Читать книгу: «Die Architektur des Knotens», страница 5

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Frank hat die Würstchen abgestellt, steht aber immer noch, weil das Fleisch wartet, wie er sagt. Die Grillzange baumelt unentschlossen in seiner Hand.

»Es geht eher um das Ritual, Jonas. Die Leute lieben Rituale. Man will sein Kind schützen. Das hat nichts mit klaren und schon gar nichts mit logischen Gedanken zu tun. Das müsstest du doch am besten wissen, du hast doch zwei. Das ist wie auf Holz klopfen.«

»Ich klopfe nicht auf Holz«, sagt Jonas.

»Klar klopfst du auf Holz«, sage ich.

»Ist doch nicht, dass ich das nicht verstehe, ich will meine Kinder auch beschützen, aber mein Verstand sagt mir doch, dass ich das nicht tue, indem ich monatlich Geld an die Kirche überweise. Ich bitte euch.«

»Ja, aber das ist doch nicht alles!« Andrea sieht jetzt ein bisschen aufgeregt aus, finde ich. »Das sieht doch die Kirche auch nicht so. Die will doch das Kind in eine Gemeinschaft aufnehmen und mit einem Glauben versorgen. Das gibt doch auch Halt.«

Jonas lächelt. »Glaubst du an Gott, Andrea?«

»Ja, nee, weiß ich nicht, nicht an einen alten Mann im Himmel natürlich … aber schon an irgendwas.«

»An was denn genau?« Ich sehe das Zucken in seinen Mundwinkeln. Ich frage mich, ob er sich all seiner Antworten wirklich so sicher ist. Ob er sie manchmal überprüft und überdenkt oder ob er sie einfach nur aus der Schublade zieht und zum Besten gibt. Wahrscheinlich tue ich ihm unrecht.

Er breitet seine Gedanken mit großen Gesten über dem Tisch aus. Ich verstehe, was er sagt, aber die Gedanken, die ich dazu habe, zerfallen in zwei Teile, in ein »einerseits« und ein »andererseits«, dann zerfallen sie weiter und zerfallen in immer kleinere Teile. Ich weiß nicht, wann das passiert ist, dass meine Gedanken sich so von mir abwenden, ich auf ihre Rückseite starre und meine Antworten alle aussehen wie Fragen.

»An … die … an eine Kraft … was Größeres halt«, sagt Andrea. Etwas unwillig. Das höre ich.

»Und glaubst du, diese Kraft nimmt dein Kind über den Tod hinaus uneingeschränkt an.«

»Ja, wenn man es bildlich nimmt, kann ich mir etwas in die Richtung vorstellen. Oder möchte es mir vorstellen. Die Kraft der Gedanken, weißt du. So wie Frank das eben gesagt hat …«

Ihr Blick sucht schon wieder nach Frank, aber der ist mit schaukelnder Grillzange zurück zum Grill gegangen.

» … so ein Ritual macht was mit einem, also mit den Eltern meine ich, man lebt dann auch anders.«

»Man lebt dann anders, Andrea?«

Ich habe Jonas in den Oberschenkel gekniffen, aber er redet trotzdem weiter, als hätte ich das nicht getan.

»Ich sollte Taufpate bei Sven sein«, sagt er angriffslustig und stützt sich mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch ab, »da hätte ich das Versprechen abgeben müssen, dass ich Ella im christlichen Glaube miterziehe. Hab ich abgelehnt.« Er lehnt sich zurück. »Ich müsste es ja nur sagen, hat Sven gesagt. Genau das mach ich eben nicht, verstehst du.«

Ich erinnere mich an das fast zweistündige Telefonat mit Sven. Ich habe Jonas gesagt, dass ich es unmöglich finde, dass er das abgelehnt hat. Gleichzeitig war ich irgendwie stolz auf ihn. Das habe ich oft. Widersprüchliche Gefühle zu etwas. Meistens ist es mein Gefühl, das mit den Erwartungen der anderen kollidiert und dann einen seltsamen, unkenntlichen Klumpen zurücklässt. Ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen. Es fühlt sich an, als würden meine Umrisse verschwimmen, wenn diese Kopfschmerzen kommen.

»Du hast geheiratet«, sage ich. »Ist auch ein Ritual.« Die Worte kommen überraschend und unpassend scharf aus meinem Mund.

»Das ist doch was völlig anderes als eine Taufe, Yv.« Verstehe nicht, warum er jetzt lächelt.

»Finde ich nicht. Wir haben uns ein fast kirchliches Versprechen gegeben, in guten und in schlechten Tagen, bis dass der Tod uns scheidet. Und die Worte ›für immer‹ sind auch einige Male gefallen.«

»Ja und?« Er sieht mich ratlos an. »Was ist damit? Das ist doch ein Versprechen, das wir uns gegeben haben. Und nicht Gott.«

»Ja, aber trotzdem …«, ich fange an zu stottern und weiß auch eigentlich nicht mehr so genau, worauf ich hinauswollte. »Das entspringt ja auch einem Wunsch nach Schutz oder so was Ähnlichem. Bis in alle Ewigkeit … dieses: nur Du! entspringt ja nun auch nicht gerade einem klaren und logischen Gedanken, wenn man sich die Statistiken mal so anschaut.«

»Wir haben nicht in der Kirche geheiratet, außerdem haben wir unsere Eheversprechen selbst geschrieben, das ist was völlig anderes, Yv.« Er soll aufhören, am Ende des Satzes ständig Yv zu sagen. Das gefällt mir nicht. Es ist überheblich.

»Sehe ich anders«, sage ich, »die ganze Idee von der ewigen Liebe, der uneingeschränkten Liebe, einer, die immer gleich bleibt, einer von nichts zu beschädigenden Liebe, die alles gut macht, das ist auch eine sehr … romantische Idee. Und wenn du schon sagst, die Menschen haben sich Gott ausgedacht, dann … also, die romantische Liebe mit all ihren Regeln und Geboten haben sie sich doch auch ausgedacht.«

Meine Worte rennen gegen ihn an, wie Fäuste, die gegen seine Brust trommeln. Ich will ihm Schmerz zufügen, damit er aufhört, so wasserdicht zu sein. Das, was ich eigentlich meine, liegt irgendwo unter diesem Riesenhaufen Wortgerümpel verschüttet, den ich spreche. Ich sage es falsch. Ich finde die Verbindung nicht mehr. Es ist, als hätte ich etwas direkt vor meiner Nase, was ich nicht greifen kann. Es ist die Art, wie er mich ansieht, die Art, wie ich ihn ansehe, ich glaube, es ist unser Blick, der uns nichts mehr sehen lässt. Die Kopfschmerzen vermischen sich mit einer leichten Übelkeit.

»Das ist ja Schwachsinn, was du da redest, Yv, das entspringt doch einem Gefühl, das mit der Liebe.«

»Und? Der Glaube an eine höhere Macht doch auch.« Meine Stimme rutscht etwas zu hoch.

»Häh?« Jonas schüttelt den Kopf.

Inge guckt mich die ganze Zeit an, aber ich tue so, als würde ich es nicht bemerken. Ich habe das Gefühl, als würde mich jemand umarmen und mir dabei langsam die Luft abdrücken.

»Und ihr habt eure Eheversprechen wirklich selbst geschrieben?«, fragt Andrea jetzt und ihre ausladenden Handbewegungen durchbrechen das Gespräch und sind auf die Art überschwänglich, wie Leute es tun, die dem Gespräch eine andere Richtung geben wollen.

»Das finde ich ja so toll.«

»Ja, haben wir«, sagt Jonas. »Wir wollten Raum und Zeit, Liebe und Leid … irgendwie so war das, oder Yv? … egal, das wollten wir alles miteinander teilen, so schön kitschig waren wir.« Er lächelt mir zu. »Und haltet ihr euch denn daran? Teilt ihr alles?« Andrea drängt weiter in diese Richtung.

»Das tun wir, finde ich.« Jonas wirft mir einen kurzen Blick zu.

War das eine Frage? An mich? Ich kann hören, dass Jonas bereit ist, ihr zu folgen und seinen Vortrag zu beenden. Ich nicht.

»Ja«, sage ich, »klar. Wenn ich irgendwann mal am Samstag zeitunglesend im Bett sitze, während Jonas in der Küche Zürcher Geschnetzeltes macht, unterschreibe ich das. Aber ich meinte ja eben nur, dass Heiraten und das An-die-ewige-Liebe-glauben … das sich Binden mit all den Versprechen … also da sind doch Parallelen, oder nicht … auch das mit der Keuschheit übrigens! Oder der … ähm Exklusivität, wie immer man das jetzt nennen will!«

Ich bin ganz beschwingt von dem guten Argument, das mir da gerade eingefallen ist.

»Keuschheit? In unserer Ehe?« Jonas lacht pikiert.

»Ja, ist doch eigentlich ein Keuschheitsgelübde, was ich da abgelegt habe, dass ich mit niemandem schlafe, außer mit dir. Zölibat fast. Als wärest du Gott.«

In meinem Kopf macht das sehr viel Sinn gerade.

»Ja, aber das will man doch so. Man will doch gar keinen anderen«, sagt Inge, während sie eine Serviette faltet, glatt streicht und wieder auseinanderfaltet, glatt streicht, ich beobachte das sehr genau.

»Ach Quatsch, Mama, das ist ja nun auch Blödsinn.«

»Ich finde schon, dass das so ist. Also bei mir ist das so«, sagt Inge. Jonas muss lachen, dann dreht er sich zu mir. »Zölibat also, Yv?«

»Hör mal auf, ständig meinen Namen zu sagen, bitte. Ich sag ja nur, dass du auch nicht gefeit bist vor … dem Ritualzauber. Keiner von uns ist das.«

Er hebt die Hände in die Luft, beschwichtigend wahrscheinlich, als wäre ich aufgebracht. Ich bin doch nicht aufgebracht!

Frank kommt mit dem Fleisch. »Hab ich schon erzählt, dass Andrea und ich vielleicht kirchlich heiraten wollen?«

Andrea grinst nach unten auf ihren Teller. Jonas zuckt mit den Schultern.

»Macht, was ihr wollt.«

»Ja, sowieso«, sagt Frank.

Los, küsst euch, denke ich.

Sie küssen sich.

Na also, geht doch, kommentiere ich das laut in Gedanken und bitte mich danach selbst, endlich still zu sein und nicht so schlecht über Jonas und meine Freunde zu denken.

»Was ist mehr wert, Mama? Ein Mensch oder ein Frosch?« Mika steht vor mir und weint, sein kleines Gesicht ist ganz verzerrt vor Anstrengung, schwarze Schmutzstreifen ziehen sich von den Augen bis runter zum Kinn. Vorsichtig wische ich mit dem Daumen die Tränen unter den Augen weg. Sein Mund ist leicht geöffnet. Apfelsaftatem rieche ich.

»Beides gleich, weißt du doch«, sage ich.

»Wie bitte?« Jochen verschluckt sich fast. »Ein Mensch natürlich!«, sagt er laut und deutlich in Mikas Richtung. Kann er ja nicht wissen, dass ich gerade gestern ein hochphilosophisches Gespräch mit meinen Jungs über Lebewesen hatte, nachdem sie Tausendfüßlern mit einer Nagelschere die Beine abgeschnitten und Ameisen in Cola ertränkt haben.

»Ich meine ja nur, dass sie … man kann den Wert ja nicht wirklich bemessen … Für Menschen ist ein Mensch natürlich mehr wert, Mika, ich würde immer erst einen Menschen retten, bevor ich einen Frosch rette, das ist ja klar. Aber beide sind Lebewesen. Grundsätzlich ist keines mehr oder weniger wert als das andere … vor Gott meine ich … den es so gesehen nicht gibt, also …«

Oh, ich sehe schon, betretenes Schweigen. Was hab ich jetzt wieder gesagt?

Inge legt ihre Hand auf meine (alle sollen aufhören, ihre Hände auf irgendjemanden zu legen, überall diese Beschwichtigungsgesten, ich möchte schreien).

»Ich finde nicht, dass du mit einem Vierjährigen so sprechen solltest. Das ist viel zu komplizi… das ist zu komplex, ja?«

»Ich weiß aber, was Mama meint. Deshalb habe ich John gerettet. Und deshalb eben nicht den Frosch!«, sagt mein Mika und heult dabei weiter. Ich möchte nicht mitmachen bei dem Händezirkus. Ich will nicht beschwichtigend nach unten gedrückt werden.

»Das hat eine Vorgeschichte, Inge«, sage ich. Ich sage das sehr freundlich, um von meiner Hand abzulenken, die ich unter ihrer wegziehe. »Worum geht es überhaupt, Mika?« Jonas hat die einzig richtige Frage gestellt.

»Ja, worum geht’s denn?«, frage ich überflüssigerweise auch noch mal.

»Ich habe einen Frosch ermördert. Aber nur (er schluchzt immer noch) Aber nur … (schluchzen) Aber nur, weil …«

»Warum, Mikki?« … (meine Nerven) … »nur, weil er John angreifen wollte.«

John tippt sich an die Stirn. »Genaaaau. Der Frosch wollte mich doch nicht angreifen. Du wolltest einfach den Stein draufhauen!«

»Er wollte dich beißen«, schreit Mika.

»Blödsinn. Du wolltest ihn töten!«

»Wollt ich nicht.«

»Doch!«

»Gar nicht.«

»Doch!«

(meine Nerven)

»Frösche beißen nicht, Mika«, sage ich.

»Der Frosch hatte Zähne! Ich lüge nicht!«

John lacht sich kaputt. »Du hast mich gefragt, ob du den Stein draufhauen sollst. Hast du oder nicht?«

»Hab ich nicht!«

»Doooch, das hast du! Hast du. Hast du.«

»Jungs, es reicht jetzt. Ist der Frosch wenigstens richtig tot oder quält der sich jetzt irgendwo?«

»Er ist tot, weil Mika ihn erschlagen hat, und jetzt ist Mikas Leben weniger wert als ein Frosch. Weil er ein Mörder ist.« John zuckt kurz mit den Schultern. »Ist so.«

»Hast du ihm das erzählt, John?« Jonas zieht John zu sich rüber. »Ja, das hat er gesagt«, ruft Mika, »dass das Leben vom Frosch jetzt mehr wert ist als meins.«

Jonas flüstert John was ins Ohr. Und ich halte den schluchzenden Mika im Arm, der immer neue Schluchzer aus sich rauspresst, weil sein Leid Inge immer dazu bringt, Süßigkeiten auf den Tisch zu stellen und ihn dann damit zu füttern.

Ich möchte Mika gern sagen, dass ich verstehe, dass er den Frosch getötet hat, dass ich heute einen Maikäfer getötet habe … warum? Weil ich musste. Weil er mich angegriffen hat. Ich möchte ihm sagen, dass wir so was manchmal machen. Dass er für mich immer mehr wert sein wird als ein Frosch, mehr wert als alles, egal, was er tut, dass er einmalig und wertvoll und ein wunderbares Geschöpf ist. Und dass er uneingeschränkt angenommen ist von mir. Egal, was er tut. Amen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, ein wirklich schlechtes Vorbild zu sein. Ich sollte zur Schüssel gehen und sie hochheben, denke ich, ihm den Maikäfer zeigen. Guck, was ich getan habe. Es ist nicht gut. Aber manchmal machen wir so was, damit wir nicht … damit wir … ich sollte mit einem Vierjährigen so nicht reden. Ist schon recht.

John kommt. Er entschuldigt sich bei Mika. Ich lächle ihn an und er verdreht die Augen.

»Aber er hat einen Frosch umgebracht, Mama, er ist trotzdem ein Mörder.«

»Ja, aber das ist nicht strafbar. Es ist nicht schön, aber es ist eben auch … es ist eben nur ein Frosch und kein Mensch. Vielleicht ist die Fantasie mit ihm durchgegangen … er ist erst vier, John.«

»Jetzt ist mal gut damit, ja!« Jonas klingt genervt. »Ich finde, wir haben das jetzt lange genug ausdiskutiert. Niemand ist ein Mörder. Frösche tothauen ist trotzdem scheiße. Und jetzt lasst so was und spielt einfach irgendwas anderes. O.k.?«

»Ja, o.k.«, sagt John.

»O.k.«, sagt Mika.

Klar. So kann man es natürlich auch machen …

Andrea steht vor der Haustür und raucht. Ich bin ihr nachgegangen, weil ich auch rauchen will. Sie gibt mir eine. »Bin wegen der Kinder hier rausgegangen«, sagt sie.

»Danke. Das musst du doch aber nicht.«

Ich rauche fast nie, aber wenn, dann will ich immer fünf nacheinander rauchen, auch nicht ganz normal. Sie gibt mir noch eine, als ich sie danach frage. Nicht ohne mir einen Seitenblick zuzuwerfen. »Freust du dich auf die Hochzeit?«, frage ich schnell.

