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DROMOLOGIE UND DROMOKRATIE

Der bis heute bekannteste Vertreter der Geschwindigkeits- und Beschleunigungsforschung ist der 2018 verstorbene Paul Virilio. Auf ihn geht die Forderung nach dromologischen Untersuchungen zurück. Ausgehend vom griechischen dromos, dem Lauf, will die dromologische Fragestellung die Logik der Bewegung untersuchen, die gemäß ihrer Wortbedeutung gleichzeitig auch Wettlauf und Rennbahn ist.24 In diesem Ansatz ist eine zentrale These enthalten: Macht korreliert mit Geschwindigkeit. Diese nimmt in unterschiedlichen Epochen eine unterschiedlich große Rolle ein. Heute jedoch wirkt sie stärker denn je. Was sich etabliert, ist eine neue Herrschaftsform, die Dromokratie, verstanden als Gesellschaft, in der die Herrschaft des Schnelleren gilt, was für Virilio zugleich auch »Fahrgesellschaft« und »Jagdgesellschaft« bedeutet.25 Als Mittel der Durchsetzung dromokratischer Zustände sieht Virilio die Chronopolitik. Gemeint ist damit eine Fülle an Regulationsinstrumenten, um über »Rhythmus, Dauer, Tempo, Sequenzierung und Synchronisierung von Ereignissen und Aktivitäten«26 zu bestimmen, so die pointierte Zusammenfassung von Hartmut Rosa. Bei diesem wird Chronopolitik vor allem als Teil der Beschleunigungsdynamik, bei Virilio als Teil eines diffusen Machtkonzepts angedacht. Chronopolitik kann jedoch noch von einer anderen Seite hergeleitet werden. Sie entspricht einer Herrschafts- und Machtform des Kapitals, deren totalitäre Ausformung die Dromokratie darstellt.

Die Dromokratie ist die Herrschaft des Schnelleren. Wer über eine größere Geschwindigkeit verfügt, besitzt einen politischen wie finanziellen Vorteil. Entsprechend einig sind sich Industrie und Staat in den führenden Nationen, dass man der technologischen Entwicklung nicht hinterherhinken darf, sondern sie möglichst führend umsetzen muss. Der Staat wird zum Geschwindigkeitsmanager. Als präfigurierender Taktgeber der dromokratischen Geschwindigkeit tritt der Hochfrequenzhandel auf. Während sowohl der computerunterstützte als auch der computergenerierte Börsenhandel die Geschwindigkeit postfordistischer Finanzmärkte bereits rasant beschleunigten, ist seit einem Jahrzehnt eine neue qualitative Steigerung zu beobachten. Der Hochfrequenzhandel nimmt vorweg, worum es bei der Herrschaft des Schnelleren zukünftig gehen wird: Das Rennen um Echtzeit wird zum kostenintensiven Begleiter unternehmerischen als auch persönlichen Handelns. Sichtbar wird dies in der zeitgenössischen Unternehmerphilosophie. Jeff Bezos’ Wunsch, dass Amazon immer am ›Day 1‹ stehen bleibt, spiegelt den Drang nach Echtzeit, vergleichbar mit dem Wunsch verschiedener MillionärInnen, den menschlichen Alterungsprozess aufzuheben, um auch körperlich in der ewigen Gegenwart aufzugehen.

Die Dromokratie definiert unsere Ansprüche und funktioniert als umfassender ideologischer Reproduktionsmechanismus. Niemand geht davon aus, dass ein bei Amazon Prime bestellter und innerhalb eines Tages gelieferter Massenartikel die gleiche Qualität besitzt wie ein sorgfältig ausgewähltes Produkt. Doch Geschwindigkeit selbst wird zum neuen Qualitätsmerkmal, und den Artikel, den ich jetzt haben will, kann ich notfalls morgen in besserer Version erneut kaufen. Die temporale Ordnung der Konsumation und die Just-in-Time Delivery folgen auf die postfordistische Just-in-Time Production. Das leitende Gebrauchswertversprechen ist nunmehr die Gegenwart. Ein Ergebnis hiervon sind noch schnellere Umschlagszeiten, ein anderes ist der Verlust jeglicher Zeitsouveränität.

