Читать книгу: «Die Architektur des Knotens», страница 6

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UNSER ALTER VOLVO wälzt sich wie ein Schiff durch ruhige See. Beständig und geradeaus. Wir sind schon auf der A7, schon auf dem Weg nach Kopenhagen. Heute Morgen hat es wieder geregnet, aber seit neun Uhr scheint die Sonne und die Kinder essen auf der Rückbank Äpfel. Die Jungs lachen über irgendwas, ich habe nicht mitbekommen, worüber, habe nur das Lachen gehört und den Kopf leicht nach hinten gedreht. Ich sehe Johns rote Wangen und bin glücklich. Glücklich auf die Art, wie man glücklich ist, wenn die Sonne scheint, alle Taschen gepackt sind, man endlich auf die Autobahn fährt und die Kinder auf der Rückbank lachen. Alles gut. Auf die Art glücklich.

Jonas wollte über die Storebælt-Brücke nach Kopenhagen fahren, die Kinder wollten plötzlich beide mit der Fähre fahren. Ein endloses Hin und Her und jetzt fahren wir doch über die Brücke. Wie es dazu gekommen ist, habe ich nicht mitbekommen.

Hätte auch nicht gewusst, was mir lieber gewesen wäre. Jonas hat entschieden.

Felder, Wiesen, Bäume nähern sich, wischen vorbei, bleiben zurück. Ich starre aus dem Fenster und versuche, mich an etwas zu erinnern.

Jonas und ich auf einem Spaziergang. Wir gehen. Unsere Schritte sind gleichmäßig. Da war nichts anderes als wir und die Schritte. Ich greife nach seiner Hand. Er nimmt sie. Ich balle meine Hand zu einer Faust, mache sie klein, schiebe sie in seine Hand, aber lose, ohne Nachdruck. Mehr wie eine von mehreren Möglichkeiten, nicht wie ein Bedürfnis. Er hätte meine Hand weggleiten lassen können, er hätte sie auffalten oder anders greifen können. Stattdessen schließt er seine Hand fest um meine Faust, sodass sie darin verschwindet, wie in einer Höhle. Wir sind weitergegangen. Beide in dem Gefühl, dass unsere Hände so verbunden sind. So und nicht anders.

Es war seine Antwort auf meine Frage, ob er mich halten würde. Wir wussten beide, dass es das war. Mein Kopf war gesenkt und ich habe seitlich von unten zu ihm hochgeschaut und er hat mir genau den gleichen Blick zurückgeschickt und gelächelt. Ein breites Lächeln mit geschlossenen Lippen, ich erinnere seinen Blick, fest und klar, und er dauerte genau so lange, dass ich ihn nicht mehr als einfaches Zurückschauen verstehen konnte, sondern als Bekräftigung. Erst dann hat er weggeschaut.

Ich frage mich, ob man das mit Worten überhaupt alles hätte ausdrücken können. Was hätte ich ihn fragen sollen? »Darf ich mich in dir verkriechen?« Und dann hätte er vielleicht gefragt: »Was meinst du mit verkriechen?«, oder auch nur gesagt: »Ja, klar«, und ich hätte dann gesagt: »Toll. Danke.« Nein. Die Worte hätten uns wenig erzählt. Die Art der Berührung war es. Darin lag alles, was wir wissen mussten.

Ich frage mich, warum das nicht mehr möglich ist.

Jonas’ Hand liegt ruhig auf seinem Oberschenkel. Ich schiebe meine Hand unter seine und mache eine Faust. Seine Hand liegt locker über meiner Faust. Irgendwann schließt er sie.

Ich bin mir nicht mal sicher, ob er das eigentlich bemerkt.

Es war dumm. Die Bewegung meiner Hand war ein Vorwurf. Die Bewegung seiner Hand eine Erinnerung. Und wahrscheinlich hat er nicht mal gemerkt, dass dieses Gespräch überhaupt stattgefunden hat. Ich habe keine Ahnung, wie ich es anders machen könnte. Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt geht. Sind immer noch Wiesen, Felder und Bäume, die vorbeiwischen. Immer geradeaus. Alles ruhig.

John hört mit Kopfhörern Musik und guckt aus dem Fenster. Mika blättert schon wieder in Johns Comics, ich sehe das im Rückspiegel, sehe auch, dass John es bemerkt hat, aber der Streit darüber bleibt erstaunlicherweise aus.

John sieht wieder aus dem Fenster und Mika schläft zehn Minuten später ein.

