Читать книгу: «Die Architektur des Knotens», страница 2

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WIR HABEN SCHON MAI.

Heute fühle ich mich rosa. Sanft und hell, irgendwie durchlässig. Eine Farbe, mit der ich eigentlich gar nicht gut zurechtkomme, aber heute finde ich’s ganz gut. Verblasstes Rot. Passt doch. Ich bin müde.

Meine Klasse ist auf einem Ausflug im Tierpark und ich habe frei. Habe nicht wirklich verstanden, warum ich nicht dabei bin, kleines Durcheinander wegen der Referendarin, also bin ich nicht dabei und froh darüber. Über die freien Stunden.

Bin heute Morgen trotzdem nicht liegen geblieben. Ich bin aufgestanden und war hektisch, habe Johns Schulbrot gemacht, mit Jonas einen Kaffee getrunken und Mika in die Kita gebracht. Alles mit diesem rosa Gefühl, etwas gut machen zu wollen, es besser zu machen, das Gefühl, mich hinschmeißen zu wollen, loszuwerden. Jetzt sitze ich wieder am Küchentisch und habe nicht wirklich eine Idee, was ich mit dem Tag machen soll.

Ich werde mir ein Kleid kaufen, beschließe ich. Für Ellas Taufe. Am Wochenende fahren wir nach Dänemark. Sven und Mille haben uns zur Taufe ihrer Tochter eingeladen. Ja, das sollte ich tun. Ein Kleid kaufen. Etwas muss sich ändern. Mit einem Kleid kann man schon mal anfangen. Ich gehe einfach los, die Luft ist warm und die Straßen sind voll, die Abgase hinterlassen ein kratziges Gefühl im Hals. Ich laufe die Straße runter, vorbei an vollen Cafés, erstaunlich, wie viele Menschen vormittags in Cafés sitzen. Mehr als ihre Umrisse nehme ich nicht wahr, nur Ausschnitte, Hände, die nach Gläsern greifen, plappernde Münder, alles bleibt verschwommen. Mein Körper fühlt sich an wie ein Schatten, der vorbeigleitet.

Ein Krankenwagen fährt an mir vorbei. »Still und ohne Blaulicht«, der Gedanke ist laut in meinem Kopf und wiederholt sich, versucht, mich zu beruhigen, mich abzulenken. Schafft er aber nicht. Die Erinnerung an den Krankenwagen und an meinen Vater ist schon da. Er lauert ständig in meinem Hinterkopf. Mein Vater.

Ich rufe schnell im Pflegeheim an und sage Bescheid, dass ich nach Dänemark fahre, dass ich meinen Vater am Wochenende nicht besuchen werde, dass sie ihm das bitte ausrichten mögen. Ich hätte es ihm auch selbst sagen können. Aber ich lege auf.

Ich könnte ihn heute auch besuchen. Habe ja Zeit. Aber ich weiß, dass ich das nicht tun werde.

Das Kleid. In meiner Vorstellung ist es jetzt auch schon rosa. Das wäre mal was anderes. Die Straße runter sind zwei Läden, die etwas in der Richtung haben könnten, hoffe ich jedenfalls.

Ich gehe weiter die Straße entlang. Die Erinnerung an das Gesicht meines Vaters kommt mit. Ich kann es nicht vergessen, obwohl es schon einige Wochen her ist. Ich erinnere jede Einzelheit. Die offenen Türen des Krankenwagens und zwischen den weißen Laken ein blasses, fahles Gesicht, schmal, die Augen tief eingesunken, ich habe nur die Hälfte des Gesichts gesehen.

Der Körper des Mannes war bis zum Hals zugedeckt. Ich weiß nicht, woran ich es erkannt habe, aber ich denke, es war der Ausdruck in seinem Gesicht, das Entrücktsein in seinem Blick, der mit nichts mehr in Verbindung zu stehen schien, die gelöste Spannung in seinen Zügen. Sein Blick schien auf etwas gerichtet zu sein, etwas, das gleichzeitig außerhalb von ihm lag und dennoch von innen zu kommen schien. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, länger habe ich ihn nicht gesehen und doch wusste ich, dass er der dem Tod näher war als dem Leben.