Die Dromokratie ist eine Fahrgesellschaft, in der sich der Mensch beständig bewegen muss, wie er ebenso beständig in Bewegung versetzt wird. Die Propagierung einer pausenlosen Bewegung, die Hoffnung auf eine kinetische Utopie27, in der Stillstand Regression bedeutet – das heißt: die Propagierung eines »produktivistischen Aktivismus«28 beziehungsweise der geschwindigkeitseuphorische Glaube daran, »ein Mehr und Besseres dadurch zu erreichen, dass man sich und/oder alles andere in Bewegung setzt«29, und dies immer schneller –, ist wesentlicher Bestandteil einer hegemonial werdenden Bewegungsideologie. Sichtbar wird dies im Gebrauchswertversprechen neuer Verkehrsmittel, die einen neuen affektiven Zugang zur Stadt versprechen, indem sie die Bevölkerung in kollektive Bewegung versetzen, in der Re-Romantisierung der Geschwindigkeit, die sich von ihrem fordistischen Adrenalinrausch gelöst hat und nunmehr Freiheit durch Kontrolle verspricht, oder im städteplanerischen Umgang mit Mobilität als integrativem Versprechen.

Die Fahrgesellschaft konkretisiert sich in der Aufhebung selbständiger Bewegung. Jeder Schritt zu Fuß ist einer zu viel. So gehört die Kommodifizierung der letzten Meile zur ersten Aufgabe der Dromokratie. Doch auch in größerem Maßstab werden wieder Verkehrsvisionen ausgegraben. Dazu gehören autonome Fahrzeuge, der anvisierte Warentransport unter der Erde oder rasante Züge auf Hyperloops, dank dem die fast schon vergessene – das heißt: neoliberal vernachlässigte und kaputtgesparte – Bahn plötzlich wieder interessant für staatliche Investitionen wird.

Die Dromokratie ist eine Jagdgesellschaft. Den Wettkampf um die größtmögliche Geschwindigkeit kennen Jäger wie Gejagte. Die treibende Kraft ist dabei ein allgegenwärtiger Synchronisationsdruck, der den Menschen und der Umwelt eine Höchstgeschwindigkeit aufzwingt. Synchronisation ist allerdings bei Weitem nicht immer erfolgreich. Anpassungen führen im besten Falle zu Reibungen und Wartezeiten, in anderen Fällen aber zu umfassenden gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen. Es entstehen Desynchronisationsprozesse, die zugleich Ausschluss bedeuten und produktive, sich vom universalisierten Rhythmus unterscheidende Beschleunigungserfahrungen und internalisierte Temporalitäten hervorrufen.

Als Jagdgesellschaft ist die Dromokratie im Wesentlichen eine Klassengesellschaft. Der Drang zur kinetischen Utopie bringt eine kinetische Elite sowie ausgeschlossene und verlangsamte Menschen hervor. Auf der einen Seite steht jene bourgeoise Gruppe, die in Hochgeschwindigkeit und grenzenlos um die Welt jettet, auf der anderen Seite stehen jene proletarisierten Schichten, die zur Immobilität gezwungen werden, sei es, indem sie die outgesourcte Arbeit in ihren Heimatländern übernehmen, indem sie an der Migration gehindert werden, oder indem sie in Terrordatenbanken erscheinen, die ihnen die problemlose Grenzüberquerung verunmöglichen.

Geschwindigkeit als gesellschaftliches Verhältnis ist immer ein Ergebnis einer staatlichen Infrastruktur, das heißt von Räumen, Grenzen, Überwachung und Kontrollen. Darin verborgen liegt zugleich die immanent militaristische Komponente der Dromokratie. Geschwindigkeit war zwar immer Teil einer militärischen Logik. So berichtete schon der chinesische Militärstratege Sun-Tsu, dass Schnelligkeit »die Essenz des Krieges«30 sei. Heute aber dehnt sich die militärische Dimension von machtvoller Geschwindigkeit aus und wird zum festen Bestandteil des zivilen dromokratischen Alltages.

