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GESCHWINDIGKEITSREGIME

Die bruchstückartig beschriebenen Widersprüche kapitalistischer Temporalitäten deuten an, wo sich Phänomene und Spannungen in den letzten 200 Jahren verändert und verschärft haben und wo Dinge strukturell gleich geblieben sind. Ein solches Vorgehen wirkt schematisch, allerdings hilft dies bei der Historisierung der Dromokratie. Diese kennt zwar Neuerungen, baut jedoch ebenso auf bereits bestehenden Geschwindigkeitsregimes auf. Diese lassen sich idealtypisch als Abfolge fordistischer, postfordistischer und dromokratischer Systeme charakterisieren, wobei jede Epoche ihre nachfolgende präfiguriert (keine postfordistische Globalisierung ohne die fordistischen Großunternehmen, keine dromokratische Beschleunigung ohne das Internet und seine im Postfordismus etablierten Netzwerke). Gefüllt mit unterschiedlichen Merkmalen liefern die drei Epochenbegriffe ein idealisiertes Bild der Realität, das heuristisch vor allem etwas abzubilden vermag: eine Tendenz, die zahlreiche Unschärfen, globale und regionale Ungleichzeitigkeiten und Überlappungen kennt.


STAAT, STADT UND GESCHWINDIGKEIT

Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution bahnt sich die Geschwindigkeit ihren Weg. Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Übergang vom Stellungs- in den Bewegungskrieg setzt sie sich endgültig durch. Panzer überwinden Gräben. Flugzeuge fliegen über jede Front hinweg. In den urbanen Zentren setzt sich die tayloristische und später die fordistische Massenproduktion durch. Schnellstraßen und Transportnetze verbinden die aufkommenden Vorstädte, Arbeitsorte und Konsumzentren. »Modernes Geschäft – modernes Leben – kann keinen langsamen Transport dulden«47, lautet eine der vielen Weisheiten von Henry Ford, die zwar oft äußerst platt sind und dennoch ungewollt treffende Zeitdiagnosen erstellen. Das Pendeln wird zum Bestandteil des Arbeitsalltags, die Einkaufsstraße zum zeitaufwendigen, aber beliebten Ausflugsziel, der Mensch zum zirkulierenden Massenpartikel. Zur Bausubstanz geronnenes Beispiel dieser Entwicklung und zugleich Synthese von Verkehr, städtischer Beschleunigung und Massenkonsum ist der 1929 umgebaute Berliner U-Bahnhof Hermannplatz, der erstmalig einen direkten Zugang zum eben eröffneten Karstadt-Warenhaus bietet und die Zirkulationswege von Konsum und Verkehr endgültig im Rahmen seiner verkehrstechnischen Beschleunigung miteinander verschränkt.

Mit der Etablierung der Geschwindigkeit setzt zugleich ihre staatliche Regulierung an ihren strategisch wichtigen Grundpfeilern ein. 1914 wird in den USA die erste elektrische Verkehrsampel der Welt errichtet. Der Verkehr wird zu einer politischen Angelegenheit. Verkehrskontrollen, Führerscheine, Nummernschilder und staatliche Geschwindigkeitsvorgaben regeln Straßen – in manchen Ländern und Städten bereits in der Zwischenkriegszeit, in anderen Regionen umfassend erst nach 1945. Konzessionen, Infrastrukturprojekte und neue Transportgesetze sorgen zeitgleich für den geregelten Betrieb auf den Schienen, dessen Verkehrsbetrieb spätestens mit der Durchsetzung umfassend geltender Zeitzonen vor der Jahrhundertwende zum zweiten wichtigen Entwicklungsmotor der Industrie und der Warenzirkulation wird.