»Sie sollten kommen, es könnte gut sein, dass es mit Ihrem Vater zu Ende geht«, hatte der Pfleger am Telefon gesagt. »Eine Lungenentzündung in Kombination mit Parkinson, damit ist ja nicht zu spaßen.«

Mein Auto hatte ich quer über den Fahrradweg geparkt, mit Warnblinker, ich bin an dem Krankenwagen vorbei und am Empfang, bin hochgehastet in den zweiten Stock der Seniorenresidenz, den Gang entlang zum Zimmer meines Vaters.

Als ich die Tür öffnete, war das Zimmer meines Vaters leer. Die Nachttischlampe brannte, da lag sein Telefon und ein verschmiertes, schmutziges Wasserglas stand unter dem Licht der Lampe. Die Bettdecke lag eilig zurückgelassen auf dem Boden.

»Ihr Vater ist eben abgeholt worden, also der Krankenwagen, stand gerade noch draußen«, sagte der Pfleger in meinem Rücken. »Ich gebe Ihnen gern die Adresse vom Krankenhaus.«

Erst als ich wieder im Auto saß, mit Blick auf die leere Einfahrt, habe ich begriffen, dass es mein Vater war, den ich eben im Krankenwagen gesehen hatte. Dass ich in das Gesicht meines Vaters geschaut hatte, ohne es zu erkennen.

Das Gesicht, das zwischen den weißen Laken gelegen hat, verlässt mich nicht mehr. Ich sehe es, wenn ich ihn besuche. Ich sehe es jetzt. Ständig taucht es auf, ohne Vorwarnung.

Mein Vater und ich reden wenig. Wir haben nie viel geredet. Seit meine Mutter nicht mehr lebt, noch weniger. Er ist verwirrt. Manchmal ist er ganz klar und dann plötzlich fantasiert er, redet die seltsamsten Dinge, er erkennt mich, aber er erzählt mir Geschichten über mich, die nicht stimmen. Ich glaube jedenfalls, dass sie nicht stimmen.

Wenn seine Erinnerungen durcheinandergeraten, spricht er zu mir wie zu einer Fremden.

Ich versuche, das vertraute Gesicht meines Vaters in seinen von der Krankheit starren Gesichtszügen ausfindig zu machen, weil ich nicht mehr weiß, worauf ich reagieren soll. Auch wenn er sich mir immer auf seine Art entzogen hat, versteckt hinter diesem unbestimmten, freundlichen Lächeln, das nie sein Gegenüber zu meinen schien, aber das kannte ich, darauf waren meine Geschichten, mein Tonfall, jede meiner Bewegungen eingestellt, wenn wir aufeinandertrafen. Ich konnte mit ihm immerhin über das Wetter reden, die Kinder oder wir redeten über das Essen.

Seit ich diesen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen habe, weiß ich nichts mehr zu sagen. Er ist ein Unbekannter geworden. Ich sehe ihn an und verstumme. Warum habe ich ihn nicht erkannt? Wie konnte es sein, dass sich ein fremdes Gesicht in die vertrauten Gesichts züge meines Vaters eingeschlichen hatte? Wo war das fremde hergekommen? War es der Krankheit geschuldet? Etwas Dazugekommenes? Oder etwas Altes? Ihm schon lange Vertrautes? War es vielleicht schon immer da gewesen? Verborgen unter seinem anderen Gesicht, das mit uns gelebt hatte? War es der Ausdruck eines heimlichen Fremden in ihm gewesen, der aufgetaucht war, der seine Chance gewittert hatte, einen Blick nach draußen zu werfen, in die Welt, in diesem Moment der Schwäche, als meinem Vater sein unbestimmt lächelndes Gesicht entglitten war? Ich wünschte, ich hätte den Mut, ihn danach zu fragen. Zu fragen: Wer war der Mann, den ich da gesehen habe?

Ich bin sicher, er würde mir nicht antworten. Ich bin auch gar nicht sicher, ob ich die Antwort hören möchte.

Seit diesem Tag weiche ich unseren Treffen noch mehr aus, als ich es eh schon getan habe.