Wir halten an einer Raststätte kurz vor der Grenze und essen Pommes. Jonas fragt mich, ob ich mich auf Mille und Sven freue, und zieht seinen Pommes erst durch den Ketchup, dann durch die Mayonnaise.

»Sven ist ja dein Freund«, sage ich.

»Na und, du kannst dich ja trotzdem auf die beiden freuen, oder etwa nicht?«

»Klar, ich freu mich auch. Ich freu mich darauf, Mille kennenzulernen, ich hab sie ja eigentlich nur ein Mal auf der Hochzeit gesehen.« Die Wahrheit ist, dass ich nicht genau weiß, ob ich mich freue. Ich freue mich über die Pommes. Und die Sonne.

Bin eingeschlafen. Als wir die Storebælt-Brücke erreichen, rüttelt Jonas an meinem Bein. »Guck mal, die Brücke! So geil, oder? John, nimm die blöden Kopfhörer ab, guck dir die Brücke an!«

»Ohne Kopfhörer sehe ich die auch nicht besser«, schreit John.

»Wir fahren übers Meer, Leute«, ruft Jonas und Mika lacht und ruft:

»Wir fahren übers Meer!«

Und ja, die Brücke ist majestätisch. Die riesigen, wuchtig-massiven grauen Pfeiler, auf denen sie steht, wie hoch der Stahl in den Himmel ragt, und die Stahlschnüre, die dort gespannt sind, mit all den Lichtern. Unten schäumt das Meer und John öffnet ständig das Fenster und hält sein Gesicht in den Wind, öffnet den Mund und lacht laut, wenn der Wind seine Haare wegreißt.

Ich will etwas sagen, wegen des Windes und der Haare, so etwas wie: »Sei bloß vorsichtig.« Aber ich denke es nur.

Fast am Ende der Brücke angelangt, ist da plötzlich ein kleines Stück Land, das aussieht wie ein Finger, den die Küste vorsichtig ins Meer streckt, umtost von Wellen und weißem Schaum. Darauf steht tatsächlich eine Kirche. Eine kleine weiße Kirche. Ganz allein auf diesem Zipfel im Meer. Wer geht denn da hin?, frage ich mich.

In einiger Entfernung leuchten jetzt bunte Lichter auf und John ruft: »Da unten ist ’ne Disco, guck mal.«

»Das ist die Mautstation«, sagt Jonas. Ach ja, natürlich, die Mautstation, denke ich.

Wir zahlen mit Karte und fahren durch.

Irgendwann gegen vierzehn Uhr kommen wir in Ishøj an. Mille und Sven sind kurz vor Ellas Geburt aus Kopenhagen weg und nach Ishøj gezogen.

»Sind nur fünfzehn Minuten bis Kopenhagen und wir haben das Meer direkt vor der Tür«, hat Sven am Telefon zu Jonas gesagt. »Muss sein mit Kind«, hat er auch noch gesagt, worüber sich Jonas hinterher mindestens eine halbe Stunde aufgeregt hat.

»Was ›muss‹ mit Kind?«, hat er mich nach dem Telefonat gefragt, »Was meint er denn damit? Wieso? Muss man mit Kind unbedingt aufs Land, oder was? Oder ein Meer vor der Tür haben? Was die Leute immer alles müssen plötzlich.«

Es waren keine Fragen, auf die Jonas eine Antwort erwartete, die hatte er alle selbst, die Antworten, deshalb habe ich dazu auch nichts gesagt.

Ich weiß, dass es Jonas nervt, wenn Leute klar umrissene Vorstellungen von etwas haben, Ideen, Meinungen, denen sie sich fraglos unterordnen und die sie für allgemeingültig erklären.

»Bis es zum eigenen Lebensentwurf nicht mehr passt, dann richten die sich von heute auf morgen komplett neu ein, dann wird schön umdekoriert bei den Ikea-Philosophen«, hat er neulich nach einem Abendessen bei Freunden gesagt. Ich fand den Abend schön. Hab ihm gesagt, dass er ja selbst von einigen Dingen ziemlich klar umrissene Vorstellungen hat und die nicht nur als allgemeingültig, sondern mindestens zum Naturgesetz erklärt hat. Jonas hat gesagt, das wäre ihm klar … und egal, und dann hat er darüber gelacht.

Er regt sich einfach gern auf, gern laut, und an dem Abend habe ich nur gesagt, dass ich das Bedürfnis, sich in seiner eigenen Welt »einzurichten«, ganz gut verstehen könne und dass wir das doch auch irgendwie tun/getan haben, oder etwa nicht? Jonas hat mir dann einen aufgeregten Vortrag darüber gehalten, dass das tatsächlich dämlich ist, dass ich das jetzt sage.

Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass ich mittlerweile an manchen Tagen davon träume, unsere gesamte Einrichtung zu zerkloppen.

»Ich freu mich trotzdem auf Sven«, sagt Jonas, »bin gespannt auf das Haus. Soll groß sein.« Ich betrachte ihn von der Seite. Wieso »trotzdem«, frage ich mich. Trotz was? Was hat der arme Sven denn getan, außer ans Meer zu ziehen? Oder was hat Jonas damit gemeint? Jonas reibt sich das Knie. »Mann, mein Knie tut weh.« Er streckt es durch und furzt dabei.

»Papa, du bist so widerlich!«, ruft John von hinten.

»Eklig! So eklig!«, kräht Mika und zupft dabei an Johns Ärmel, »eklig, John, oder? Oder?«

Sven und Milles Haus ist erstaunlich niedrig. Das Dach wirkt riesig, aber das Haus scheint unter dem Gewicht in die Knie gegangen zu sein. Heller, freundlich gelber Klinker, nicht dieser unangenehm urinfarbene, den man in deutschen Dörfern so häufig sieht und der immer einen abweisenden und unfreundlichen Eindruck auf mich macht.

Als ich ausgestiegen bin, ist mir der Klinker sofort aufgefallen. Die Steine sehen … weich aus, haben eine helle verwischte Farbe, wie Sand. Ich möchte eigentlich sofort ans Wasser.

Der Moment, in dem Gäste auf ihre Gastgeber treffen, ist anstrengend. Alle reden gleichzeitig, man weiß nicht, wo man hinsoll, die Empfindungen sind aufgeregt und orientierungslos, irren wie dicke schwarze Fliegen ziellos durch den Raum, alles wird schneller und unübersichtlicher, dieses Gesurre macht mich verrückt. Ich konnte das mal schön finden. Jetzt überfordert es mich.

Das Haus ist wirklich weitläufig, viel Fläche, aber ich kann nicht erkennen, wo der Eingang ist. Links gibt es einen Carport und etwas, das aussieht wie ein Eingang. Was dann kommt, sieht aber eher wie die Rückseite eines Hauses aus. Es gibt zwei Reihen von jeweils vier Fenstern, die schwarz gerahmt und übergangslos übereinander angeordnet sind.

Rechts davon verläuft, ein bisschen nach hinten versetzt, noch ein längliches Stück Haus, das aber eher wie ein Anbau aussieht, allerdings mit einem unpassend riesigen Eingang, überdacht mit schwarz glänzenden Dachziegeln und abgestützt von drei Säulen. Mir ist nicht ganz klar, ob das überhaupt noch zum Haus gehört. Warum baut man das so, frage ich mich, welche Idee steckt dahinter? Dieses Haus wirft mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Es ist … ungewöhnlich.

Vielleicht soll es das aber auch sein, denke ich. Mit Absicht ungewöhnlich. Das funktioniert nicht. Etwas, das mit Absicht ungewöhnlich sein will, ist doch schon wieder sehr gewöhnlich, denke ich. Und dann denke ich, dass das Haus gut zu Sven passt.

»Wo geht man denn rein?«, fragt John und greift von hinten in meine Jeans, unter den Gürtel und zieht daran.

Ich zieh seine Hand wieder raus, ich mag das Gezerre an mir nicht. »Keine Ahnung«, sagt Jonas, greift durch die geöffnete Autoscheibe und drückt auf die Hupe.

Mille kommt links aus dem Seiteneingang, über den Carport, sie hat die kleine Ella auf dem Arm. Ihr Lächeln ist riesig und sie schafft es mit Baby auf dem Arm, wild zu winken.

»Ihr seid da! Ihr seid da!«, ruft sie und es ist eine offene, zärtliche Geste, mit der sie Jonas die Hand seitlich auf die Wange legt und ihm einen Kuss auf die andere drückt. Bei mir rutscht ihre Hand mehr Richtung Schulter, aber ich finde nichts Merkwürdiges daran, nur Herzliches. Den Kindern streicht sie durch die Haare und hört nicht auf zu lächeln.

Sie freut sich wirklich, denke ich. Offensichtlich erstaunt mich das.

»Lasst das Auto genau da stehen, das ist perfekt.« Mille wedelt mit der Hand Richtung Haus. »Los, kommt alle rein, Sven wartet schon.«

Jonas öffnet den Kofferraum und will die Taschen rausnehmen. Mille ruft ihm über die Schulter zu, er soll das Sven machen lassen. Jonas nimmt nur die Rucksäcke der Kinder und die Tasche mit meinen Schuhen, schaut kurz rein und grinst mich an.

Das Haus ist das letzte am Ende einer Wohnstraße. Ruhig hier.

Die Straße ist eine Sackgasse, sie endet da, wo unser Auto steht, mit Blick auf eine Wiese. Ein Stück Sandweg als Übergang, dahinter die Wiese.

Direkt am Übergang stehen ein paar Bäume, die aussehen wie Tannen, aber sie haben sehr lange Stämme, die völlig frei von Ästen sind. Die Stämme sehen so gar nicht nach Tanne aus. Jochen wüsste bestimmt, was das für Bäume sind. Ich hab neun Bäume gezählt. Weiß auch nicht, warum ich die Bäume zähle. Hinter der Wiese sehe ich Wasser.

Aber das Meer ist das nicht.

Wir gehen durch den Carport und den Seiteneingang und landen direkt in einem riesigen Wohnzimmer. Links stehen ein helles Ledersofa und mehrere Sessel, geradeaus führt ein breiter Durchgang in einen riesigen Wintergarten, der mindestens noch mal so groß ist. Das Ganze endet mit einer Glasfront vor der Terrasse. Ich verstehe dieses Haus nicht.

Durch die Fenster kann ich Sven sehen, der am Grill steht und uns zuwinkt. Ich winke zurück. Die rechte Wand des Raumes ist ebenfalls durchbrochen, der Durchgang nimmt fast die Hälfte der Wand ein und gibt den Blick frei auf die andere Hälfte des Wohnzimmers und einen großen weißen Esstisch. Eine weiße Vase mit schwarzen Streifen steht in der Mitte des Tisches, darin ein riesiger Strauß mit pinken Blumen, deren Namen ich nicht kenne. In der Ecke ist ein Kamin. Ich habe das Gefühl, in einem Katalog zu stehen. Schöner Wohnen. Alles ist perfekt.

Es gibt hier so viel Luft, so viel Platz … unsere Wohnung kommt mir plötzlich klein und eng vor.

John und Mika sind schon bis zum Wintergarten durchgelaufen, mir fällt auf, dass wir alle noch unsere Schuhe anhaben. Mein Hemd ist so verschwitzt, aber darunter trage ich nur ein gelbes Trägerhemd und das ist an den Rändern ausgefranst. Mit so was will ich hier nicht im Haus stehen. Nicht hier.

»Schuhe aus, Jungs!«, rufe ich. Und diese Worte kommen von seltsam weit unten.

Ich möchte auch so ein Haus haben.

»Ist egal«, sagt Mille, »wir lassen sie auch immer an. Kommt, Sven macht Steaks und wir haben Hotdogs für die Kinder. Ihr seid in Dänemark!«

»Ich hab den Kofferraum noch auf«, sagt Jonas.

»Lass das Sven machen, hier klaut doch keiner was«, Mille zeigt auf Sven, der sich gerade die Schürze auszieht und die Grillzange ablegt.

»Siehst du. Er ist langsam, aber er kommt.« Sie geht sie ihm entgegen.

»Er trägt eine Schürze, der gute Sven«, flüstert Jonas mir ins Ohr.

»Herrlich.«

Ich lächle. »Sie haben einen Kamin.«

Jonas nickt: »Ja, das Leben ist nicht fair. Darauf ist jedenfalls Verlass.«

John und Mika sind im Wintergarten buchstäblich in die Knie gegangen.

Der Wintergarten ist mit einem dunkelgrünen Teppich ausgelegt, auf dem sich hier und da in merkwürdiger Verteilung rote, blaue und ein paar gelbe Punkte befinden, und er ist ausgestattet wie ein Spielzeugparadies. Ich sehe Bobbycars, Lego, Playmobil, so viele Kisten, ich ziehe eine mit Stiften und Bastelzeug aus dem Regal und schiebe sie wieder zurück. Schiffe, Autos, eine Eisenbahn, Puzzle, Spiele und eine große gelbe Holzkiste, die im Raum steht wie eine Schatzkiste. John öffnet die Kiste und befördert eine Verkleidung nach der anderen zu Tage. Prinzessinnen-Kleider, Räubermasken, Drachenkostüme, sogar Star-Wars-Schwerter.

Sven kommt mir durch die Glastür entgegen und breitet die Arme aus. »Mit Bart!«, ruft Jonas hinter mir. »Der alte Sven mit Bart!«

Jonas überholt mich und drückt Sven an sich, haut ihm dabei auf die Schulter und sagt: »Na, ihr seid ja spielzeugmäßig schon perfekt ausgestattet. Habt ihr das alles schon gekauft, bevor ihr wusstet, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«

Neid in seiner Stimme? Nicht viel, aber irgendwas schwingt da mit. Sven lachte kurz auf »Um Gottes willen, nein. Die Leute, die vor uns hier gewohnt haben, hatten vier Kinder. Die sind nach Afrika gezogen und haben gefragt ob wir den Kram übernehmen wollen. Das bot sich einfach an.«

Mille zieht mich mit ihrer freien Hand hinter sich her. »Hilfst du mir, die Teller rauszubringen? Ich kann das kleine Ella-Ding nicht ablegen, dann weint sie. Meistens jedenfalls.«

»Na klar.« Ich lass mich in die Küche ziehen, lasse mir Teller in die Hand drücken, obendrauf eine Schüssel mit Gurkensalat und laufe wieder zurück zum Wintergarten.

Sven und Jonas kommen mir mit den Taschen entgegen. »Willst du ein Bier?«, fragt Sven gerade. »Sofort und unbedingt«, antwortet Jonas. Ich gehe nach draußen, um die Teller auf den Gartentisch zu stellen. Auch die Schüssel. Kurz halte ich inne, lege meine Hände in die Hüften und starre in den Himmel. Dieser Blick ist nur eine Erinnerung an gestern. Ich beobachte mich, während ich das tue. Es ist, als ob ich auf ein Gefühl warte, von dem ich weiß, dass es nicht kommen wird. Dann gehe ich zurück in die Küche.

Wir essen Steaks und Hotdogs. Der Garten ist erstaunlich klein, verglichen mit der Größe des Hauses. Jonas und Sven haben die Taschen mitten im Wintergarten stehen lassen, John und Mika haben sich als Räuber verkleidet und benutzen die Taschen als Schutzwälle, hinter denen man weder abgeknallt noch aufgespießt werden darf, was zu einigen Auseinandersetzungen führt, da so gut wie jeder Ort irgendwie ein »vor« oder ein »hinter« der Tasche ist und alles immer nicht gilt.

Ich gehe rein, um den Streit zu schlichten, ohne Erfolg, nur noch mehr Geschrei.

John brüllt: »Du warst aber schon getroffen. Also tot.«

»War ich nicht.« Mika weint. Weinen ist seine Waffe. Er hat einen erstaunlich langen Atem, wenn es ums Weinen geht.

»Los, kommt, Jungs, lasst das doch mit dem Schießen.« Sie hören mir nicht zu und ich, weil ich wieder rauswill, schlage ihnen dummerweise vor, dass sie mit irgendwas werfen sollen, damit sie merken, wann sie getroffen sind.

John schmeißt Mika einen großen Duplo-Legostein an den Kopf und sagt: »Siehst du. Tot.«

Ich nehme die Jungs mit in den Garten, Mika weint noch ein bisschen auf meinem Schoß, ich glaube, er schläft gleich ein. Lehne mich vorsichtig zurück und atme langsam und ruhig, Mika entspannt sich, das mache ich, seit sie klein sind, in sie reinatmen.

Überall im Garten sind Steine, große und kleine. Alles hier ist geschmackvoll. Sogar die Steine. Alles. Ich finde das bedrückend.

Vorhin in der Küche habe ich kurz die Schränke aufgemacht, als Mille draußen war.

Becher, Gläser, Schüsseln, alles, was ich gesehen habe, war schön. Es gab keine einzige geschmackliche Verirrung, keine seltsamen Vorlieben, oder Entgleisungen, nichts. Kein Becher, auf dem steht: »Grüße aus Bremen« (Jonas hat so einen), kein altes Glas aus dem Schrank der Eltern, keine Deko-Vase oder irgendwas, das man aus nostalgischen Gründen seit dem Auszug aus der ersten Wohnung mit sich herumschleppt (meine Schränke sind voll von solchen Dingen), nichts dergleichen ist hier. Alles hier ist perfekt. Für mich sieht es nach einem Leben aus, wie ich es mir vielleicht ausdenken, aber niemals haben könnte.

Nicht mal, wenn ich wollte. Alles in meinem Leben besteht aus Teilen, Teile, die von irgendwo hergekommen und dann geblieben sind. Eine Ansammlung von Teilen. Ich bin auch so. Mille scheint aus einem Stück zu bestehen. Ich wundere mich darüber, wie stark ich sie darum beneide, während es mich gleichzeitig abstößt.