Eine emanzipatorische Bewegung kämpft für die Politisierung der Geschwindigkeit. Die Dromokratie ist nicht mehr aufzuhalten. Der einzige Weg zur Selbstbestimmung liegt in der Politisierung der Geschwindigkeit und ihrer Zeiterfahrungen – dies bedingt das Wissen um die Historizität kapitalistischer Strukturen und Widersprüche. Diesem Wissen enthalten ist die Überzeugung, dass eine Perspektive jenseits rationalisierender leerer Zeit und chronopolitischer Machtmechanismen möglich ist.

1Vgl. Knight, Rob: Top 20 most annoying tech problems, The Independent, 26. 03. 2019, <https://www.independent.co.uk/life-style/gadgets-and-tech/techgadget-break-anger-top-problems-survey-a8840781.html>, Stand: 27. 09. 2019.

2Brutlag, Jake: Speed Matters for Google Web Search, Google, 22. 06. 2009, <http://services.google.com/fh/files/blogs/google_delayexp.pdf>. Nicht nachweisbar ist hingegen die oft gemachte Behauptung, Amazon habe berechnet, dass 100 Millisekunden Verzögerung zu einem Rückgang von einem Prozent im Verkauf führen.

3Vgl. Akamai: Online Retail Performance Report, 09. 04. 2017, <https://www.akamai.com/uk/en/about/news/press/2017-press/akamai-releases-spring-2017-state-of-online-retail-performance-report.jsp>, Stand: 27. 09. 2019.

4Vgl. Prenner, Thomas: Drei startet mit 5G-Netz in Linz, 20. 06. 2019, <https://futurezone.at/produkte/drei-startet-mit-5g-netz-in-linz/400528045>, Stand: 27. 09. 2019.

5Schamberg, Jörg: Vodafone: Blinde Skifahrerin fährt Steilhang mit Hilfe von 5G herunter, 14. 06. 2019, <https://www.onlinekosten.de/news/vodafoneblinde-skifahrerin-faehrt-steilhang-mit-hilfe-von-5g-herunter_220008.html>, Stand: 18. 09. 2019.

6Vgl. Capgemini: 5G. Expectations and use-cases for industrial companies, 06. 06. 2019, <https://www.capgemini.com/research/5g-in-industrial-operations>, Stand: 28. 09. 2019.

7Vgl. Bitkom: Großteil der deutschen Industrie plant mit 5G, <https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Grossteil-der-deutschen-Industrieplant-mit-5G>, Stand: 18. 09. 2019.

8Bleich, Holger: Deutsche Industrie setzt auf eigene 5G-Campusnetze, heise online, <https://www.heise.de/newsticker/meldung/Deutsche-Industrie-setzt-auf-eigene-5G-Campusnetze-4403687.html>, Stand: 18. 09. 2019.

9Vgl. Barclays: 5G: A transformative technology, 03. 04. 2019, <https://www.barclayscorporate.com/insights/innovation/5g-a-transformative-technology>, Stand: 26. 09. 2019.

10World Economic Forum: How 5G could speed up global growth, World Economic Forum, <https://www.weforum.org/agenda/2018/01/5g-mobile-speed-global-gdp-growth>, Stand: 18. 09. 2019.

11Vgl. Daum, Timo: Die künstliche Intelligenz des Kapitals, Hamburg 2019, S. 29.

12Vgl. Feustel, Robert: »Am Anfang war die Information«: Digitalisierung als Religion, Berlin 2018.

13Lücke, Hayo: Zu Besuch bei e.Go Mobile: So hilft 5G beim Autobau, inside digital, 19. 06. 2019, <https://www.inside-digital.de/news/zu-besuch-bei-e-go-mobile-so-hilft-5g-beim-autobau>, Stand: 18. 09. 2019.

14Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005; Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt am Main 2013; Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main 2012.

15Vgl. Tomlinson, John: The Culture of Speed: The Coming of Immediacy, London 2007, S. 84.

16Agger, Ben: Time Robbers, Time Rebels: Limits to Fast Capital, in: Hassan, Robert; Purser, Ronald (Hg.): 24/7: Time and temporality in the network society, Stanford 2007, S. 230.

17Vgl. Agger, Ben: Fast capitalism. A critical theory of significance, Urbana 1989.

18Vgl. Luke, Timothy: Scanning Fast Capitalism: Quasipolitan Order and New Social Flowmations, in: Fast Capitalism 1, 01. 01. 2005, S. 82.