Direkt vor dem ersten Laden, den ich ansteuere, hat eine Galerie eröffnet. Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Ich bleibe vor dem großen Fenster stehen. Der Raum scheint L-förmig zu sein, verläuft schmal nach hinten und dann, nicht mehr einsehbar von hier, nach rechts um die Ecke. An der rechten Seite des schmalen Vorderraumes steht ein wellenförmig geschwungener Tresen. Weißlackiert und irgendwie unpassend. Es scheint niemand da zu sein.

Mein Blick streift über ein Bild im hinteren Teil der Galerie und bleibt daran hängen. Mir direkt gegenüber, an der hinteren Wand des Raumes, hängt das Bild einer Frau.

Sie steht in einem Garten, glaube ich, zwischen Bäumen und Sträuchern, und einem Haufen Müll, oder was ist das? Auf die Distanz und durch die Spiegelung in der Fensterscheibe ist das schwer zu erkennen.

Sie steht neben einem Baum, ihr linker Arm ist ausgestreckt und ich sehe ihre Augen.

Ich denke, ich sehe ihre Augen, mein Blick wird sofort von ihnen angezogen, aber eigentlich sehe ich sie nicht richtig. Spüre sie mehr, als dass ich sie sehe. Stehe hinter der Fensterscheibe und starre ihr ins Gesicht. Als wäre sie eine Erscheinung.

Mein Oberkörper spiegelt sich in der Fensterscheibe und für einen Moment starre ich durch meine eigenen Umrisse hindurch auf die Frau im Hintergrund und plötzlich scheint es mir, als würde ihr Körper heranzoomen, als würden sich unsere Körper übereinanderlegen und verschmelzen, ich spüre eine fremde Spannung in meiner Brust, eine leichte Verschiebung der Körperhälften in ein Vor und ein Zurück. Es ist, als würden wir verharren, in dieser gegenseitigen Anziehung. Das leichte Heben in ihrer Brust, unser Abwarten, ich spüre es mehr, als dass ich es sehen kann. Ich kenne dieses Gefühl, den gehaltenen Atem, das Abwarten, wenn man »dazwischen« ist, in diesem leeren Raum zwischen dem Gedanken »etwas zu tun« und dem Moment, in dem man es »tatsächlich tut«. Die Spannung der Verzögerung, die sich zwischen Gedanke und Bewegung ausbreitet und den ganzen Körper ergreift. Ich erkenne es auf dem Bild. Wie in einer Spiegelung.

Etwas an ihrer Körperhaltung lässt mich denken, dass sie ihre Hand nicht nach etwas ausstreckt, was sie sieht.

Das Gesicht meines Vaters schiebt sich vor das Bild. Seine Augen. Die gleiche seltsame Leere, denke ich plötzlich. Ich muss das Bild aus der Nähe sehen.

Als ich die Galerie betrete, finde ich es erstaunlich kühl. Es riecht nach einem starken Aftershave/Eau de Toilette … was auch immer. Ein guter Geruch. Klar und frisch.

Ein Geruch, bei dem ich unwillkürlich ans Duschen denken muss, an feuchte Haut, die man abtrocknet und eincremt, in dieser versunkenen Intimität, die man nur hat, wenn man unbeobachtet und allein mit seinem Körper ist.

Mir gefällt das. Es tröstet mich. Frisch geduschte Menschen sind umgeben von dieser Wolke aus warmer Luft, die ihnen noch aus der Haut strömt. Wenn sie mit diesen Wolken an mir vorbeiziehen, fühle ich mich ihnen seltsam nahe, den Fremden. In diesen Momenten schweigen auch kurz die Gedanken in meinem Kopf.

Niemand steht hinter dem Tresen, in der rechten Wand ist eine Tür, jemand wird wohl da sein, denke ich. Ich möchte nur schnell etwas überprüfen, möchte mit niemandem sprechen, hoffe, dass derjenige, der hinter der Tür ist, nicht herauskommt.

Hastig gehe ich auf das Bild zu, kurz davor bremse ich ab und mache einen letzten, seltsam langsamen Schritt nach vorn. Es hat etwas ungewollt Ehrfürchtiges, wie ich hier stehe.

Als sich die Tür der Galerie hinter mir schließt, wird es schlagartig still.

Ich sehe den Verkehr und die Menschen, die draußen vorbeiströmen, als ich mich kurz umdrehe. Still wie in einer Kirche.