Das Haus macht was mit mir. Mille und ihr riesiges Lächeln machen auch was mit mir. Dabei geht es noch nicht mal um das Haus. Klar, das Haus würde ich auch nehmen, aber das ist es nicht. Es ist ihr Lachen. Milles Lachen schüchtert mich ein. Mille hat das Lachen von Frauen, die ganz und gar mit sich im Reinen sind. Die einen Raum einfach mit ihrem Lachen ausfüllen können.

Sven beißt schon in den dritten Hotdog. »Ich werde fett«, sagt er.

»Ich bin glücklich und jetzt werde ich fett.«

»Das kommt, weil du zu extrem bist, du kannst einfach gar nichts normal machen«, sagt Mille und steht tatsächlich auf, während sie anfängt laut und beschwingt zu erzählen. Ich finde das erstaunlich, dass Mille aufsteht, um etwas zu erzählen.

»Er macht eine Diät und dann darf man nichts mehr einkaufen, oder er hängt ein Schloss vor den Kühlschrank, ernsthaft, er fährt an bestimmten Läden nicht mehr vorbei und trifft Leute nicht, von denen er weiß, dass sie mit ihm essen gehen wollen. Das ist doch völlig verrückt.«

»Vision Zero ist das«, sagt Sven und beißt dabei in den Hotdog. Ich mag, wie er mit dem Zeigefinger die Soße aus seinem Bart streicht. Die Selbstverständlichkeit daran mag ich.

»Ich bin einfach nur konsequent. Radikal. Nur so geht’s. Keine halben Sachen machen.«

»Ja, aber es funktioniert ja nicht.« Mille steht immer noch und guckt jetzt in meine Richtung. »Weißt du, es kippt nämlich irgendwann, und weißt du, was er dann macht? Dann holt er sich nachts heimlich Ellas Fruchtbreigläschen aus der Speisekammer, weil wir nichts Süßes im Haus haben.«

»Was? Das habe ich nie gemacht, Ellas Gläschen aufessen hab ich nie gemacht.«

»Oh doch, hast du!« Mille lacht wieder, richtig laut, und sie erinnert mich plötzlich an die Frau eines Wikingers. Frauen, die ihre Männer mit Besenstielen verprügeln können. Das kann sie bestimmt.

»Ich bin eine Frau, ich weiß genau, was ich im Schrank habe, und ich weiß auch ganz genau«, sie hebt die Hand wie zum Schwur, »was Ella und ich gegessen haben.«

Sven kratzt sich durch den Bart und ich sehe den leichten Glanz in seinen Augen, waren wohl doch schon einige Biere.

Ich mag Sven. Ich beobachte, wie er in aller Ruhe nachdenkt bevor er redet. Ich habe viel übrig für Leute, die nachdenken, bevor sie reden.

»Ja, das ist weil das Vision-Zero-Ding nicht funktioniert, wenn ihr nicht mitmacht. Wenn ich Diät mache, dann müssten einfach alle Restaurants und Kioske abgeschafft werden, verstehst du, radikal. Es ist ganz einfach: Wenn nichts mehr zu essen da ist, kann ich auch nichts essen. Nur so geht’s.«

»Was für ein Schwachsinn«, sagt Mille und setzt sich wieder hin.

»Jonas, du weißt doch, was ich meine, oder? Du verstehst das.«

»Nee, ich hab keine Ahnung, wovon du da redest, ehrlich gesagt.«

»Ich mache Fehler, also muss die Welt um mich herum so gestaltet werden, dass ich keine Fehler mehr machen kann. Wieso soll ich den ganzen Tag gegen das Essen ankämpfen, nimm einfach das Essen weg, schafft das Essen ab. So rum musst du das mal denken.«

Er lacht laut und lange. »Ich find das geil. So hat man übrigens auch viel weniger Schuldgefühle.« Er macht sich noch ein Bier auf. Ich bin mir nicht sicher, wie ernst er das meint, was er sagt.

»Also, es gibt für niemanden mehr Restaurants, nur weil du Diät machst, oder was? Wie soll das denn gehen?«, fragt Jonas. An seiner Stimme höre ich, dass er mit Freude auf den Zug aufgesprungen ist. »Nein, Mann, ich sag doch nur, man muss die Dinge mal anders denken, anders rum, das mein ich mit Vision Zero. Nicht an den Symptomen rumdoktern, sondern eine ganz andere Form ausprobieren, neu denken, verstehst du … das Drumherum ändern. Die Umstände. Ich hab das akzeptiert, dass ich keine Diät durchhalten kann. Ich hab der Wahrheit ins Gesicht gesehen.« Er lacht wieder laut und sieht mich dabei an. Ich lächle zurück.