19Neben Harvey hat auch Henri Lefebvre immer auf diese Dialektik aufmerksam gemacht: »Einige Menschen beschweren sich aufgrund der Beschleunigung der Zeit, andere aufgrund der Stagnation. Sie haben beide Recht.« (Lefebvre, Henri: The Everyday and Everydayness, in: Yale French Studies (73), 1987, S. 10.)

20Vgl. Sullivan, Oriel; Gershuny, Jonathan: Speed-Up Society? Evidence from the UK 2000 and 2015 Time Use Diary Surveys, in: Sociology 52 (1), 01. 02. 2018, S. 20−38.

21Vgl. Schor, Juliet: The Overworked American: The Unexpected Decline Of Leisure, New York 1993; Sullivan; Gershuny: Speed-Up Society?, 2018, S. 24.

22Vgl. Robinson, John P.; Godbey, Geoffrey: Busyness as Usual, in: Social Research: An International Quarterly 72 (2), 2005, S. 407−426.

23»[…] la combinaison des formes d’ajustements des anticipations et des comportements contradictories des agents individuels aux principes collectifs qui houvernent les modes de produire et les modes de vivre« (Courlet, Claude; Pecqueur, Bernard: Les systèmes industriels localisés en France: un nouveau modèle de développement, in: Lipietz, Alain; Benko, Georges B. (Hg.): Les régions qui gagnent: districts et réseaux: les nouveaux paradigmes de la géographie économique, Paris 1992, S. 83).

24Vgl. Virilio, Paul; Lotringer, Sylvère: Der reine Krieg, Berlin 1984, S. 45.

25Virilio, Paul: Fahren, fahren, fahren …, Berlin 1978, S. 86.

26Rosa: Beschleunigung, 2005, S. 36.

27Der Begriff der kinetischen Utopie wird gemeinhin mit Peter Sloterdijk in Verbindung gebracht. Willi Erzgräber verwendete den Begriff allerdings schon früher, um die Werke von H. G. Wells zu charakterisieren. (Vgl. Erzgräber, Willi: Utopie und Anti-Utopie in der englischen Literatur: Morus, Morris, Wells, Huxley, Orwell, München 1980, S. 110f. Den Hinweis hierzu verdanke ich Idler, Martin: Die Modernisierung der Utopie. Vom Wandel des Neuen Menschen in der politischen Utopie der Neuzeit, Berlin 2007, S. 148.)

28Bänziger, Peter-Paul: Fordistische Körper in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Eine Skizze, in: Body politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 1 (1), 2013, S. 18.

29Klose, Alexander: Rasende Flaneure. Eine Wahrnehmungsgeschichte des Fahrradfahrens, Münster 2003, S. 54.

30Sun-Tsu: Die Kunst des Krieges, Frankfurt 2019, S. 58.

Zur Historisierung der Dromokratie

Als Karl Roßmann, Kafkas Protagonist aus dessen frühfordistischem Roman Der Verschollene, bei seiner Ankunft in New York die Freiheitsstatue erblickt, bleibt er ob der neuen Dimensionen staunend stehen. »›So hoch!‹ sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.«31 Während Karl erstarrt, haben alle anderen in Amerika ankommenden Schiffsreisenden keine Zeit, um sich langsam an die neuen Eindrücke zu gewöhnen. Gleich bei der Ankunft auf dem neuen, modernen Kontinent gilt es, sich in eine ständige Betriebsamkeit zu versetzen. In Amerika herrscht »eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe«32, wie es Kafkas Erzähler mit Blick auf den Hafen New Yorks schildert. Die Synchronisation mit der US-amerikanischen Grundgeschwindigkeit – das heißt an dieser Stelle: die Beschleunigung des eigenen Gangs – ist eine Pflicht der Neuankömmlinge, und wer sich dem verweigert, wird wie Karl kurzerhand durch die Kraft der bewegten Masse ans Geländer gedrängt.

Der zwischen 1911 und 1914 entstandene Roman charakterisiert eine zentrale Eigenschaft kapitalistischer Gesellschaften. Im Drang zur Vernichtung ungenutzter Zeit sowie zur ständigen Bewegung und Beschleunigung werden Langsamkeit und Stillstand zu negativen Eigenschaften. Wer dem Beschleunigungsdruck nicht standhält, gehört zu den VerliererInnen. Karl versucht alles, um erfolgreicher Teilnehmer der temporeichen Welt zu werden. Er besucht die Lagerhallen des Onkels, arbeitet als Liftjunge und landet schließlich in einem auf einer Rennbahn angesiedelten Theater. Fast alles, was Karl erlebt, ist gebrochen durch die Macht der Geschwindigkeit. In den Lagerhallen jagen Menschen ununterbrochen hin und her, als Liftjunge findet Karl Gefallen an der kinetischen Energie und beschleunigt seinen Lift manuell, und der Ausflug auf die Rennbahn endet mit einer Zugfahrt durch Amerika. Trotz dieser Lernphasen vermag sich Karl nie recht anzupassen. Der ständige Druck, die richtige Geschwindigkeit zu finden, verhindert tiefere soziale Beziehungen. Der immer fahrende Verkehr wirkt durchgehend als machtvolle Erscheinung, derer sich der Mensch nicht mehr selbstbestimmt bedienen kann. Und auch das Theater scheint Karl kein gutes Ende zu bescheren – wenn auch der Roman unvollendet abbricht, deutet nichts darauf hin, dass die Rennbahn etwas anderes als die auf Geschwindigkeit getrimmte Gesellschaft zu bieten hat.

1984 verfilmten Jean-Marie Straub und Danièle Huillet Kafkas Roman unter dem Titel Klassenverhältnisse. In Zeiten des politisierten Kinos verstanden die beiden RegisseurInnen Karls Handeln und Notlagen von Beginn weg als Ausdruck gesellschaftlicher (Klassen-)Verhältnisse. Um dies auszustellen, nutzten sie einen Trick. Karls Leid und Anpassungsschwierigkeiten werden sichtbar gemacht, indem sie ihn betont langsam und deutlich sprechen lassen. Auch die Schnitte sind langsam. Karl wirkt dadurch merkwürdig deplatziert. Die Verfremdungseffekte eines filmischen Lehrstücks ermöglichen es, dass die dem Roman enthaltene Auseinandersetzung um das Verhältnis Subjekt und Gesellschaft filmisch umgesetzt werden kann, ohne dass der Film dafür auf rasante Actionszenen zurückgreifen muss. Die Verfolgungsszene, als Karl gegen Ende vor seinen Peinigern flüchtet, besteht beispielsweise aus drei Schnitten. Gehetzt ist die Gesellschaft mit ihrem Repressions- und Leistungsdruck und nicht der Film selbst.

Doch Karls Stocken, die zwar deutlichen, aber doch umständlichen Sätze und die theatralen Szenen wirken 35 Jahre nach dem Erscheinen des Films äußerst unangenehm. In Zeiten rasender Actionfilme sind wir an solche Momente der Langsamkeit nicht gewöhnt. Dadurch werden zwar die Beschleunigungs- und Geschwindigkeitserfahrung der letzten Jahre sichtbar, doch es gibt eine innere Abneigung, den Film länger als fünf Minuten anzuschauen. Heute stören wir uns ab jeder Sekunde, die zu viel vergeht, vor allem dort, wo wir sie medial als nicht angebracht empfinden – das heißt: im Film, am Computer, im Internet oder bei Geräten mit digitalem Interface. Ein Neuankömmling in unserer Welt würde sich wie Karl fühlen, der gerade in Amerika angekommen ist. Gedrängt von der einen umgebenden Geschwindigkeit gibt es nur Anpassung oder Ausschluss. Im Gegensatz zu Kafkas frühfordistischem Roman sind heutige Technologien allerdings ohne eine Mindestgeschwindigkeit gar nicht mehr erlebbar. Ein Kinofilm muss die Bildabfolge in einem bestimmten Tempo abspulen und das Internet benötigt eine angemessene Datengeschwindigkeit, soll eine Webseite in angenehmer Zeit geladen werden. Treten Unterbrechungen oder Verzögerungen ein, verliert die entsprechende Technik ihren Nutzen oder das Produkt wird wie bei Straub und Huillet ungenießbar. Schlimmer noch als im Kino verhält sich die störende Verzögerung in neuesten Technologien, beispielsweise in der virtuellen Realität. Wenn die Verzögerungszeit zwischen Befehl und Ausführung bei einer Virtual-Reality-Brille über 15 Millisekunden liegt, kann eine Übelkeit auftreten, die so genannte ›Virtual Reality Sickness‹. Es gehört zu den zentralen Versprechen neuester Telekommunikationstechnologien, diese Latenz zu minimieren, beispielsweise durch schnellere Datenübertragung oder (so der Zukunftstraum) durch Auslagerung der Hardware, sodass die Rechenleistung nicht mehr auf dem Endgerät, sondern auf großen Servern geschehen kann. Doch was bedeuten diese Veränderungen? Sind es nur einzelne technologische Sprünge, die unser Leben prägen, oder hat sich zwischen Karls Auftritt im bereits beschleunigten New York, Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets Verfilmung und der heutigen Zeit, in der selbst Verzögerungen im Millisekundenbereich störend wirken, nicht etwas Grundlegendes verändert, zum Beispiel unsere Zeitwahrnehmung oder gar die Zeit selbst?

ZEIT UND KAPITALISMUS

»Das wichtigste Ereignis jener Knabenjahre war mein Zusammentreffen mit einer Lokomobile etwa zwölf Kilometer von Detroit, als wir eines Tages zur Stadt fuhren. Ich war damals zwölf Jahre alt.

Das zweitwichtigste Ereignis, das noch in das gleiche Jahr fiel, war das Geschenk einer Uhr.«33

(Henry Ford: Mein Leben und Werk)

Folgt man Henry Fords Worten, dann gibt es seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zwei zentrale, miteinander verknüpfte Entwicklungsmotoren: erstens die Beschleunigung und die damit verbundenen Techniken der Geschwindigkeit, etwa die mit der inneren wie äußeren Landnahme aufs engste verbundene Eisenbahn, und zweitens die mit der Uhr von allen Menschen potenziell messbare Zeit. Dieser zweiten Seite liegt ein komplexes Netz von Ursachen und Wechselwirkungen zugrunde. So finden sich ganz unterschiedliche subjektive, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren, die die messbare Zeit zu einem so wichtigen Gesellschaftsfaktor werden ließen. Als materieller Träger der modernen Zeitwahrnehmung – als »Wahrzeichen des gleichgestellten Empfindens«34, wie es in Paul Gurks Roman Berlin heißt, und »als Macht, die hinter uns lauert«35, wie es in Martin Kessels Roman Herrn Brechers Fiasko beschrieben wird – setzte sich die Uhr nicht nur über eine repressive Wirkung durch (etwa durch die mit Arbeitsverträgen oder durch Sanktionen bei Nichteinhaltung von abgemachten Terminen einhergehende Zeitdisziplin), sondern ebenso als kulturelle Norm, die es als Accessoire zu tragen gilt und die an öffentlichen Plätzen wachsam über den Köpfen der Menschen thront.

Der Macht der Uhr zugrunde liegt eine Entwicklung, die eng mit der kapitalistischen Produktionsweise verknüpft ist. Im Kapitalismus nivelliert sich die Zeit, so Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein, auf »das Niveau des Raumes«36. Dabei wird sie, so Axel Schlote, zur zentralen »ökonomischen Größe«37 und zugleich zum Mechanismus der Unterwerfung. Diese auf den ersten Blick schwer verständliche Formulierung enthält einen einfachen Sachverhalt. Zeit ist durch den Zeiger der Uhr mess- und vergleichbar. Sie ist nicht mehr ›qualifiziert‹, indem sie sich an einer menschlichen Tätigkeit orientiert, sondern von dieser abstrahiert und objektiviert. Mit der Uhr gemessen entspricht eine Stunde einer Stunde, auch wenn ich eine Stunde und 15 Minuten für eine Tätigkeit brauche und jemand anderes nur 45 Minuten. Dadurch wird die Zeit ›entqualifiziert‹ – das heißt: sie fällt zurück auf das messbare Niveau des Raumes. Dennoch ist Zeit keine neutrale Instanz. Die auch ›leere Zeit‹ genannte entqualifizierte Zeit ist eine wichtige Grundbedingung der kapitalistischen Produktion. Dazu eine weitere Grundannahme vorweg: Oberstes Ziel des Kapitalismus ist die Kapitalakkumulation durch die Gewinnung von Mehrwert. Dieser entsteht, indem das Kapital die Ware ›Arbeitskraft‹ erwirbt, deren Verausgabung abstrakter Arbeit wertproduzierend wirkt. Dabei fungiert die durchschnittliche Arbeitszeit als wertbestimmende Größe einer Ware.38 Entsprechend ist das Kapital an einer Rationalisierung der Zeit interessiert, da der Konkurrenz ausgesetzt dem/der einzelnen KapitalbesitzerIn jedes Stück Extramehrwert von Vorteil ist, beispielsweise indem eine Ware in der eigenen Fabrik in kürzerer Zeit produziert wird als bei der Konkurrenz. Als Vergleichswert wird die Zeit zu einer mit der Ökonomie untrennbar verflochtenen Kategorie. Zeit wird zur »Ökonomie der Zeit«, worin sich »schließlich alle Ökonomie auf[löst]«39, wie Marx in den Grundrissen schreibt, weil sie immanenter Bestandteil der Wertproduktion ist.

Entsprechend prägend für den Kapitalismus ist die Unterwerfung der Menschen unter die leere Zeit, handelt es sich dabei doch um einen zentralen Vorgang der modernen Subjektkonstituierung. Die temporale Formung des modernen Subjekts läuft entlang unterschiedlicher Institutionen. Um die neue Phase der Zeitlichkeit in einem ersten Schritt zu internalisieren, sind, wie E. P. Thompson in seiner historischen Studie zur »temporalen Neudisponierung«40 aufgezeigt hat, über mehrere Generationen hinweg unterschiedliche disziplinarisierende Mechanismen zur Synchronisierung notwendig.41 Es entsteht die sogenannte Zeitdisziplin, die dem Menschen gesellschaftliche Rhythmen und Pünktlichkeit eintrichtert. Eine besondere Rolle kommt (vor allem in den frühen Epochen des Kapitalismus) der Arbeitswelt und der Repression zu. Als junge/r Lohnabhängige/r wird das Individuum durch die Abstraktionsbewegung des Marktes ein erstes Mal in unterschiedliche Bestandteile aufgeteilt und in vorgegebene Tagesrhythmen gezwängt. Wer sich dem verweigert, wird als LandstreicherIn eingesperrt und zur Lohnarbeit gezwungen. Später wird die temporale Erziehungsfunktion durch Bildungsinstitutionen verstärkt oder gar abgelöst. Die rigide eingehaltene Aufteilung von Schulstunden in 45-Minuten-Abschnitte und die darin eingelegten Lehrinhalte vermitteln jungen Menschen schon früh die Notwendigkeit von zeitlicher Disziplin: Will man in der kapitalistischen Gesellschaft überleben, muss man einen Inhalt möglichst effektiv in der vorgegebenen Zeit abhandeln. Ist man schneller als die anderen, geht es nach oben, für alle anderen führt der Weg nach unten – freilich handelt es sich dabei um ein Versprechen, das durch die Ökonomisierung der Bildung beständig durchbrochen wird: Wer genügend Geld besitzt, kann sich Nachhilfestunden leisten, und wer in der richtigen Familie geboren wird, findet auch andere Wege nach oben.