Das Bild hängt etwas höher, sodass ich den Kopf heben, zu der Frau hochblicken muss.

»Eva hysterisch« steht auf dem Schild neben dem Bild. Aha.

Die Augen der Frau sind weit geöffnet, ich starre hinein und es fühlt sich schamlos an, wie ich in ihren Blick hineinfalle. So starrt man niemanden an.

Ihr Blick ist leer. Das, was sie sieht, befindet sich offensichtlich nicht in der Welt.

Sie ist nicht anwesend. Sie würde mich nicht sehen, selbst wenn sie echt wäre.

Ihr Körper ist entspannt. Sie steht und schaut. Ich kann nicht erkennen, was daran hysterisch sein soll.

Ihr linker Arm ist nach vorn ausgestreckt, aber ihre Hand greift nach nichts … eher so, als würde sie gezogen werden, als hätte ihre Hand sich selbstständig gemacht, losgelöst vom Körper.

Ihr rechter Arm dagegen hängt seitlich herab, völlig untätig. Ihr Körper ist weich und verweilt noch, ist noch nicht im Aufbruch. Nur ihre Hand … von etwas angezogen, zieht die linke Körperseite leicht nach vorn. Deshalb die Verschiebung in ihrem Körper.

Sie trägt ein Kleid. Vielleicht hatte es mal eine Farbe, aber das ist nicht wirklich zu sagen, es ist vielleicht nicht mal grau. Eher schmutzig. Sie trägt keine Schuhe und helles, blondes, kurzes Haar. Reste von Lippenstift sehe ich, glaube ich, der Mund sieht verwischt aus. Während ich sie betrachte, tastet sich mein Körper in ihre Körperhaltung hinein und wieder kann ich fast spüren, wie ruhig und flach ihr Atem wohl gehen muss. Etwas scheint sie fortzuziehen. Was ist das dort hinten?

Mein Blick schwenkt ruckartig in den Hintergrund des Bildes. Ich bin wieder bei mir. Unsanft aufgetaucht. So als hätte ich eben kurz geschlafen.

Der Garten ist groß und verwildert. Die meisten der Farben, die hier benutzt worden sind, haben etwas leicht Schmutziges, grau und braun, beige, alles sieht vertrocknet und welk aus, nur das Grün leuchtet an manchen Stellen. Es sind viele verschiedene Grüntöne, helle und dunkle. Das Haus dahinter wirkt klein und zugewachsen.

Viele Büsche, Bäume, Sträucher und verwelkte Pflanzen. Dazwischen stehen aber auch ein Tisch und ein Bett, ich sehe auch umgekippte Stühle, Kisten und Kästen, einen Herd und einen Garderobenständer mit Mänteln. Der ganze Garten ist voll damit. Die Möbel sind nur mit Strichen gezeichnet, wie ein erster Entwurf, nur die Konturen, zarte graue Linien, sie verschwinden fast im Dickicht der Sträucher und Büsche.

Die gesamte Einrichtung scheint im Garten zu stehen. Vor dem Haus. Ich sehe ein kleines Fenster, aber keine Tür. Das Haus hat keine Tür.

Der Tisch steht schief, an den Stühlen fehlen Beine. Das meiste ist zerbrochen.

Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll. Hat sie die Sachen in den Garten geschmissen?

Durch das kleine Fenster? Mit Kunst kenne ich mich nicht aus.

Was tut sie da in ihrem Garten? Vielleicht ist es ja auch gar nicht ihr Garten. Ich frage mich, woran sie denkt, denn offenbar denkt sie doch an etwas … vielleicht an etwas, das gerade geschehen ist? Etwas, das zu dem Müll im Garten geführt hat? Oder an etwas, das vor ihr liegt, das sie anzuziehen scheint? Vielleicht steht sie unter Schock? So sieht sie allerdings nicht aus. Vielleicht wartet sie auf jemanden … Ich möchte unbedingt wissen, woran sie denkt. Was tut sie da? Es fühlt sich an wie ein Rätsel, das ich lösen muss. Ich muss es verstehen. Der Kopf der Frau ist leicht nach links geneigt, ihr Blick geht eher nach oben als geradeaus, aber ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht zuordnen. Was für ein Zustand soll das sein? Sie ist nicht traurig, nicht fröhlich, weder gelöst noch angespannt, auch nicht verträumt. Nichts davon. Sie ist leer. Und auch das ist falsch.