Während die staatliche Intervention in verkehrsstrategisch wichtigen Bereichen verhindert, dass der Geschwindigkeitsrausch unkontrolliert in alle Richtungen expandiert, bläst man anderswo zur freien Fahrt. Wer das Tempo nicht auf der Schnellstraße auslebt, tut dies auf der Sport- oder Rennbahn. Spätestens in den 1920er Jahren erreicht die sportliche Ertüchtigung die Massen. »[A]lle sporten sie jetzt«, meint Siegfried Kracauer in einem Essay 1927. Und: »Seit sie alle sporten, möchten sie erfahren warum.«48 Erklärungen gibt es viele. Im Zeitalter der Rekorde drängt es den Menschen nach körperlicher Ertüchtigung. Das ›getting better at getting better‹ des Sportbetriebs hilft, sich in der kapitalistischen Konkurrenz auch anderswo zurechtzufinden. Es entsteht das bis heute wirkende spezielle Arzt-Patienten-Verhältnis der Leistungsgesellschaft:49 Der/die SportlerIn analysiert sich nicht nur selbst, sondern heilt sich ebenso selbst durch den sportlichen Willen, die notwendigen Qualen zur körperlichen Formung zu ertragen. Man ist Arzt und Patient zugleich, wobei sowohl Heilungsmöglichkeiten wie auch das Verständnis von Defiziten durch die Gesellschaft vorgegeben werden. Wer sich dabei mit der natürlichen Formung seines Körpers nicht zufrieden gibt, der oder die setzt auf leistungssteigernde Mittel. Dazu gehört nicht nur die Potenzierung der eigenen Leistung durch Doping, sondern auch durch motorisierte Fahrzeuge. Mit Rennautos braust man entlang der Straße, mit Flugzeugen werden Temporekorde über dem Himmel erzeugt. Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo ein Geschwindigkeitsrekord gebrochen wird. Stillstand wird zur lästigen Eigenschaft, Pausen und Warten werden zum negativ konnotierten Zustand einer erstmals umfassend in Bewegung versetzten Gesellschaft.

In den meisten westlichen Ländern setzt der Staat auch nach den 1970er Jahren die Grundlage für den Ausbau der Mobilität mit höherer Geschwindigkeit. Außer in den USA entstehen in etlichen Industrienationen der postfordistischen Welt Hochgeschwindigkeitsnetze auf Schienen. In Japan sind es die Shinkansen, in Frankreich ist es der TGV, die Menschen dank staatlicher Subventionen rascher an entfernte Orte bringen. Die aufkommende Satellitenkommunikation verstärkt die Zerstörung des Raums zugunsten der Zeit – und bringt die Militarisierung des Weltraums mit sich –, ebenso wie die vereinfachte, vor allem auf den Weltmeeren internationalisiert stattfindende Containerisierung des globalisierten Warentransportes, der Abbau von Zollschranken oder die vergünstigten Lufttransportkosten den globalen Warenaustausch beschleunigen. Mit der Aufhebung des Goldstandards verliert der Raum auch im Finanzbereich seine ursprüngliche Bedeutung. Und mit der Concorde lassen sich alle Metropolen dieser Welt für jene kinetische Elite, die genügend bezahlen kann, in wenigen Stunden erreichen. Was in der Phase der Etablierung der postfordistischen Standards als neoliberaler Umsturz mit der Zerschlagung gewerkschaftlicher beziehungsweise staatlicher Macht und den darauf folgenden Wirtschaftsexperimenten in England und Chile noch regional begrenzt ist, dehnt sich nach dem Ende der Sowjetunion 1990 weiter aus. Deregulierung und Deindustrialisierung werden infolge der Integration in den Weltmarkt für weite Teile der Welt rasante Realität. Neue Konsumprodukte erreichen die integrierten Orte im Eiltempo. Neue Freihandelsabkommen sorgen dafür, dass dieser Zustand der ungleichen Vernetzung perpetuiert wird.

Im Massenverkehr stößt die Geschwindigkeit allerdings früh an ihre Grenzen. In den Lüften geht es beispielsweise abseits der Concorde nicht mehr um eine Steigerung der Geschwindigkeit, sondern um einen Ausbau der Flugkapazität und der dazugehörigen Infrastruktur sowie um die Entwicklung einer internationalen rechtlichen Grundlage des weltweiten Flugverkehrs für den (erst spät aufkommenden) globalen Massentourismus. Auch anderswo verlangsamt sich der staatlich unterstützte Geschwindigkeitsausbau. Der spätestens in den 1970er Jahren einsetzende Rückgang von Profiten und die damit einhergehenden Wirtschaftskrisen nach dem Nachkriegsboom fordern von Staaten neue Maßnahmen und Denkweisen. Neoliberale Deregulierungen und Privatisierungen treffen den öffentlichen Verkehr, dessen Infrastruktur nicht mehr gleich intensiv ausgebaut wird wie zuvor, während gleichzeitig das Verkehrsangebot auf dem Markt feilgeboten wird – im Paradebeispiel England mit begrenztem Erfolg, in anderen Ländern verzichtet man im Gegensatz zur Telekommunikation in verkehrsstrategischen Kernangeboten auf eine umfassende Privatisierung. Während die Geschwindigkeit der Verkehrsmittel und Straßen sich nur noch ansatzweise und in kleinen Schritten beschleunigt – das postfordistische Prestigeobjekt der Lüfte, die Concorde, muss schließlich gar beerdigt werden –, gelingt ein neuer qualitativer Umschlag der Geschwindigkeit an anderer Stelle.

Zentrales Beschleunigungsmoment sind nicht mehr die Straße und der Verkehr, sondern der Konsum und der Finanzmarkt. Erst computergestützt, dann computergeneriert beschleunigt sich die Umsatzgeschwindigkeit auf dem Finanzmarkt parallel zu den sich beschleunigenden Umlaufzeiten in der Konsumsphäre. Immer kürzere Modeerscheinungen, sich abwechselnde Produktpaletten, One-Hit-Wonders und werbeindustriell konstituierte Trends prägen das beschleunigte Konsumbedürfnis des Postfordismus. Der Staat leistet seinen Beitrag zum Gelingen dieser neuen Welt, indem er den öffentlichen Raum hierfür konfiguriert. Man weist dem Kapital und seinen VerkaufsagentInnen die Möglichkeit zu, an jeder freien Ecke Werbeplakate zu hissen und gigantische Einkaufszentren zu bauen. Die Stadt wird endgültig zur Ereignislandschaft – das heißt: zu einem Raum, in dem es mehr Ereignisse als Landschaft gibt.50 Parallel hierzu sinkt die individuelle wie auch die staatliche Zeitsouveränität. Zum Taktgeber der Gesellschaft werden der Konsum und der Finanzmarkt, während Staaten und Individuen die notwendige Zeit abhandenkommt, die für gewisse Entscheide notwendig wäre.51 Der bei der Diagnose eines Verlusts der Zeitsouveränität oft mitschwingende Demokratieglaube oder das Nachtrauern über vergangene Epochen ist allerdings zurückzuweisen: In jeder bisherigen kapitalistischen Ordnung galten Profit- vor Menscheninteressen. Sinnvoller ist es deswegen, von einer zunehmenden Spannung zwischen langfristigen und kurzfristigen Zielhorizonten zu sprechen.

In der Dromokratie lässt sich in Kombination mit umwelt- und verkehrspolitischen Fragen eine Rückkehr zur fordistischen Straßen- und Verkehrsbegeisterung unter neuen technologischen Vorzeichen beobachten. Intensiv wird von staatlicher Seite aus an den gesetzlichen wie infrastrukturellen Grundbausteinen der verkehrstechnisch veränderten Bestandteile der dromokratischen Gesellschaft gearbeitet. Während man in Telekommunikationsfragen die Entwicklung weiterhin Privaten überlässt, arbeitet man in Fragen der Logistik, der Mikromobilität und im Bereich des automatisierten Verkehrs eng mit Unternehmen zusammen. Dazu werden Forschungsgelder zugesprochen und Bewilligungen im Eilverfahren erteilt. Der Staat wird zum Geschwindigkeitsmanager. Er liefert den Pace, synchronisiert seine BewohnerInnen mit dem bevorzugten Tempo und sorgt für die besten Bedingungen des beschleunigten Warenverkehrs.

Das Verbessern und Überwachen einer entgrenzten Geschwindigkeit gehört zu den zentralen Aufgaben des dromokratischen Staates. Dies bedingt einerseits ein globales Handeln, um im weltweiten Güterverkehr und bei den internationalen Forschungsgemeinschaften mithalten zu können. Gleichzeitig vergisst der dromokratische Staat seine protektionistisch-imperialistische Funktion nicht, in der er zuallererst für das Wohl der eigenen Nation beziehungsweise deren Kapital sorgt. Angedeutet wird diese zweite Seite heute schon in der Diskussion, welche Rolle ausländische Mobilfunkanbieter im Ausbau des eigenen Netzes spielen dürfen. Der Staat löst sich im Übergang in die Dromokratie also nicht auf, sondern verstärkt und militarisiert seine Aktivitäten in zentralen Bereichen, während anderswo Leistungen abgebaut werden. Anders gesagt: Der Staat kehrt zu seinen grundlegenden Aufgaben zurück und verstärkt diese, während er sich von anderen, bereits geleisteten Entwicklungen zurückzieht. Austeritätspolitik, insbesondere in den Peripherien, sowie staatliche Investitionen und Förderung verkehrspolitischer Initiativen schließen einander deshalb nicht aus. Viel makabrer noch versprechen die meisten staatlich geförderten Transportvisionen unserer Zeit eine bessere Zukunft, deren Grundlage in den letzten Jahrzehnten systematisch kaputtgespart wurde.

ARBEIT UND ZEIT

»Zeitverschwendung unterscheidet sich von Materialverschwendung nur dadurch, daß diese Verschwendung unwiederbringlich ist.«52

(Henry Ford: Das große Heute, das größere Morgen)

Unter Ford gilt es in jedem Arbeitsschritt die unwiederbringliche Verschwendung von Zeit zu mindern. Dieses zeitökonomische Arbeitsprinzip betrifft nicht nur den Raum der Fabrik, sondern weitet sich in alle Lebensbereiche aus. Davon zeugt die steigende Menge fordistischer Ratgeberliteratur. In Christine Fredericks 1919 publiziertem Werk Household Engineering findet man beispielsweise Hinweise, wie man in schlecht organisierten Küchen zu viel Zeit verliere und wie sich dies verhindern lässt.53 Sich selbst rationalisieren, wie der Titel eines anderen fordistischen Ratgebers der Zwischenkriegszeit lautet, eröffnet den Weg in den »persönlichen und beruflichen Erfolg«54. Zum wichtigen frühen Symbol des fordistischen Zeitalters und seiner gesteigerten Zeiteffizienz wird die Stoppuhr. Sie löst die Stechuhr als Signet der tayloristischen Zeitdisziplin ab und wird zum Inbegriff der auf Effizienz getrimmten Synchronisierung der menschlichen Handlung an das Tempo der Maschine. In Fords Fabriken messen Zeitstudien-Beamte mit Stoppuhren Arbeitsschritte, um sie später zu beschleunigen. Die »Beschleunigungsmeister«55, wie die deutsche Soziologin Hilde Weiss 1927 den Begriff ›Speed-Boss‹ in ihrer Untersuchung zum fordistischen Betrieb ins Deutsche übersetzt, besitzen die Funktion, das Arbeitstempo zu überwachen, zu beschleunigen und gegebenenfalls Menschen zu entlassen, die mit dem vorgegebenen Tempo nicht mithalten können.

Die fordistische Arbeitsordnung betrifft zugleich das Arbeitstempo wie die Disziplinierungsmaßnahmen. Neben der Stoppuhr geben die Arbeitsschritte am Fließband nunmehr eigenständig vor, mit welchem Tempo und in welchem Takt gearbeitet werden soll – »Ford braucht weder das Sprechen noch das Austreten zu rationalisieren. Das alles besorgt das Laufband«56, heißt es idealisierend dazu in einer Reportage von Karl Grünberg von 1926 zur ersten Ford-Fabrik in Deutschland. Im Gegensatz zu anderen Frühformen der neuen industriellen Produktion und im Gegensatz zum historischen Taylorismus, bei dem die erforderliche Zeitdisziplin am Fließband durch eine personalintensive Kontrolle vollzogen wurde, intensiviert die fordistische Ordnung die Kontrollformen durch selbstregulierende Mechanismen und kann so auf eine physische Ausdehnung der bisherigen Kontrollinstitutionen verzichten. Doch es findet nicht einfach eine Ablösung statt. Vielmehr gesellen sich zu den Mechanismen des Disziplinarstaates – beispielsweise Formen der externalisierten Überwachung durch Aufsichtspersonen, die Disziplinierung durch den Überwacher oder die Normung durch äußere Vorgaben – Methoden der Kontrollgesellschaft, beispielsweise durch eine zunehmende internalisierte Selbstüberwachung, selbstoptimierende Feedbackschleifen ohne primäre Überwachungsperson oder durch gegenseitige Überwachung.

Die Fließbänder setzen die fordistische Gesellschaft umfassend in Bewegung. Doch entgegen der Marx’schen Vorhersage, dass alles Stehende zu verdampfen beginnt, besitzt die fordistische Epoche ebenso zahlreiche erstarrte Bereiche. Regelbiographien sind auf Langzeiterfolge und Karrieren in einem Unternehmen ausgelegt. Geregelte Normarbeitstage, strikte Zeitordnungen und Massenproduktion in großen und stabilen Fabrikhallen evozieren gerade im Vergleich zu späteren Zeiten einen äußerst starren Zustand. Home Office und ständige Erreichbarkeit sind in diesem System noch nicht vorgesehen. Große, unhandliche Maschinen verunmöglichen rasche Abtransporte und Ortsänderungen für das Kapital. Dieses ist im Vergleich zu späteren Epochen äußerst undynamisch an die Fabrikorte und Konsumzentren gebunden. Auch die ArbeiterInnen erleben eine Immobilität, gerade entgegen den neuen Möglichkeiten der Straßen und Transportnetze. Die relativen hohen Löhne in Fords Fabriken behalten Menschen an einem Ort. So räumlich konzentriert Arbeit und Kapital sind, so konzentriert findet auch die Auseinandersetzung zwischen beiden statt: Fabrikhallen und Arbeiterquartiere sind der räumlich starre Ort der gewerkschaftlichen Kämpfe und Organisierung.57

Die verschiedenen Kämpfe verhindern nicht, dass sich die leere Zeit in das Leben frisst und den Alltag kolonialisiert. »Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu«58, wie es in einem Ausruf von Ödön von Horváth heißt, zeugt exemplarisch vom Gefühl einer zunehmenden Verknappung der Zeitsouveränität. Rationalisierung lautet das Schlagwort, das hierfür verantwortlich gemacht wird. Dabei werden einer solchen selbst Teilbereiche des Lebens unterworfen, die bisher als natürlich wahrgenommene Umwelt funktionierten, beispielsweise die Nacht und der dazugehörige Schlaf, wie dies von Hannah Ahlheim in mehreren Beiträgen beispielhaft für die fordistische Rationalisierung beschrieben wurde.59 Ein produktiv handelnder Mensch, so meinte Thomas Edison bereits 1914, habe seinen Schlaf möglichst zu reduzieren:

»In the old days, man went up and down with the sun. A million years from now, he won’t go to bed at all. Really, sleep is an absurdity, a bad habit. We can’t suddenly throw off the thralldom of the habit, but we can still throw it off. […] Nothing in this world is more dangerous to the efficiency of humanity than too much sleep.«60

Edison behielt zwar nicht recht, doch seine Prophezeiung beinhaltet dennoch einen kulturdiagnostisch relevanten Punkt. Trotz Müdigkeit als epochalem Dauerzustand inklusive einer aufkommenden ›Verwissenschaftlichung des Schlafes‹61 entschwindet dieser als nicht kommodifizierter Erholungsraum mehr und mehr zugunsten einer Ausdehnung des produktiven Tages. Dass parallel dazu weiterhin die traditionsreiche Vorstellung eines andauernden Schlafes der Masse existiert, der seinen bekanntesten Ausdruck im faschistischen Ausruf ›Deutschland erwache‹ findet, steht dem nicht entgegen, sondern entspricht vielmehr einer parallel dazu verlaufenden Kulturdiagnose. Als Vision manifestiert sich die aufgekündigte Nacht in der Hoffnung, eines Tages zeitökonomisch optimiert ganz auf den Schlaf verzichten zu können. Doch bereits in der fordistischen Gegenwart scheint der Befund durchaus zutreffend, dass der Mensch weniger zu Bett gehen muss, kann der Schlaf doch weder in den immer taghellen Sportarenen, in den beleuchteten Fabrikhallen noch in den mit Lichtreklamen erhellten und von Menschen durchdrungenen Nächten urbaner Metropolen eintreten. Freilich liegen die Anfänge dieser Entwicklung, wie Wolfgang Schivelbusch in seiner mittlerweile bekannten Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert nachgezeichnet hat, nicht in der Zwischenkriegszeit.62 Spätestens ab den 1880er Jahren dehnte sich die nächtliche Beleuchtung von öffentlichen Orten oder Innenräumen rasant aus und ermöglichte die nach und nach einsetzende Verdrängung der Nacht. Flankiert wird die produktive Erhellung später durch den fordistischen Betrieb, der es auch arbeitsorganisatorisch vereinfacht, Produktionszyklen in Schicht- und Nachtarbeit auf 24 Stunden auszudehnen und dadurch die tote Zeit der unproduktiven Nacht zu verdrängen.

Die Expansion produktiver Zeiträume, wie sie sich in der Verdrängung des Schlafes zeigt, entspricht, wie nicht nur Marx, sondern auch AutorInnen der fordistischen Zwischenkriegszeit immer wieder betont haben, einem kapitalistischen Entwicklungsgesetz. So wird von Unternehmen und deren AgentInnen einerseits erwartet, so Werner Sombarts Beschreibung des Hochkapitalismus, die Arbeitszeit möglichst auszudehnen, andererseits sei aber auch »Sorge zu treffen, daß innerhalb der Arbeitszeit keine toten Zeiten entstehen durch Pausen in der Fabrikation, Wartezeiten im Transportwesen, Unbeschäftigtsein des Verkäuferpersonals u. dgl.«63. Die Abschaffung toter Zeit gehört zu den wesentlichen Entwicklungsmotoren kapitalistischer Entwicklung und macht, wie das Beispiel der Nacht zeigt, vor nichts Halt. Zwar ist dies keine besonders neue Erkenntnis, allerdings ist dies Grundlage einer Analyse, die auch ihre Gegenseite betont: Der Kapitalismus beinhaltet immer einen »harten und finsteren Kampf um die Zeit und die Nutzung der Zeit«64, so Henri Lefebvre. Während das Kapital zeitökonomische Rationalisierung einfordert, wehren sich die Betroffenen und fordern ihrerseits eine Anpassung und progressive Auslegung der Arbeits- und Lebenszeit.

Das Beispiel des Schlafes und der Nacht veranschaulicht, dass im Kapitalismus immer mehr Lebensbereiche einem zeitökonomischen Rationalisierungsdruck unterworfen werden. Freilich gibt es bis heute kein Ende des Schlafes – die Wirtschaft weiß nach hundert Jahren Schlafforschung bestens um die Problematik, dass sich Arbeitszeit nicht unendlich ausdehnen lässt, und auch neuere Schlafexperimente des US-Militärs zur Verlängerung der soldatischen Dienstbereitschaft haben hiervon noch keine Abhilfe schaffen können.65 Damit die Nacht überhaupt wegrationalisiert werden kann, muss sie historisch wandelbar sein. Der Schlaf mag zwar zu den biologischen Grundbedingungen des menschlichen Wesens gehören, er ist aber ebenso stark mit sozialisierten Normen und Lebensbedingungen verknüpft. Dazu gehören sowohl Vorstellungen und Normen der Schlafdauer – im postfordistischen Kapitalismus, so Jonathan Crary, hat sich die durchschnittliche Schlafdauer Amerikas merklich verkürzt66 – als auch architektonische und kulturelle Voraussetzungen, beispielsweise die Trennung von Schlaf- und Arbeitsraum. Diese historisch gewachsene Seite des Schlafes zeigt sich eklatant im Markt für Produkte, die einen wach halten oder aber Schlaf in einer schlaflos gewordenen Welt ermöglichen. Solche Mittel sind nichts anderes als künstliche Scharniermittel zur Senkung von Reibungsenergien, die in Synchronsationsprozessen entstehen.67 Auch die seit Jahrzehnten expandierende Nacht- und Ausgangskultur ist Teil einer Neudefinierung von Tagesrhythmen. Henri Lefebrvre hat diese kulturelle Dimension der Abschaffung der Nacht als ereignislosem Raum in einem popkulturellen Verweis einst als Ausbruch des ›Saturday Night Fever‹ bezeichnet: »Als ob der Tag nicht ausreichen würde, um sich wiederholende Tätigkeiten zu erfüllen, frisst sich die soziale Praxis Stück für Stück in die Nacht. Am Ende der Woche bricht anstelle des traditionellen wöchentlichen Tages der Ruhe und Frömmigkeit das ›Saturday Night Fever‹ aus.«68 Solche kleinen und größeren kulturellen Veränderungen der Temporalstrukturen besitzen eine qualitative Auswirkung, die mehr beinhaltet als ›nur‹ die quantitative Veränderung des Verhältnisses von produktiver zu unproduktiver Zeit. So führen die unterschiedlichen Phänomene einer schlaflosen Welt, so Jonathan Crarys zentraler Befund über den postfordistischen Kapitalismus, zu einem umfassenderen Problem: Wo der Zustand der ununterbrochenen Produktion und Helligkeit hegemonial wird, droht der Verlust von geschichtlichem Fortschritt: »Eine strahlende 24/7-Welt, die keine Schatten wirft, ist die kapitalistische Endzeitvision eines Posthistoire, einer Austreibung der Alterität als dem Motor geschichtlichen Wandels.«69 Das Ende der Geschichte ist zugleich Trugbild wie Realität: real, weil es im rasenden Stillstand verwirklicht wird, ein Trugbild, weil die soziale Dynamik und Widersprüche der Klassengesellschaft ein solches Ende niemals zulassen werden.

Der geschichtliche Fortschritt entgleitet auch anderswo. Auf den Finanzmärkten sucht das Kapital nach neuen und rascheren Profitmöglichkeiten und defuturisiert dafür die Zukunft mehr und mehr, indem beispielsweise wie im Handel mit Futures zukünftige Preise bereits in der Gegenwart verhandelt werden oder indem die Kreditwirtschaft und damit die Hoffnung für zukünftige Einnahmen auch für Privathaushalte zur Überlebensstrategie wird – über die Finanzialisierung des Kreditwesens, beispielsweise bei Immobiliendarlehen, wandeln sich Schulden zeitgleich zu einem Anlagevermögen, Vergleichbares geschieht auch bei den Pensionskassen, bei denen (künftige) PensionärInnen unfreiwillig zu AkteurInnen auf dem Finanzmarkt werden. Gleichzeitig stagnieren die Reallöhne und entgegen den positiven Versprechen flexibilisierter Arbeit erlebt Generation um Generation mehr Temporär- oder Praktikumsarbeit sowie einen beständigen Stress durch Unsicherheiten und Zukunftsängste. Solche Bürden prägen insbesondere in der späten Phase der postfordistischen Epoche das Leben auch abseits des Arbeitsmarktes, beispielsweise indem durch die Integration verschiedener Lebensbereiche in die Marktlogik die zunehmende Selbstökonomisierung und Verbetrieblichung der Lebensführung zur Dauerbelastung des postfordistischen Individuums werden.70

Wesentliche Triebkraft postfordistischer Veränderungen in der Arbeitswelt ist die einsetzende Just-in-Time-Produktion. Durch die zeitgenaue Lieferung einzelner Bauteile für die Herstellung einer Ware entfallen Lagerkosten. An die Stelle des Materialpuffers tritt der menschliche Puffer, der dank flexibler Arbeitsverträge besser und günstiger gelagert und gebraucht werden kann.71 Die Arbeit ist nicht mehr nur standardisiert, sondern auch automatisiert. Später weitet sich das Prinzip von der Verflechtung einzelner Produktionsschritte innerhalb einer Fabrik auf das Endprodukt selbst aus, das nunmehr gemäß vorhergesehener Auftragslage möglichst nah am Kauf vervollständigt wird. Zum wichtigen Ideengeber dieser Produktionsart wird das japanische Autounternehmen Toyota. Dieses weitet Ende der 1970er Jahre die Automatisierung aus, vermindert dadurch Zeit- und Materialverschwendung auf höherem Niveau und bindet die Angestellten auf eine doppelte Weise besser in den Produktionsprozess ein. Erstens sorgt die eingeführte Teamarbeit für eine verbesserte gegenseitige Kontrolle. In späterer Weiterentwicklung wirkt sich jene auch auf die Arbeitszeit aus. In nicht wenigen Unternehmen konkurrieren ArbeiterInnen untereinander als Teams, indem sie sich beispielsweise für Projekte bewerben müssen. Hierfür erstellen sie firmeninterne Business-Pläne, die sich in gegenseitiger Zeitoptimierung übertreffen – wohl wissend, dass eingereichte Termine nicht eingehalten werden können und zu Lasten der eigenen Freizeit gehen.72 Zweitens fördert Toyota die Integration der MitarbeiterInnen in den kreativen Produktionsprozess, indem deren Vorschläge den Betrieb beständig verbessern sollen. Diese inkludierende Teilhabe an der Produktion findet auch an anderen Orten statt, beispielhaft in den sich durchsetzenden ›flachen Hierarchien‹, die – anders, als ihr Name verspricht – nicht Herrschaftsfreiheit, sondern verbesserte Leistung für das Unternehmen bedeuten. Was beim japanischen Autohersteller eingeführt wurde, nannte man später ›Lean Production‹ (schlanke Produktion). Im Gegensatz zu Taylor, dem es um die Beschleunigung der individuellen Arbeitsprozesse, und Ford, dem es um die Beschleunigung des Workflow ging, beschäftigt sich die Lean Production, so die These von Christoph Hermann, mit der umfassenden Beschleunigung der gesamten Fabrik.73 Dafür wird nicht mehr nur die Arbeit am Fließband optimiert, sondern alle an der Herstellung einer Ware beteiligte Arbeit rationalisiert, indem der gesamte Fabrik- und Produktionsraum in einzelne Arbeitsschritte atomisiert wird, die optimiert und beschleunigt werden können. Zeitgleich löst (die im besten Falle selbst lernende) Software die fordistische Stoppuhr ab und berechnet nunmehr das optimale Zeitmanagement komplexer Prozesse – Zeitstudien-Software zur Optimierung von Arbeitsprozessen existierte schon bei frühen Computern: Der Epson HX-20 warb beispielsweise bereits 1985 damit, dass sich darauf ein ›time study program‹ anwenden ließ.

In der Dromokratie lösen sich stabile Arbeitsordnungen entlang fragmentierter Temporalitäten noch radikaler auf. Wir erleben eine Netzwerkzeit, die sich in den zahlreichen Applikationen formt und den Menschen die fragmentierten Rhythmen über die Gadgets gleich selbst vermittelt. Ein erstes Beispiel der arbeitsorganisatorischen Auswirkungen dieser Entwicklung bilden die sich täglich verändernden Arbeitszeiten im Fast-Food-Betrieb. Gearbeitet wird nicht mehr nach lang- oder mittelfristigen Plänen, sondern kurzfristig flexibel je nach Auftragslage, anhand derer man am Tag selbst die zu leistenden Arbeitsstunden berechnet. So kann es vorkommen, dass man bei McDonalds an einem Tag acht Stunden arbeitet und am nächsten Tag nur drei, ohne dass dies vorausgesehen werden könnte. An anderen Orten verkauft sich die Arbeitskraft über Plattformen. Auch hier wird nach Auftragslage gearbeitet – wie man auf Flauten reagiert, muss jede/r für sich selbst entscheiden. Ständige Erreichbarkeit wird zum obersten Gebot. Das Internet und seine Plattformen stellen die Infrastruktur dieser auf 24/7 ausgerichteten Gesellschaft dar. Hier kann man den ganzen Tag Waren kaufen oder seine eigene Arbeitskraft verkaufen. In ihrer gesellschaftlichen Relevanz werden digitale Plattformen zu öffentlichen Dienstleistungen, zumindest im verbreiteten Anspruch, Zugang darauf zu haben. Im Gegensatz zu öffentlichen Räumen und Angeboten sind Plattformen wie soziale Medien allerdings privatwirtschaftlich organisiert. Sie bilden, wie Timo Daum treffend bemerkt hat, den zu Ende gedachten Ort neoliberaler Ideologie:74 der Glaube, dass die Privatwirtschaft auch öffentliche Dienste besser organisieren kann als der Staat, der allerdings in der Dromokratie Garant für den Schutz und Ausbau der materiellen Infrastruktur bleibt.

Dromokratische Arbeitsprozesse sind nicht mehr nur standardisiert und automatisiert, sondern werden zu adaptiven Prozessen.75 Das heißt: Der Produktionsprozess soll sich mit hohem Tempo an Marktbedürfnisse und -veränderungen anpassen können. Dabei helfen neue Technologien. 3D-Drucker ermöglichen beispielsweise ein ›Rapid Prototyping‹, die raschere Herstellung neuer Prototypen, ein ›Rapid Tooling‹, die beschleunigte Herstellung von Werkzeugen für Maschinen, und ein ›Rapid Manufacturing‹, die temporeiche Produktion von marktreifen Endprodukten.76 Adaptive Prozesse manifestieren sich auch in der dromokratischen Logistik. »Größe, Kosten, Geschwindigkeit und Personalisierung«77 gehören laut Alibabas Strategen Ming Zeng zu den vier Kernaufgaben jedes erfolgreichen zeitgenössischen Unternehmens. Zwischen Größe und Personalisierung entsteht allerdings ein spezielles dromokratisches Wechselverhältnis. Zwar expandiert die Massenproduktion auch in dromokratischer Ordnung. Sie nimmt allerdings wieder kleinteiligere Züge an. Aus der postfordistischen ›Just-in-Time Production‹ wird das personalisierte ›Just-in-Time Delivery‹. Dafür werden die massenhaft produzierten Waren in ihrem Transport wieder in einzelne Produkte zerlegt. Während sich die dromokratischen Transportvisionen globalisieren, fokussiert man in der Endlieferung auf Einzelwaren. Transportdrohnen und Auslieferroboter transportieren einzelne Pakete möglichst nah am Bestellungszeitraum, ohne zu einem einzigen Zeitpunkt alle Waren gleichzeitig auszuliefern. Dieses Prinzip scheint sich zumindest in den visionären Transportideen durchzuziehen. Hyperloop-Verbindungen bestehen aus kleinen, zusammenfügbaren Transportkapseln. Automatische Autos und nicht Busse bevölkern die Straßen der Zukunft. Auch Werbung wird personalisiert, genauso wie sich die Preise der Zukunft an den KonsumentInnen orientieren werden – Apps wie Tinder arbeiten schon heute erfolgreich damit, dass ihre Abos und Dienstleistungen für unterschiedliche Personen unterschiedlich viel kosten (Big Data und Statistik erlauben eine zielgenaue Antizipation, wie viel jeder einzelne Mensch bereit ist, für ein Angebot zu bezahlen). Der bereits im Fordismus zum Massenpartikel gewordene Mensch wird weiter atomisiert und individualisiert, zugleich erreicht seine massenhafte Entpersonalisierung als global verfügbare flexible Arbeitskraft einen neuen Höhepunkt.

1 531,18 ₽
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343 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783854767077
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