»Ich bin ein Mensch. Was soll ich sagen. Soll ich mich dafür ständig mies fühlen? Mich fragen, warum ich so ein Schwächling bin? Das führt bei mir übrigens dazu, dass ich noch mehr esse. Erstaunlich, oder? Also. Vielleicht stimmt was mit dem ganzen Essen um mich herum nicht. Vielleicht sollte man da mal was machen. Guck dir die Leute doch an. Die meisten sind doch zu fett, oder nicht? Du kannst doch nicht die Menschen ständig mit Fressen umgeben und dann mit dem Finger auf sie zeigen, wenn sie schwach werden.«

»Selbstkontrolle«, sagt Jonas. Daraufhin wirft Sven den Kopf nach hinten und lacht.

»Ja, gute Idee.« Er lacht weiter und ich kann sehen, dass Jonas genervt ist.

Irgendwas mag ich an der Vision-Zero-Sache. Auch wenn ich das Gefühl habe, es nicht wirklich verstanden zu haben. In meinem Kopf ist es eine große weiße Null. Mitte leer. So als würde man den Tisch leerfegen und von vorne anfangen.

»Sven, keine Ahnung, was das mit deiner Diät zu tun hat«, sagt Jonas.

»Was ist das denn genau? Vision Zero …«

Mille lässt ihren Kopf in ihre Hände sinken. »Gott, Yvonne, frag doch jetzt bitte nicht noch nach, dann hört er ja gar nicht mehr auf.« »Doch, lass mal, Mille, ich erzähl es lieber Yvonne, Jonas ist mir zu deutsch mit seiner Selbstkontrolle. Vision Zero ist ein Programm zur Verkehrssicherheit von den Schweden. Keine Toten mehr im Straßenverkehr. Zero Tote, war das radikale Ziel. Menschen machen Fehler, das kannst du nicht ändern, Kinder laufen auf die Straße, kannst du nicht ändern, also, wenn du keine Toten mehr haben willst, denk es andersrum, weißt du, nicht an den Kindern rumdoktern, die laufen auf die Straße, auch wenn du ihnen das zehnmal sagst. Scheiß auf Verkehrserziehung, bau einen Zaun, leg die Kinder an die Leine, was weiß ich. Verbiete das Überholen auf Landstraßen. Wenn die Leute das nicht können, muss man halt ’ne Betonwand ziehen. Wenn man es will, kriegt man es hin.«

»Indem man Zäune baut und Kinder an die Leine legt?« Jonas stellt sein Bier auf den Tisch, und das nicht gerade leise. »Das ist doch keine Lösung, wer will denn so leben, bitte? Zäune und übrigens auch Mauern haben wir schon genug. Bin ich gar kein Fan von. Warum baust du nicht eine Mauer um dich rum, schließ dich ein, kette dich doch selbst fest, warum müssen denn die Restaurants weg, wenn du abnehmen willst? Denk das mal so rum. Du bist einfach ein Egoist, Sven.« Jonas haut ihm mit den letzten Worten seine flache Hand auf den Oberschenkel.

Sven grinst ihn an. »Jaaa, das ist typisch für dich, du willst gar nicht verstehen, was ich meine. Ich sage doch nur, wenn man ein Ziel hat«, er macht eine kurze Pause, dreht beide Handinnenflächen nach oben und lehnt sich entspannt zurück, »dann muss man eine Entscheidung treffen. Eine ganz klare. Du musst davon ausgehen, dass du das auf jeden Fall erreichen kannst, auf jeden Fall, du musst dich nur fragen: Wie. Da darf es keine Befindlichkeiten mehr geben. Das wird schmerzhaft. Vielleicht muss man sich von geliebten Bequemlichkeiten trennen oder der Idee, dass der Verkehrskasperle sinnvoll ist, weil sich einfach herausgestellt hat, dass er das nicht ist. Man muss die Konsequenzen tragen. Gott, ich mag halt den radikalen Gedanken daran, sei doch nicht so langweilig.«

»Du bist langweilig, wenn du jedes Mal über Deutschland herziehst, nur weil du plötzlich in Dänemark wohnst«, sagt Jonas. »Warum bist du nicht gleich nach Schweden gezogen?«

Sven ignoriert Jonas einfach und wendet sich mir zu.

»Hör zu, stell dir nur mal vor, einer, der mit über zwanzig Stundenkilometern auf einen Zebrastreifen zufährt, wird sofort geblitzt, muss tausend Euro zahlen, und wenn er’s noch mal macht, ist der Lappen weg. Macht doch keiner mehr dann.«

»So machen das die Schweden?«, frage ich.