Ich starre so angestrengt auf das Bild, dass ich nicht mitbekomme, dass der Galerist offensichtlich schon eine Weile hinter mir steht. »Tolles Bild, oder?« Seine Stimme bricht so rasant in meine Stille ein, dass ich ihn vor lauter Schreck einfach ignoriere. Starre weiter in das Gesicht der Frau und wünschte, er würde weggehen. Ich sollte was sagen. Wenigstens mit dem Kopf nicken. Ich muss jetzt was sagen. Kann nicht rumstehen und nichts sagen. Bin unhöflich. Ich habe nichts zu sagen und halte mich mit dem Blick am Gesicht der Frau fest.

Ich finde auch, dass »toll« kein angemessenes Wort für dieses Bild ist.

»Toll« ist ein quirliger Nachmittag mit Kuchen oder ein buntes Fest mit Luftballons, ein Wort, das man benutzt wenn Kinder eine Schnecke malen. Zu diesem Bild passt es jedenfalls nicht.

»Da bin ich mir nicht sicher«, sage ich dann.

Der Mann, der hinter mir steht, sieht aus wie der Typ Mann, mit dem ich mich nicht auskenne. Wie jemand, der Drogen nimmt (wie komme ich bloß auf so was?) oder wenigstens genommen hat, einer, der als Jugendlicher Autorennen gefahren ist, so einer (was lässt mich das denken?). Die Lippen sind es. Schmal und fest. Sie haben etwas Schonungsloses, der Zug um seinen Mund etwas Abgründiges. Er trägt einen schmalen Schnurrbart, seine dunkelblonden Haare sind streng zurückgekämmt und seine blauen Augen werden zu schmalen Schlitzen, als er lächelt.

Wir stehen ein bisschen seltsam voreinander, er zuckt mit den Schultern und lächelt noch mal, so als hätte ich etwas nicht verstanden. Mein Gesicht ist heiß.

»Ich wollte mir nur mal kurz das Bild ansehen«, sage ich, »von draußen sieht man es so schlecht.« Er macht »Mmh« und verschwindet hinter dem Tresen.

Ich bleibe vor dem Bild stehen und denke, wahrscheinlich wird sie ihrer Hand hinterhergehen. Wie eine Schlafwandlerin vielleicht.

»Sie sagen mir, wenn ich Ihnen helfen kann, ja?« Es klingt als würde er genau das Gegenteil meinen. Ich nicke und gehe dann einfach raus.

Ich will das Bild haben.

3900,– Euro hab ich gelesen. Das wird also nichts.

»Kann ich helfen?«, fragt eine unsichtbare Stimme, als ich halbherzig versuche, ein Kleid von der Stange zu zerren, dessen Kleiderbügel sich mit mehreren anderen verhakt hat. Ich bin frustriert. Zwei Kleider sind schon auf den Boden gerutscht.

»Ja, wenn du tot umfällst«, denkt es laut in mir. Und dass ich gemein und ungerecht bin, denke ich gleich hinterher.

Eine zwanzigjährige Verkäuferin mit pinken Haaren, höchstens zwanzig, nähert sich und gibt mir das rosa Kleid, an dem ich zerre, in einer anderen Größe. Ich kann mich nicht erinnern, danach gefragt zu haben. Sie muss mich beobachtet haben. Es hat einen tiefen Ausschnitt und ist schmal geschnitten, ganz schlicht. Eigentlich ein schönes Kleid. Es hängt wie ein Fremdkörper auf dem Bügel an meinem ausgestreckten Arm. Das Mädchen dreht sich um und verschwindet wieder.

Ich geh in die Umkleidekabine und schlüpf rein. Es endet kurz unter dem Knie und alles, was bei mir nach dem Knie kommt, sieht ganz okay aus. Ziehe die Stiefel aus und stehe barfuß in einem rosa Kleid vor dem Spiegel.

Ich hab keine Ahnung, was man auf einer Taufe tragen sollte.

