Die Tür war jedoch abgeschlossen. Sie hämmerte mit den Fäusten dagegen: »Georg, ich weiß genau, dass du da drin bist. Mach sofort auf!«

Statt einer Antwort erklang dort nur ein leises Rumpeln.

»Georg! Ich weiß, was du dort treibst!«

Knirschend drehte sich der Schlüssel im Schloss. Die Tür öffnete sich und Georg stand vor ihr. »Mach nicht so ’n Wind – was ist denn?«, fragte er mit treuherziger Unschuldsmiene.

»Lass mich durch!« Energisch drängte Lilli sich an ihm vorbei und stand vor einem zweiten Lausebengel.

»Ach nee, Gerold Harms, das hätte ich mir ja denken können!« Sie ging auf den großen schwärzlich-metallischen Gegenstand zu, der auf einem Tisch lag. Daneben einiges Werkzeug.

»Sagt mal, ihr beiden, spinnt ihr jetzt völlig? Was wollt ihr mit dem geklauten Maschinengewehr?«

»Wir wollten es draußen im Wäldchen ausprobieren«, antwortete Georg. »Das verdammte MG funktioniert nicht. Ladehemmung! Und jetzt suchen wir nach dem Fehler.«

»Wisst ihr, wer das Höllending außer Gefecht gesetzt hat?« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie hinzu: »Das war euer Schutzengel, ihr Verrückten!«

Während Gerold Harms völlig stumm dastand, schaute Georg sie – was normalerweise nie vorkam – nur ratlos an: »Und nun?«

»Und nun, und nun?«, wiederholte Lilli erbost. »Ihr werdet das Maschinengewehr sofort wieder dahin zurückbringen, wo ihr es hergeholt habt!«

»Geht nicht«, antwortete Georg zerknirscht. »An der Absturzstelle ist Feldpolizei. Die haben uns sofort am A…!«

»Hör zu! Wenn ich darauf gekommen bin, wer für diesen Schwachsinn verantwortlich ist, dann werden andere bald dieselbe Idee haben!«

Lilli dachte einen Moment nach: »Ihr steckt das Ding in ein, zwei alte Kartoffelsäcke. Wenn es dunkel ist, gehe ich mit einer Lampe voraus. Falls ich auf einen Wachposten stoße, sage ich, dass ich unseren weggelaufenen Hund suche. Und wenn die Luft rein ist, folgt ihr mir unauffällig!«

*

Am nächsten Tag fand der Bergungstrupp zu seiner großen Überraschung das vermisste Maschinengewehr. Es lag halb unter dem Rumpf des zerstörten Bombers. Man meldete den vollständigen Bestand an die vorgesetzte Dienststelle, in deren Interesse es verständlicherweise lag, die Angelegenheit damit abzuschließen. Die gefallene Besatzung des englischen Flugzeugs wurde wenige Tage später auf einem Leeraner Friedhof beigesetzt.

Der Krieg brachte noch anderes. Die ersten Meldungen über Tote, Vermisste und Verwundete trafen ein.

*

Mit Beginn des zweiten großen Krieges in diesem Jahrhundert wurden Lebensmittelkarten und Bezugsscheine für weitere Waren ausgegeben, nachdem die nationalsozialistische Regierung bereits im Jahre 1937 unter anderem Molkereiprodukte rationiert hatte. Dies war durch den Umstand bedingt, dass es trotz aller Bemühungen immer noch nicht gelungen war, das Land von Lebensmitteleinfuhren unabhängig zu machen. Im Zuge der Kriegsvorbereitungen gehörte dies zu einem der erklärten Ziele der Machthaber. Eine Hungersnot, wie sie ab dem Ende des Kriegsjahres 1916 bedingt durch die britische Seeblockade und Missernten im Deutschen Reich geherrscht hatte und der etwa eine Dreiviertelmillion Menschen zum Opfer gefallen war, sollte sich auf keinen Fall wiederholen.

1 148,15 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
385 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783839267387
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают