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ABB-Werbung 199679

Die den adaptiven dromokratischen Arbeitsprozessen zugrundeliegende Infrastruktur bildet die materialisierte Basis eines ökonomischen Grundprinzips: Geschwindigkeit ist ein wesentlicher Entwicklungsmotor und stellt mehr denn je einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil dar: »Wenn man die Eigenschaften eines erfolgreichen Unternehmens betrachtet, wird man feststellen, dass Geschwindigkeit eine davon ist«78, lässt beispielsweise ein Wirtschaftsratgeber aus dem Jahr 2013 verlauten. In der unternehmerischen Selbstdarstellung wurde diese dromokratische Entwicklung schon vor mehr als zwanzig Jahren angekündigt. Der Industriekonzern ABB versichert beispielsweise 1996 in einer Werbung, wie Geschwindigkeit zur zentralen Komponente der Wirtschaft als auch des individuellen Handelns geworden ist:

Geschwindigkeit wird wichtiger als Perfektion und daher zum eigentlichen Qualitätsmerkmal einer neuen kreativen Entwicklung. Die Forderung, schneller zu denken, scheint seit dem Erscheinen der Werbung verinnerlicht, erübrigt sich heute doch die am Ende gestellte rhetorische Frage, wenn wir uns mit unseren Gadgets und Arbeitsgeräten fast immer im rasenden Tempo der mobilen Datenübertragung bewegen und Geschwindigkeit sowohl in der Logistik als auch in der Produktion zum wichtigsten Faktor geworden ist. Für das Leben in Lichtgeschwindigkeit muss der Mensch allerdings noch flexibler verfügbar sein als zuvor. Die Abwesenheitsnotiz als technische Errungenschaft des postfordistischen E-Mail-Verkehrs verliert in der Dromokratie endgültig ihre Gültigkeit. Sie ist nur noch leere Notifikation, dass das Gegenüber die E-Mail doch möglichst bald lesen und zur Verfügung stehen wird.

Das System einer erweiterten Flexibilisierung und deren digitale Grundlagen wurden in den letzten Jahren mehrfach als Plattformkapitalismus oder als kybernetischer Kapitalismus charakterisiert.80 Die Begriffe sind nicht deckungsgleich, stimmen allerdings in der beobachteten Veränderung der Funktionsweise der Arbeitskraft überein: Diese wird mehr und mehr zum rationalisierbaren und zugleich seelenlosen Datenpaket. Wer seine Arbeitskraft online über Plattformdienste zur Verfügung stellt, verkauft sie in derart kurzen Zeitpaketen, dass der Mensch hinter den Angeboten unsichtbar wird.81 Als reiner Zeitwert bewegt sich der dromokratische Mensch lethargisch entlang der neu geschaffenen Hubs, Arbeitsstädte und Vergnügungszentren. Die ökonomische Grundlage dieses Zustands basiert auf einer weitgehenden Zweiteilung der Welt. Damit sich das Heer frei arbeitender IngenieurInnen, GrafikerInnen und SoftwareentwicklerInnen in den urbanen Zentren überhaupt mehr schlecht als recht von Job zu Job schwingen und mit Feedbackschlaufen optimiert werden kann, braucht es günstige Reproduktionskosten. Diese entstehen daher, dass massenhaft proletarisierte Menschen mit billigen Lohnkosten in ärmeren Regionen (aber nicht nur dort) günstig Massenwaren herstellen. Die Ordnung dieser peripheren Produktionsstätten entspricht weniger postfordistischen oder dromokratischen Raumordnungen denn konzentrierten, schweren fordistischen Fabrikhallen, wenn auch angereichert durch neueste Kontrollmöglichkeiten. Das heißt nicht, dass sich die veränderte Produktionsordnung nicht überall auswirkt. Als sich der globale Markt auf die späte postfordistische Phase und intensivierte Just-in-Time-Produktion einzustellen hatte, musste sich auch die globale Produktionskette daran anpassen. Studien zeigen beispielsweise, wie Walmarts Expansion und die Veränderung seiner Produktionsabläufe zu einer Flexibilisierung an den Produktionsstandorten in China führten.82 Weil man in den USA rascher auf Veränderungen und Nachfragen reagieren wollte, mussten sich auch die chinesischen Produzenten anpassen. Zur Folge hatte dies gleichzeitig vermehrt unbezahlte Arbeit und Kurzarbeit als auch zwischenzeitlich intensivierte Phasen mit Überstunden, da sich die Produktionsmenge immer wieder kurzfristig ändern konnte.

Die Globalisierung der Dromokratie und ihre Ungleichheit führen zu unterschiedlichem Zeitempfinden – je nach der Funktion, die Menschen im globalen Produktionsprozess einnehmen. In einer Studie von Shehzad Nadeem über die Auswirkungen temporaler Veränderungen in Indien aus dem Jahr 2009 lassen sich beispielsweise zwei Erfahrungen ausmachen.83 Höhergestellte IT-Angestellte müssen sich in ihrer Arbeit an einem internationalen Zeitraum orientieren. Ihre erlebte Zeit erfährt eine Ausdehnung, da sie komplexe Arbeitsschritte in einem globalisierten Arbeitsumfeld mit global geltenden Deadlines zu vollenden haben. Konkret bedeutet dies Überstunden und eine Erweiterung des lokalen Lebensrhythmus durch eine Synchronisation mit einem globalen Produktionsrhythmus. Implementiert wird dies als Rationalisierung einer Bereitschaft, 24 Stunden für das Unternehmen verfügbar zu sein – das heißt beispielsweise, Anfragen auch zu beantworten, wenn man nicht offiziell am Arbeiten ist. Tiefergestellte Angestellte, etwa outgesourcte Call-Center-ArbeiterInnen, haben stärker mit einem von der Lean Production bekannten Zeitdruck zu kämpfen. In gegebener Zeit haben sie möglichst viele Anrufe abzuwickeln – Quoten und/oder Belohnungen erhöhen den Druck zur entsprechenden Leistung. Ihre Arbeit wird bezüglich der Zeitoptimierung viel stärker im Sinne klassischer Zeitdisziplinierungsmechanismen überwacht, zum Beispiel indem Pausen streng reguliert und Verzögerungen und kleinste Phasen nicht genutzter Zeit harsch sanktioniert werden. Beide proletarischen Schichten teilen allerdings die Erfahrung, dass die Expansion globaler Produktionsverhältnisse und ihr Zeitsystem in verlängerter Arbeit, einem höheren Pace und in einer zeitlichen Verrückung mündet, die sich in Gesundheitsproblemen und Entfremdung von FreundInnen und Familie manifestiert.84 Die Erfahrung indischer ArbeiterInnen trifft sich mit Beobachtungen hierzulande. Während sozial höher gewertete Arbeiten, beispielsweise Managementpositionen, sich einer globalen Zeit unterwerfen und eine Flexibilisierung ihres Arbeitstages erleben, beispielsweise durch ständige Verfügbarkeit und andauerndes Home Office, das sich über die reguläre Arbeitszeit hinauszieht, erleben tiefere Positionen eine verstärkte Disziplinierung. Pflegeberufe zum Beispiel müssen mehr und mehr zeitlich exakt arbeiten, um die Sparvorgaben zu erreichen. Mechanismen wie Fallpauschalen operationalisieren die medizinische Betreuung und unterwerfen sie einer stärkeren zeitlichen Disziplinierung.

WIDERSTAND

Keine Epoche vergeht ohne ihre eigenen Widerstandsformen. Im Fordismus zeigen sich diese vor allem im Kampf gegen die Rationalisierung der Zeit. So finden sich noch letzte Widerstandszellen gegen die leere Zeit selbst. Man begibt sich beispielsweise in die bewusste zeitliche Isolation und wählt Formen der Vagabondage als selbstbestimmte andere Lebens- und Zeitformen. Am ersten internationalen Vagabundenkongress nehmen 1929 gut 500 Menschen teil und rufen in der Tradition des Rechts auf Faulheit zum ›Generalstreik das Leben lang‹ auf.85 In der Regel hat man sich aber mit der leeren Zeit abgefunden und kämpft nunmehr gegen deren zeitökonomische Rationalisierung. Der Wunsch, dem mit »Stoppuhr und Rechenschieber« ausgerüsteten »Kalkulator«, dem »Mann, der die Zeit beherrscht«86, mit dem Hammer den Schädel einzuschlagen, wie es in einer 1930 veröffentlichten Reportage heißt, zeugt beispielhaft vom aufgeladenen Kampf um die temporale Deutungshoheit, der sowohl in Form von Arbeitskämpfen als auch in Form von intellektuellen und kulturellen Kritiken ausgetragen wird.

Zum zentralen fordistischen Kampffeld wird die Deutungshoheit über den Normarbeitstag. Die Weimarer Republik wird gar entlang der Auseinandersetzung um den Achtstundentag und damit entlang der Frage um die angemessene Skandierung des Arbeitstags gegründet. Im schon zuvor schwelenden Konflikt um eine Grundforderung progressiver Kräfte – acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit – mussten die Herrschenden angesichts neuer Kräfteverhältnisse Zugeständnisse machen. Infolge der Arbeiter- und Soldatenaufstände wurde am 15. November 1918 der Achtstundentag beziehungsweise die daraus resultierende 48-Stunden-Woche eingeführt – ein maßgeblicher Erfolg, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Arbeitszeit 1913 noch bei 56 Stunden lag.87 Aufgrund der Verringerung gewerkschaftlicher und progressiver Macht wurde dieser Erlass jedoch im Laufe der Jahre stetig ausgehöhlt und die Arbeitszeiten wurden teilweise wieder erhöht.88 Dennoch blieb die Auseinandersetzung um den Normarbeitstag eines der wichtigsten gewerkschaftlichen Kampffelder der Weimarer Republik. Gemäß einer Rechnung von Ursula Büttner wurde beispielsweise 1924 ein Großteil der Streiks in der Weimarer Republik zur Abwehr von Arbeitszeitverlängerungen geführt.89

Im postfordistischen Deutschland wird Ende der 1970er und Anfangs der 1980er Jahre der Kampf um verkürzte Arbeitszeiten wieder aufgenommen. Die Arbeitskämpfe um die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Druckindustrie zeugen hiervon. Allerdings sind diese Kämpfe weniger Ausdruck einer neuen Stärke der Gewerkschaften, sondern der Versuch eines Auswegs aus der Defensive im Umgang mit der neuen Rationalisierungswelle und im Kampf gegen Entlassungen am Ende der fordistischen Phase. Seit Ende der 1990er Jahre verliert die Debatte um die zu leistende Arbeitszeit und den Normarbeitstag für einen längeren Zeitraum an gesellschaftspolitischer Relevanz. Mit der Diskussion um die Digitalisierung nimmt der Konflikt um die zu leistende Arbeitszeit in den letzten Jahren allerdings wieder an Fahrt auf.90 Dieser Konflikt steht am Beginn einer politischen Auseinandersetzung, ob die Gesellschaft die rechtliche Basis für die dromokratische Auflösung fester Strukturen legt oder ob das Gesetz weiterhin verhindert, dass der Mensch zu jeder Zeit, an jedem Ort, so lange, wie ein Unternehmen es eben fordert, zur Arbeit gezwungen werden kann. Dass die Ausdehnung der Arbeitszeit mit dem Argument der Flexibilisierung aufgrund neuer Digitalisierung und veränderter gesellschaftlicher Bedingungen keine leere Drohung ist, zeigt der Blick auf die neueste Unternehmerkultur. Alibaba-CEO Jack Ma ließ mehrfach verlauten, er halte die 72-Stunden-Woche für angemessen. Mit der Aussage, dass mit 40 Stunden Arbeitszeit pro Woche noch nie jemand die Welt verändert habe, pflichtet dieser Idee auch Mas Seelenverwandter Elon Musk bei. Allerdings herrscht darüber keine Einheit unter den Besitzenden. Genauso finden sich jene Stimmen, die aufgrund der vergangenen Krisenerfahrungen positive Erfahrungen mit verkürzter Arbeitszeit gemacht haben, insbesondere dort, wo man möglichst große Flexibilität predigt.

Abseits des Arbeitsmarktes entsteht im Postfordismus ein reichhaltiges Angebot subkultureller Ergänzungsleistungen beziehungsweise Fluchtmöglichkeiten. Es ist die Popkultur, die es schafft, die neueste Geschwindigkeit einzufangen und wiederzugeben, während die Hochkultur viel zu langsam reagiert, um die Beschleunigung kulturell erfassen zu können.91 Popkultur wird gleichzeitig zum Widerstandsmoment wie zum affirmativen Träger der Beschleunigung, und dies auch in ihren Räumen. Die expandierende Kneipenkultur beispielsweise trägt mit ihrem Versprechen, immer länger aufzubleiben, zugleich dem Fortschrittspfeil und seinem Versprechen eines ›immer weiter‹ Rechnung92, wie sich darin ebenso eine Gegenkultur konstituiert. Die Klubkultur, After Hours und 48-Stunden-Raves führen dieses Prinzip fort, ohne dass die Teilhabe daran ohne wach haltende Substanzen möglich wäre. Mit den 140 bpm des Technos lässt sich Geschwindigkeit genießen und zugleich von der Gesellschaft abkehren. Die 200 bpm des Gabbers steigern diesen Zustand an die Grenze der Belastbarkeit; wenn auch dies das Tempo der beschleunigten Gesellschaft perfekt wiedergibt, kann sich dieser Sound nie gänzlich durchsetzen – selbst dann nicht, als Diplo es nach 2010 mit einem kurzen Revival versucht. Die globalisierte Entgrenzung der Subkulturen löst zugleich ihr regionales Widerstandsprinzip auf. Subkulturen oszillierten zwar immer schon zwischen Widerstand und Anpassung, bewegten sich jedoch zunehmend auf letzterer Seite. TV als erstmals global erlebte gemeinsame Erfahrung ist Ausdruck wie Reproduktionsinstrument hiervon – Instagram erscheint als dessen Radikalisierung. Ein bestimmter modischer oder klanglicher Ausdruck wird immer weniger als Widerspruch gegen eine geltende Norm, sondern als reine Ästhetisierung eines Lebensstils gelesen, der, einmal ausgestrahlt oder ins Internet gestellt, überall auf der Welt imitiert werden kann.

Der Widerstand gegen die Dromokratie beschränkt sich bisher meist auf theoretische Hinweise, wie verletzlich eine immer vernetztere Gesellschaft in ihrer Infrastruktur ist. Zentrale Serverräume stehen in den Metropolen nahe unseren Handlungsräumen, und dies meist nicht einmal besonders gut bewacht. Während vor allem insurrektionalistische Kreise in den letzten Jahren die Möglichkeit entdeckten, die Bahn-Infrastruktur mit einfachen Kabelbränden lahmzulegen, blieben Angriffe auf andere zentrale Orte zeitgenössischer Waren-, Menschen- und Informationsverbindungen bisher weitgehend aus – wenn es auch mittlerweile in einigen deutschen Städten zu Brandangriffen auf Glasfaserkabel und Funkmasten gekommen ist.93 Dass die Praxis der Theorie hinterherhinkt, hat wesentlich mit einem fehlenden Moment der Politisierung von Geschwindigkeit zu tun. Solange der Drang und die Infrastruktur eines Immer-Schneller nicht als Bestandteil kapitalistischer Gesellschaftsordnungen verstanden werden, hält sich die positive Resonanz auf den berechtigten Wunsch nach Sabotage-Momenten (als nur eine von mehreren Widerstandsformen) gegen das dromokratische Regime in Grenzen oder wird aufgrund fehlender Vermittlungsleistung vielmehr kritisiert. An anderen Stellen beschränkt sich der Widerstand auf technologiefeindliche, intuitive, mitunter reaktionäre Bewegungen, beispielsweise der esoterische Kampf gegen 5G.

IDEOLOGIE UND DROMOKRATISCHE VERSPRECHEN

Technische Errungenschaften der Geschwindigkeit wurden immer durch ein kulturelles Angebot flankiert.94 Der fordistische Geschwindigkeitsrausch ging mit einer futuristischen Liebeserklärung an die »Schönheit der Geschwindigkeit«95 einher, von der auch die Linke nicht befreit war – von der sowjetischen Liebe zum fordistischen Rationalisierungswahn ganz zu schweigen.96 Die Architektur zog den Sog des Tempos ebenfalls auf. »Die Stadt der Geschwindigkeit ist die Stadt des Erfolges«97, ließ Le Corbusier einst verlauten. Auch das Transportwesen kennt die kulturelle Inszenierung der Höchstgeschwindigkeit. Mit dem Aufkommen des Zuges enstand ein globaler Wettbewerb um die schnellste Geschwindigkeit und die kürzesten Fahrtzeiten. Rasante Verfolgungsjagden prägten den Inhalt des frühen Kinos. Der massenhafte Absatz von Fords Autos ging einher mit Werbeprodukten, Sportanlässen und RennfahrerInnen. Die Etablierung von Flugzeugen lebte von einsamen, heldenhaften PilotInnen, die neue Langstreckenrekorde erzielten. Ganz ähnlich wird die Durchsetzung dromokratischer Standards durch gamifizierte Großanlässe wie E-Sport-Events, Formel-E- oder Drohnenrennen ergänzt.

Die Ästhetisierung und kulturelle Integration von Geschwindigkeit ist zugleich Bestandteil von umfassenden Legitimationsmustern, die als dromokratische Versprechen verstanden werden können. Diese nehmen Geschwindigkeitsmuster ihrer Zeit auf, verkaufen sie in ihren positiven Aspekten und legitimieren damit gleichzeitig den weiteren Geschwindigkeitsausbau. Zu den leitenden Versprechen des Fordismus gehört, dass Geschwindigkeit nicht mehr nur den Herrschenden zugänglich ist, sondern dass man das neue Lebensgefühl auch privat konsumieren kann. Geschwindigkeit wird über den Konsum erstmals demokratisiert, wenn auch darin zugleich neue Unterschiede eingebaut werden. Das herausragende Symbol hiervon ist das Auto. Dieses bevölkert die Straßen als Fortbewegungsmittel und sorgt für den weiteren Ausbau des Straßennetzes. Zugleich dient es der persönlichen Befriedigung von Geschwindigkeitsgelüsten. Aldous Huxleys Bemerkung, dass die Geschwindigkeit das einzige genuin moderne Vergnügen sei, bringt die Integration der Geschwindigkeit als kommodifiziertes Ereignis der Moderne auf den Punkt.98 Die faschistische Auto- und Autobahnbegeisterung und die Anzahl der Toten auf den Straßen sind die zu Ende gebrachten Kehrseiten hiervon.

Autos enthalten ein doppeltes Mobilitätsversprechen. Einerseits versprechen sie, in verkürzter Zeit an neue Orte zu gelangen. Sie gewähren räumliche Mobilität. Andererseits symbolisieren sie als Konsumobjekt, dass man die Teilhabe an den gesellschaftlichen Genüssen erwerben kann (arbeitet und spart man genügend lange). Autos versprechen dadurch ebenso soziale Mobilität – mit dem bis heute geltenden Distinktionsmerkmal, dass, wer mehr Geld zur Verfügung hat, sich mehr PS und Geschwindigkeit leisten kann, und sei dies auch nur symbolisch. Beide Versprechen sind gebunden an den Besitz. So ist das Auto trotz öffentlicher Infrastruktur ein äußerst individuelles Objekt. Zwar gibt es mittlerweile funktionierende Sharing-Dienst-Anbieter, allerdings haben auch Millionen-Ausgaben, Bonifikationen, spezielle Verkehrsführungen oder Bildungsangebote nichts daran geändert, dass der Mensch sein Fahrzeug am liebsten alleine nutzt. Er teilt es vielleicht mit Familie oder engen Freunden, will es aber nicht als kollektiv nutzbares Transportmittel zur Verfügung stellen. Daher besitzen die weltweit knapp 1,3 Milliarden Autos eine weitaus höhere Transportkapazität, als sie tatsächlich Menschen transportieren. Autos verbringen den Großteil der Zeit damit, dass sie nichts tun. Sie stehen vor Ort und warten darauf, dass sie wieder jemand für eine Stunde benutzt. Anders formuliert, existieren Autos nicht, um Menschen zu transportieren, sondern um den ihnen zugeschriebenen Fähigkeiten zu entsprechen, will heißen: Geschwindigkeit zu erleben und auszubauen. Das Auto wirkt als »eine sich selbst antreibende Mobilitätsmaschine, die sich ihre Zwecke selbst schafft«99, wie Weert Canzler es beschreibt. Damit ist das Auto nicht nur als fordistisches Konsumobjekt zentral, es ist zugleich Prototyp aller kommenden kommodifizierten Mobilitätsmaschinen.

Radikalisiert wird die fordistische Autobegeisterung im deutschen Faschismus. Hier wird die Straße zum »Wunder der Neubeseelung der deutschen Stadt«100, wie es 1935 in einer faschistischen Publikation heißt. Grundbedingung hierfür ist ein Gefühl des selbstbestimmten Handelns, das dem Autofahrer in seiner Steuerungsfunktion zu eigen wird. Im Gegensatz zum/zur LokomotivführerIn glaubt der/die AutofahrerIn, sich auf freien Bahnen zu bewegen. Als Vergleich tritt der/die PilotIn in Erscheinung, der/die vermeintlich vergleichbar frei in den Lüften schwebt.101 »Der Kraftwagen gehört seinem ganzen Wesen nach mehr zum Flugzeug als zur Eisenbahn«102, erwähnte Hitler persönlich anlässlich der Automobilausstellung von 1933. Als »schwereloses Schweben, ganz ähnlich wie beim Fliegen«103 beschreibt 1936 der deutsche Schriftsteller Heinrich Hauser eine Autofahrt auf der Reichsautobahn. Andere Vertreter des tempobegeisterten faschistischen Deutschlands erleben die Autobahnen als »weisses Band«104, ganz im Sinne des Fließbands. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Ideologie der Mobilmachung des Volkes. Die Autobahn, so zeigt Erhard Schütz in mehreren Forschungsbeiträgen dazu auf, kann im deutschen Faschismus weder ökonomisch noch militärisch nutzbar gemacht werden, sie ist vor allem ideologischer Ausdruck eines Volks in Bewegung.105 Sie wirkt in ihrem architektonischen Ensemble wie eine »gebaute Reklame, eine Art völkischer [sic] Disneyworld«106, die die Bewegung wie auch die fordistische Naturbeherrschung inszeniert. Eklatant sichtbar wird dies in der Person von Fritz Todt, Bauingenieur und Leiter der Reichsautobahn. Dieser versteht die neuen Straßen als Versuch, »die Enge des Raumes zu überwinden«, »wenigstens zur Erholung«, wie er als Ergänzung schreibt.107 Sowohl die Bewegungsbegeisterung als auch der Drang nach Erholung sind hier als harmonische Synthese Ergebnis einer rationalisierten Steigerung der Arbeitsintensität, wie sie von Todt selbst beschrieben wird: »Die Verpflichtung, die Leistung auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit zu steigern, ist der Sinn unserer Zeit.«108 Wie nahe sich fordistisches Fließband, Auto und Autobahn tatsächlich sind, wird drastisch sichtbar. Der deutsche Architekt und Hochschulprofessor Friedrich Tamms drückt später offen die Konsequenz einer solchen Weltanschauung aus: Die Autobahn erscheint ihm als »Ausdruck für eine höhere Ordnung, unter die sich alles eingliedert, was lebensfähig und lebensberechtigt ist«109. Wo die Rede einer Lebensfähigkeit und Lebensberechtigung historisch endet, ist ausreichend bekannt. Freilich führt die Transport- und Autobegeisterung der Zwischenkriegszeit nicht automatisch in den Faschismus und seine Vernichtungslager. Sie ist an dieser Stelle allerdings in ihrer Radikalisierung zu betonen, da die dromokratische Fahrbegeisterung mitunter ganz anders vollzogen wird und dennoch einen totalitären Kern in sich trägt.

Der Postfordismus ist das Zeitalter des Neoliberalismus. Das Credo, dass sich Leistung wieder lohnen soll, macht aus Menschen leistungswilligere und verwertbarere Subjekte. Stärker als zuvor suggeriert der Massenkonsum, dass man sich als Ware feilgebotene Geschwindigkeitsmomente individuell aneignen kann. In seiner Endphase sind es vor allem die Netzwerke und die Digitalisierung, die das neoliberale Leistungs-Versprechen aufnehmen und mit der Geschwindigkeit der Datenübertragung verknüpfen. Thomas Friedmans Ausspruch, dass die Erde flach sei, weil sie sich in eine Art globales digitales Netzwerk verwandelt habe, das neue Innovation durch Kollaboration ermögliche, ist exemplarischer Ausdruck hiervon.110 Individuen sind zugleich Opfer wie ProfiteurInnen dieser Situation. Ausgerüstet und global vernetzt muss man zwar, so Friedmans Idee, in globaler Konkurrenz bestehen, allerdings habe nun jede/r die gleichen Chancen sich durchzusetzen. Zudem schwinde die Macht von Staaten wie Institutionen zugunsten informellerer Strukturen und Gruppen wie beispielsweise NGOs. Wie Stephen Papson und Robert Goldman 2011 analysiert haben, zeigt sich ein damit vergleichbares Narrativ in Werbungen im Informations- und Kommunikationsbereich, in denen immer wieder das Versprechen nach einer Einebnung verschiedener Diskriminierungserfahrungen durch eine freie, offene und rasche Kommunikation erhoben wird.111 Mit dem sogenannten arabischen Frühling scheint sich dieser hoffnungsvolle Gedanke bewahrheitet zu haben, haben sich doch Menschen via Twitter und anderen sozialen Netzwerken scheinbar selbständig organisiert und für die Etablierung der Demokratie gekämpft. Allerdings ist dieser Einschätzung etliches an westlichem Wunschdenken über die Zaubertechnologie Internet enthalten. Mögen soziale Medien im besten Falle eine katalysierende Rolle gespielt haben, waren es letztlich doch militante (und mitunter reaktionäre) Organisationen, die sich auf der Straße behaupten und reale Organisations- wie Mobilisierungsarbeit leisten mussten.

Dennoch ist es kein Zufall, dass der Mensch glaubt, dass sein Datennetz zur Verbreitung seines westlichen Politikideals dient. Seit Jahrzehnten werden Geschwindigkeit und deren Technologien kulturell mit bestimmten Konzepten verbunden. Robert Goldman, Stephen Papson und Noah Kersey analysierten in einer früheren Studie mehr als 1.000 US-amerikanische TV-Werbungen, die zwischen 1995 und 2005 liefen, und untersuchten diese nach ihrer Darstellung von Zeit, Geschwindigkeit und Beschleunigung. Was der/die ZuschauerIn zu sehen bekommt, ist nicht Geschwindigkeit oder beschleunigte Zeit an sich, sondern deren Simulation und mediale Repräsentation. Zeit oder Geschwindigkeit werden durch Symbole oder Narrative repräsentiert. Entsprechend können beide in ihrer Darstellung nicht neutral sein, sondern besitzen eine immanent ideologische Dimension.112 Geschwindigkeit wird besonders oft mit Freiheitswerten verknüpft, insbesondere dort, wo sich Werbung an KonsumentInnen und nicht an ProduzentInnen richtet. Sind diese die anvisierte Zielgruppe, wird Geschwindigkeit vor allem mit Produktivität, Effizienz und Kontrolle verbunden. Geschwindigkeit erscheint dabei als populistische Lösung zu den Widersprüchen und Grenzen des Kapitals und macht zugleich Hierarchien zunichte (jedes Unternehmen kann davon profitieren), wie sie den Weg zum unbegrenzten Wachstum öffnet: »In diesem Sinne wirkt die Geschwindigkeit als Mittel zu einem herrlichen Ende – einem Himmel auf Erden«113, so die These von Goldman, Papson und Kersey. Geschwindigkeit erscheint am Ende des Postfordismus als umfassendes Versprechen auf dem Weg zur kinetischen Utopie.

In der Dromokratie wiederholt sich das Versprechen, an der neuesten Geschwindigkeit teilhaben zu können, auf höherem Niveau. Auf den Straßen und in den Städten werben neue Verkehrsmittel damit, dass man mit ihnen am neuesten Bewegungsrausch teilnehmen kann, selbst wenn man bisher davon ausgeschlossen war. Ob jung oder alt, ob fahrtüchtig oder nicht, die Dromokratie integriert alle in ihren Bewegungskreislauf. Und wer doch außen vor bleibt, der oder die profitiert zumindest von den rasanten Lieferzeiten für bestellte Waren. An anderer Stelle übernimmt die Cloud die Rolle eines sagenumwobenen Versprechens. Die totale Vernetzung der Welt verspricht, das schöne Leben durch den technologischen Fortschritt schon bald zu erreichen. Dies überblendet zugleich die negativen Vorzeichen der neuen Zeit. Wer beispielsweise glaubt, mit Flugtaxis oder E-Scootern städtische Verkehrsprobleme lösen zu können, der oder die ignoriert, dass die Infrastruktur zur Beseitigung der meisten Probleme schon längst bereit stehen würde, würde man sich als Gesellschaft dafür entscheiden, entsprechende Ressourcen dafür aufzuwenden. Im Zentrum dromokratischer Transportversprechen steht nicht eine kollektive Debatte um die Zukunft des Verkehrswesens oder um die Fragestellung, wieso der Verkehr nach Jahrzehnten an Sparprogrammen so funktioniert, wie er heute funktioniert, sondern der naive Glaube, dass es Staat und Kapital schon richten werden.

Als ebensolche Trugbilder gestalten sich dromokratische Versprechen in der Arbeitswelt, in der man sich dank digitaler Technologien eine Abkehr von verschiedenen Entfremdungserfahrungen erhofft. Tim Ferris beispielsweise, US-amerikanischer Autor des 2007 erschienenen Bestsellers The 4-Hour Workweek, hat die Lösung für bestehende Stressprobleme bereit.114 Aufgrund ausufernder Arbeit hat er nach einer dreiwöchigen Auszeit den Beschluss gefasst, einfache Arbeitsschritte, beispielsweise das Beantworten von Mails oder das Versenden von Geburtstagskarten, künftig an eine/n virtuelle/n Assistierende/n auszulagern.115 Diese Arbeit gibt es in ärmeren Ländern wie Indien für wenig Geld. Den liberalen Traum entspannter Arbeitswochen erwirbt man in Form von günstigen Arbeitskräften in anderen Kontinenten. Als Buch verkauft, wird die (nicht sehr innovative) Idee, Arbeit auf virtuelle Assistierende auszulagern, gar zur legitimen Grundlage westlicher Lebensentwürfe, die gerade aufgrund globalisierter und beschleunigter Netzwerke ein individuell entschleunigtes Leben versprechen. Beschleunigung erscheint in dieser Vorstellung als Grundlage erleichterter Lebensführung. Dieses Versprechen realisiert sich aber selbst im kulturellen Imaginären nur durch die Auslagerung der Arbeit beziehungsweise durch die rigide Zweiteilung der Welt.

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