An den Grundlagen der leeren Zeit als ökonomische Größe hat sich in den letzten zweihundert Jahren nichts geändert. Ihre Konkretisierung und Wahrnehmung hat sich allerdings erweitert. Im aufkommenden 24/7-Rhythmus des Postfordismus droht beispielsweise der einstige starre Normarbeitstag, der den zeitlichen Alltag prägte, zugunsten flexibilisierter Arbeitszeiten zu verschwinden. Null-Stunden-Verträge, Unterverträge und Temporärarbeit lauten die neuen Standards. Eine Studie aus dem Jahr 2000 befragte 21.505 ArbeiterInnen in 15 europäischen Ländern über standardisierte Arbeitszeiten. Nur 24 Prozent antworteten, dass sie regelmäßig Montag bis Freitag zwischen sieben und acht Uhr am Morgen bis sieben und acht Uhr am Abend arbeiteten.42 Zeitliche Unterschiede lösen sich allerdings nicht einfach in einer global synchronisierten Zeit auf. Vielmehr macht sich der Kapitalismus, so der berechtigte Einwand von Shehzad Nadeem, die Arbitrage verschiedener Zeitzonen zunutze – die ›Zeit-Arbitrage‹ als Ausbeutung der Zeitdiskrepanz zwischen geographisch verschiedenen Arbeitsmärkten zugunsten einer Profitmaximierung.43 Unternehmen nutzen einerseits die verschiedenen regionalen Zeitzonen, um einen globalen 24-Stunden-Ryhthmus zu erreichen. Andererseits forciert die zeitliche Arbitrage die Beschleunigung oder Ausdehnung von Arbeitsprozessen, beispielsweise indem outgesourcte Call-Center-ArbeiterInnen in Indien zu Überstunden gedrängt werden, um den verschiedenen Märkten und ihren Zeitzonen in Europa oder den USA gerecht zu werden. Auch abseits des Arbeitsplatzes verflüchtigen sich individuelle Zeitordnungen. Wo früher lange Zeiträume anvisiert wurden, denkt man nun kürzer. Aus EhepartnerInnen und dem Versprechen ›bis der Tod euch scheidet‹ werden LebensabschnittspartnerInnen. Wechselnde Jobs und lebenslanges Lernen ersetzen die starre Karriereleiter mit Grundausbildung bei einer einzelnen Firma. Produziert und gelebt wird 24/7. Die konstanten Verbindungen durch Mobiltelefon und Internet führen in der Zunahme neuer Geräte, Applikationen und Anforderungen zu einer weiteren Fragmentierung der erlebten Temporalitäten, die wiederum stets von Neuem zeitökonomischen Rationalisierungsprozessen unterworfen werden. Es entsteht eine auf den ersten Blick merkwürdige Situation: Mit der Ökonomisierung zahlreicher Lebensbereiche wächst die Bedeutung der leeren Zeit, während zugleich die erlebte Fragmentierung der Zeit zunimmt.

Diese gegenläufige Entwicklung ist Bestandteil einer Vielzahl temporaler Widersprüche, die unsere Gegenwart prägen.44 Erstens gibt es seit jeher einen Widerspruch zwischen den gesellschaftlich gewachsenen Temporalitäten, beispielsweise jener der biologischen oder soziokulturellen Reproduktion, und der leeren Zeit, die in der Kommodifizierung der Arbeitskraft enthalten ist. Dieser Widerspruch nimmt zu, je mehr Bestandteile der Gesellschaft der Marktlogik unterworfen werden. Zweitens existiert ein Widerspruch zwischen den Temporalitäten der sozialen oder kulturellen Reproduktion und der auf eine möglichst rasche und umfangreiche Wertrealisation ausgelegten Zeitlichkeit des Kapitals. Wenn sich dieses seinen Weg bahnt, interessiert es sich für den kurzfristigen Profit und nicht für bestehende zeitliche Rhythmen, beispielsweise regional unterschiedliche Lebensweisen, Kulturen oder – vermutlich als einfachstes Beispiel – für die Zeiten lokaler Landwirtschaften.45 Drittens gibt es unterschiedliche Akkumulationszeiträume, beispielsweise die kurzen Zeitspannen der Börsen und die langfristigen Investitionszyklen der Industrie. Dieser Widerspruch wird zu einem zentralen Krisenmechanismus der dromokratischen Finanzwirtschaft, die Profit immer schneller realisieren will.46 Viertens existiert ein Widerspruch zwischen der beschleunigten Zirkulation des Kapitals, die aus der Verkürzung des Produktionszyklus zwischen Design und Endprodukt resultiert, und den langfristigen Infrastrukturbedingungen, die solche Verkürzungen benötigen. 5G zeigt, wie viel langfristige Investitionen notwendig sind, um die Zeiträume der Produktion kurzfristig zu beschleunigen. Fünftens kennt das Kapital selbst widersprüchliche Temporalitäten, die mitunter in Spannungen zueinander geraten können. Während die Zeit der Produktion linear verläuft, funktionieren seine Transformationen zyklisch. Zur Bedeutung dieses letzten Widerspruchs später mehr.

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9783854767077
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