Sie nickt. »Ja klar.«

Wir stehen beide ein bisschen still und abwartend nebeneinander in der Sonne.

Ich schiebe kleine Steinchen mit meiner Schuhspitze hin und her.

»Ich bin aber auch aufgeregt.« Sie tritt die Zigarette mit dem Fuß aus und nimmt sie dann hoch. »Das ist ja schon so ’ne Sache, wenn man sagt, das ist jetzt für immer, oder? Wenn man das so beschließt. Also, das Gefühl, das man dann kriegt, habe ich unterschätzt.« Sie lacht kurz leise. »Aber das ist ja gut. Ich finde es genau richtig so.«

Klar.

Wieder Leuchtschriftsätze, synchronisierte Gedanken in meinem Kopf. Es ist fürchterlich, ich kann nicht mehr reden. Das, was ich sagen möchte, versuchen möchte zu sagen, passt nicht in die Sätze, ist wie eine zu dicke, zu große Frau, für die es keine passenden Kleider gibt.

»Das ist doch toll«, sage ich dann einfach und denke an den Galeristen.

Und dann an die hysterische Eva auf dem Bild.

Andrea setzt sich auf die Stufen, ich setze mich neben sie.

»Wie war eigentlich eure Hochzeit?«

»Schön«, sage ich. Sie war wirklich schön.

»Ich war mit John schwanger und wir hatten gerade die neue Wohnung gemietet, da war noch nichts drin und Jonas hatte die Idee Bänke in die leeren Räume zu stellen und da zu heiraten.«

»Das klingt toll.«

»Ja, das war’s auch. Seltsamerweise hatte der leere Raum mit den Bänken was Kirchliches.«

»Hat Jonas eigentlich was gegen die Kirche?«, fragt sie mich.

»Nicht wirklich, oder doch, wahrscheinlich schon irgendwie. Wegen vorhin? Ich glaube … ach, es geht mehr um die Beliebigkeit, glaube ich, dass Menschen, die eigentlich nicht glauben, dann trotzdem solche Rituale mitmachen. Das findet er unreflektiert und widersprüchlich und ich glaube, das passt ihm nicht. Außerdem redet er auch einfach gern.«

»Ich mach so was immer nur aus dem Gefühl«, sagt Andrea und zündet sich ihre zweite Zigarette an. Ich frage sie nach einer dritten. Das ist mir zwar ein bisschen peinlich, aber nicht so sehr, dass ich nicht fragen würde.

»Ist wahrscheinlich auch richtig so. Das, was man fühlt, hält ja meistens sowieso keiner ernsthaften Diskussion stand. Man macht es eben einfach so, wie man es fühlt.«

»Mmh.« Andrea nickt und bläst Rauch aus der Nase wie ein Drache.

»Das ist es doch, worum es geht«, sagt sie.

Ich frage sie nicht, was sie damit meint.

Ich frage mich allerdings doch, worum es geht. Worum geht’s eigentlich? Ich denke darüber nach, während ich die dritte Zigarette zu Ende rauche.

Die Luft ist warm und es ist die Art, wie Andreas Arm auf ihrem Bein liegt und die Zigarette hält und dabei schön aussieht und wie mir die Sonne ins Gesicht scheint und ich hinter mir, im Haus, im Garten dahinter, Menschen weiß, die ich liebe, die mich lieben, die Jungs mit ihren verschwitzten Haaren, die sich wahrscheinlich gerade wieder streiten und für die ich alles tun würde, immer wieder, dass Freunde hier sind und wir trinken und auf Gartentreppen sitzen und rauchen, dass wir wissen, zu wem wir gehören, wissen, was wir zu sagen haben, was wir zu denken haben, alles immer schon wissen … Das ist gut, ist etwas Kostbares, das weiß ich, und gleichzeitig ist es, als wäre unter all diesen Gewissheiten etwas in mir erloschen. Es brennt nicht mehr. Und genau da hat sich die Müdigkeit ausgebreitet. Meine Gefühle drehen sich wie Münzen, auf ihrem schmalen Rand, immer wieder um die eigene Achse. Kopf, Zahl, Kopf, Zahl, Vorderseite, Rückseite, rasend unbeweglich. Ich bin so erschöpft davon.

2015 im Flur, 2016 auf der Gartentreppe, und meine Gedanken kann ich von hier aus durch mein ganzes Leben bis ins Jahr 2055 schicken, ohne dass sie auf nennenswerte Widerstände oder große Über raschungen treffen. Die Zeit ist einfach durch mich hindurchgerauscht und das wird sie auch weiterhin tun. Und das immer schneller. Bis sie eines Tages so schnell sein wird, dass es sich nicht mal mehr lohnt den Kalender abzunehmen. Der Fluss geht gerade durch und von hier kann ich die Fahrrinne sehen, in der wir weiterschippern werden, bis zum Ende vermutlich. Ich komme mit diesem Gedanken nirgendwo an. Außer dass ich mich undankbar fühle. Und alt.

»Es geht immer um die Liebe«, sagt Andrea plötzlich. Als wäre sie mir noch die Erklärung von vorhin schuldig geblieben.

Ich nicke und wir drücken die Zigaretten aus. Wahrscheinlich ist das so. Aber das sind immer so Sätze … mittlerweile bin ich bei Jonas und mir auf fünf verschiedene Stadien von Liebe gekommen. Wenn es für jedes davon ein eigenes Wort gäbe, denke ich, wäre es leichter, davon zu erzählen. Es dürfte existieren, denn dann gäbe es ja eine Bezeichnung dafür.

Wäre das nicht irgendwie hilfreich?

Wir wickeln die Kippen in Taschentücher und werfen sie in die Mülltonne.

Als wir durch den Flur gehen, legt Andrea den Arm um mich und fragt, ob ich mir vorstellen könnte, ihre Trauzeugin zu werden, sie sagt das, während sie mich an sich zieht und sagt, sie hätte gerade darüber nachgedacht und ich wäre für sie so was wie ein Glücksbringer.

Verstehe ich nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich die Richtige dafür bin. Aber klar.

Na klar. »Ja«, sag ich.

Im Garten ist ein Riesendurcheinander, als wir zurückkommen, und Mika heult schon wieder. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und heult mit weit aufgerissenem Mund wie ein verrückter Hund. Neuerdings steigert er sich immer so rein.

»Was ist denn hier los?«

»Ach, Mensch«, Inge sieht mich ganz verzweifelt an, »ich hab es Jonas doch gesagt mit dem Becher. Jetzt hat Mika den Weißwein getrunken.«

»Viel?«, frage ich.

»Ach Quatsch«, sagt Jonas, »nur so ein minibisschen, Herrgott, das tut doch nichts.«

»Ja, aber du kannst auch einfach dein eigenes Glas benutzen, deine Mutter hat dir ja eins direkt vor die Nase gestellt.« Sein Blick. Meiner weicht aus.

John fragt, ob Mika jetzt betrunken ist.

»Nein, doch nicht von dem kleinen Schluck«, sage ich und nehme Mikas Gesicht in beide Hände. Er heult mir ins Gesicht. »Mika, Schatz, war das so schlimm?«

»Nein, aber Oma hat geschimpft!«

»Ich hab aber doch mit Jonas geschimpft«, ruft Inge ganz aufgeregt. »Oooahh, ist ja gut jetzt, du Heulsuse«, ruft John dazwischen, »das nervt.«

Ich wiege Mika hin und her und erzähle ihm, dass er jetzt mit dem Heulen aufhören kann, weil nämlich gar nichts los ist.

»Wir fahren, glaube ich, gleich mal los«, sage ich dann in die Runde, aber irgendwie mehr vor mich hin. »Ich muss noch für Dänemark packen.«

Auf dem Weg raus höre ich Inge. »Iiih, was ist das denn? Das arme Ding.«

Sie hat den Käfer entdeckt. Ich weiß es.

Entschuldige, Inge, denke ich, hab nur versucht, einen Gedanken loszuwerden. Du siehst, ich habe mir wirklich Mühe gegeben, weil ich deinen Sohn liebe. Leider ist es gründlich in die Grütze gegangen. Ist einfach passiert. Was man so macht aus Liebe. Und Wut. Aber das weißt du sicher alles.

Die Hitze des Tages hat sich im Auto gestaut. Wir machen die Fenster runter. Alle.