Ich mag Kleider nicht besonders. Jetzt habe ich es mir aber in den Kopf gesetzt, dass ich auf der Taufe ein Kleid tragen werde. Ich mag Jeans und Hemden. Kleider enden für mich meistens auf der falschen Höhe. Man sieht einen ungünstigen Ausschnitt vom Bein, bei mir ist das definitiv der Fall. Ich bin kräftig. Damit meine ich nicht dick. Meine Arme und Beine sind muskulös, als würde ich Tennis spielen oder schwimmen. Was ich nicht tue. Ich bin einfach so. Meine Stimme ist dunkel und direkt. Und laut. Ich weiß das, aber ich kann es nicht ändern. Jonas macht sich darüber lustig, dass ich nicht flüstern kann. Nach Johns Geburt, John, der nie einschlafen wollte, hat Jonas mir abends verboten zu reden. »Sei still, Herrgott, du weckst ihn noch auf.«

Ich stehe mir gegenüber. Im Spiegel. Es muss seltsam aussehen, wie ich mich anstarre. Ich denke, nichts ist weiter weg von einer Elfe als das.

Ich habe eine Schwäche für Elfen.

Sie beobachtet mich, seit ich aus der Umkleidekabine raus bin.

»Wissen Sie, was Sie dazu tragen müssen?« Ohne abzuwarten, steckt mir das pinke Mädchen einen Blumenkranz ins Haar. Kleine, bunte Plastikblumen und Perlen, hinten irgendwas mit Tüll. »Flowercrown. Voll in gerade.«

Das Bild im Spiegel löst eine seltsame Qual aus. Da steht eine verkleidetet Frau und starrt sich selbst an. Mit Blumen im Haar.

Ich frage mich, wozu? Wozu soll ich mir einen Blumenkranz ins Haar stecken?

Was ändert das? Sie kann sich das gern selbst ins Haar stecken. Bei ihr wäre es ein Versprechen, oder eine Hoffnung, wenn man es zynisch betrachten möchte. Bei mir ist es einfach nur albern.

Ich nehme das Ding von meinem Kopf und gebe es ihr zurück.

Ich bin ganz ruhig. In meiner Vorstellung waren hysterische Frauen immer welche, die schreien und mit den Armen um sich schlagen. Vielleicht stimmt das gar nicht.

»Och schade, ich finde, Sie sehen damit aus wie eine Elfe«, sagt sie. Hat sie das eben wirklich gesagt? Ja. Damit hat sie mich natürlich voll am Arsch. Keine Ahnung, warum ich immer eine Elfe sein wollte, aber das wollte ich. Immer schon. Wahrscheinlich weil ich mich eher wie ein Trampeltier fühle. »Du musst Ballett machen!«, hat meine Mutter immer gesagt, »dann kriegst du Eleganz.« Ballett hab ich nie gemacht.

Ich kaufe die Flowercrown trotzdem nicht, dafür aber das Kleid. Es ist ein gutes Rosa, finde ich. Es besteht nicht darauf, rosa zu sein. Es ist ein indirektes Rosa. Ein passives Rosa. Kein klares Bekenntnis. Zu gar nichts. Wahrscheinlich ist es passend.

Als ich wieder an der Galerie vorbeihaste, sehe ich den Galeristen von hinten. Er hat die Hände in die Hüften gestemmt und unterhält sich mit einer Frau, die unter jedem Arm einen Hund trägt.

Ich möchte mein rosa Kleid anziehen und mich danebenstellen. Passiv aggressiv. Also noch mal anders. Ich möchte ein Leben haben, in dem es Sinn macht, ein rosa Kleid anzuziehen und sich danebenzustellen. So rum.

Ich bin doch da! Oder etwa nicht? Bin ich doch. Warum will ich mir ein Kleid anziehen und mich danebenstellen. Neben Bilder. Neben Galeristen. Neben mich. Was soll denn das?

Freitag fahren wir los. Zu Sven und Mille, zu Ellas Taufe, nach Kopenhagen.

Ich freue mich darauf. Ich freue mich hauptsächlich darauf, wegzufahren. Mit Jonas und den Jungs. Keine Ahnung, ob ich das rosa Kleid anziehen werde.

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