»Nein, so jetzt natürlich nicht, aber so die Richtung schon. Was glaubst du, wie viele Leute sich plötzlich daran halten würden. Dann muss man das gar nicht mehr diskutieren. Thema vom Tisch.«

»Ja, klar, du kannst den Leuten auch mit Steinigung oder Aufhängen drohen, das funktioniert in manchen Ländern auch ganz gut«, sagt Jonas.

»Da ist doch aber ein Riesenunterschied. Die Schweden wollen das ja so. Und mit radikal meine ich ja nur, dass das dann eben Einschnitte mit sich bringt. Das ist unbequem, aber es gibt halt nichts umsonst. Die Straßen sind da so eng, dass es nervt, und der Verkehr ist zäh. Dafür stirbt halt keiner mehr. Oder kaum einer. Ich sag ja nur, man muss wissen, was man will. Und nicht immer dieses Jammern und Klagen und trotzdem immer weitermachen. Bringt doch nichts. Das Jammern nervt.«

In meinem Kopf schwebt eine große weiße Null. Und das Bild von einem Tischtuch, das in die Luft fliegt. Steigt und dann sinkt. Und tote Käfer. Keine Befindlichkeiten also. Ich wische mir kurz mit der Hand über die Augen. Ich bin müde.

»So, du hörst jetzt auf, Bier zu trinken.« Mille ist aufgestanden und nimmt Sven die Bierdose aus der Hand, setzt sie an den Mund und trinkt sie aus.

»Die dänischen Frauen können trinken, was!«, sagt Sven. Stolz in seiner Stimme?

»Ich bin in Deutschland aufgewachsen«, sagt Mille.

»Egal, Du bist total dänisch und außerdem, stillst du nicht noch?«

»Ich würde gern ein bisschen an den Strand gehen.« Hab ich das eben gesagt?

Die Hauptstraße ist schmal, die Häuser sehen alle freundlich aus, jedes hat einen eigenen Garten, aber alles ist eingezäunt … seltsam viele Zäune überall …

Jedes Haus hat einen, sie sind immer um das gesamte Grundstück gezogen, oft stehen zwei Zäune dicht an dicht, dort wo die Grundstücke aufeinandertreffen. Hätte ich nicht von den Dänen gedacht, das mit den Zäunen. Wozu braucht man so viele Zäune?

Mille hat mir erklärt, wo ich rechts abbiegen muss, um an den Strand zu kommen.

Sie hat auch gesagt, sie würde Ella in den Kinderwagen stecken und mitkommen. Das wollte ich aber nicht. Ich hab es geschafft, Mille zu erklären, dass ich zu Hause so selten dazu komme, mal allein zu sein, für mich zu sein, und ob das denn o.k. wäre, habe ich sie gefragt, wenn ich … also ob es wirklich in Ordnung wäre, wenn ich einfach alleine losziehe? Habe danach bestimmt noch drei Mal: Wirklich?? gefragt und auch noch gesagt: Mille möge das bitte nicht falsch verstehen … und Mille hat einfach nur gesagt: »Klar, alles gut«, und mir den Weg beschrieben.

Da steht das Schild, von dem Mille gesprochen hat. Ich folge dem Weg.

Die Müdigkeit von der langen Fahrt sitzt mir im Nacken, ich laufe auch schon wieder die ganze Zeit mit gesenktem Kopf. Kopf anheben, Brust raus … Schon nach ein paar Schritten merke ich, dass ich wieder nach unten gucke, weil ich über die Steine nachdenke, die hier liegen. Alle haben das gleiche Grau und einen oder mehrere weiße Striche.

Ich weiß nicht, ob es gut ist, so viel nach unten zu gucken. Man kriegt ja nichts mehr mit.

Wie ich vor Mille eben meine Erklärungen herausgestammelt habe. Und der Überschwang, mit dem ich mich ständig entschuldige. Warum mache ich das? Ich möchte ein paar von den Steinen mitnehmen. Und schmeißen.

Obwohl es schon Mai ist, weht der Wind ganz schön ordentlich. Ich laufe durch einen kleinen flachen Dünenhang und da ist das Meer. Der Strand hier ist schmal und hat was Wüstes. Auf dem Weg runter zum Strand bin ich an einem großen Gebäude vorbeigekommen, auch an einem Parkplatz, ich hab nicht weiter drauf geachtet, jetzt frag ich mich, was das war. Ich drehe mich um. Von hier sieht das Gebäude aus wie der untere Teil eines Schiffes. Der Bug stößt spitz in den wolkigen Himmel. Bin ganz allein am Strand.

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