Die Haare wehen uns um die Köpfe und Jonas dreht das Radio auf. Verdammt, ich hab die Schüsseln vergessen.

Die Taschen sind gepackt, Jonas und ich haben noch ein Glas Rotwein getrunken und jetzt liegen wir im Bett. Er liest.

Ich lasse den Kopf zur Seite sinken und schaue aus dem Fenster. Es ist dunkel, da ist nichts mehr zu sehen. Ich liebe meine Jungs. Alle drei. Das ist nicht die Frage. Die Frage ist … ob das alles ist. Wollen wir das so? Bin ich so? So vorhersehbar? Tage abreißen wie Kalenderblätter … Meine Gedanken eiern weiter durch die Fahrrinne, versuchen, in der Bahn zu bleiben, in der sie sich bewegen dürfen, schaue ihnen dabei zu, gleite auf den Schlaf zu …

Vorhin ist etwas Fremdes durch meinen Körper geschlichen. Als ich das Tischtuch in die Luft geworfen habe, war es kurz da, als es in der Luft stehen blieb und alles weiß war. Die Müdigkeit war plötzlich weg. Mein Rücken war gerade und es war etwas Aufregendes an der Art, wie ich mit der Hand über die Tischdecke gestrichen habe. Ich war eine Andere, eine, die den Galeristen hätte küssen können. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe versucht, es mit Gewalt zu zerquetschen.

… es darf nicht alles sein …

Gedanken in meinem Kopf, die mir klar und deutlich zu verstehen geben, dass mir diese Gedanken nicht zustehen. Undankbare Gedanken. Dass ich etwas falsch mache, wenn ich so denke. Dass wir morgen nach Dänemark fahren und ich jetzt schlafen sollte.

Wir sind eine Familie, denke ich, ein ziemlich perfektes Paar. Wir funktionieren doch ganz prächtig. Wie eine Maschine. Warum kann ich das nicht gut finden?

Ich scheine kaputt zu sein … etwas, das mich zusammengehalten hat, ist weggebrochen. Ich spüre, wie mein Bewusstsein dem Schlaf entgegengleitet, denke noch, dass es sich anfühlt, als würde sich mein Körper darin auflösen. Er gleitet mir davon. In ein dunkles Wasser.

Don Giovanni steht auf einer Bühne, ich habe ihn im Theater gesehen, ich erinnere mich daran. »Ihr seid alle so einsam. So einsam! Einsam seid ihr! Jetzt tanzt! Tanzt doch mal!«, brüllt er. Ich stehe im Zuschauerraum. Wasser umspült meine Füße, ich weiß, dass ich träume.

»Ich bin es doch nicht! Ich zerstöre doch nichts! Ich bin doch nur eine Fläche!« (Unablässig streicht er sich über die Brust.) »Das hier ist die Fläche! Das ist die Fläche!«

Wieder über die Brust, immer wieder, seine Hand auf seiner Brust, wie meine auf dem Tischtuch, fremd und doch fühle ich sie … gleite in seinen Körper hinein, spüre seine Hand über seine Brust reiben, gleichzeitig ist es meine, stehe dabei immer noch im Zuschauerraum, sehe ihn, während mein ganzes Fühlen in seinem Körper steckt, in seiner Brust, verschmolzen auf eine unbegreifliche Weise. Ich spüre meinen Körper nicht mehr, nur die Wärme und meinen Atem, dort, wo seine Hand auf meiner Brust liegt. Meine Brust atmet gegen seine Hand.

»Schmückt euch und tanzt«, ruft er.

Überall fließt Wasser. Ich stehe schon fast bis zu den Knien im Wasser, spüre die Strömung, überall hier unten stehen Möbel, Stühle und Tische, Küchenschränke, Schüsseln, vor meinen Füßen im Wasser schwimmen Bilder, so viele Bilder, alle gerahmt, auf dem Boden unter Wasser liegt Besteck.

Hab mein rosa Kleid bis über die Knie hochgezogen und starre ihn an, von hier unten zu ihm hoch und sehe mich dabei selbst hier unten stehen, während ich noch immer meine Brust gegen seine Hand presse und mich nirgendwo mehr befinde, nur dort, wo wir aufeinandertreffen, im Dazwischen von Hand und Brust. Da ist alles.

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9783956142468
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