Читать книгу: «Wie die Milch aus dem Schaf kommt», страница 7

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«Ich legte die Scheibe mit den patriotischen Hymnen auf den Plattenspieler und befahl Marielouise, das Thurgauerlied zu singen: Oh Thurgau, meine Heimat! Marielouise starrte auf ihre Füsse und sang leise mit. Sie wirkte beschämt, es war ihr offenbar äusserst peinlich. Aber ich hegte eine grosse Liebe für diesen Landstrich. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob wir jemals da hingehörten.

Als ich elf Jahre alt war, wurde meiner Mutter mitgeteilt, es wäre besser, sie würde das Dorf verlassen. Sonst sähe man sich gezwungen, ihr die Kinder wegzunehmen. Wir sind eine Weile herumgezogen. Später liessen wir uns in Zürich nieder.

Selma wollte ich nicht zwingen, dieses Lied zu singen. Aber ich bestand auf der thurgauischen Aussprache gewisser Wörter: Böm, Tülle, Guggumere und Bülle anstatt Baum, Kuchen, Gurke und Zwiebel. Joel verspottete mich, warf mir übertriebene Sentimentalität vor und trällerte: Guggumeretülle uf dä Bülleböm! Und Selma konnte sich nicht beherrschen und lachte hemmungslos über mich: Gurkenkuchen auf Zwiebelbäumen!

Sie sind Kinder einer anderen Zeit.» Notat von Pauline Einzig

irina tomczuk, kellnerin im restaurant goldene rose, 26 jahre, lebt in lemberg: Die jungen Kellner tragen künstliche Schläfenlocken, die hübschen Kellnerinnen billige Perücken, an den Wänden gefälschte Fresken von Bruno Schulz, die Bezahlung muss ausgehandelt werden: Wir sind in einem Basar.

Eine kleine Frau trägt Berge von Tellern und Gläsern herum, begrüsst jeden mit einem herzlichen Lächeln.

Wärme und Gerüche. Die kleinen Lampen kleckern gelbe Pfützen. Orchestriert von Klezmermusik wird lauthals Essen bestellt: Tzimmes, Hummus und Borschtsch.

Die rundliche Kellnerin Irina setzt sich zu uns an den Tisch: Das Wandern der Augen an Fresken, an Fenstern, an Tischen entlang auf der schwierigen Suche nach der einfachen Antwort. Die Lippen in der Sahne, die Haarsträhne in der Schokolade.

Ludmila, meine Übersetzerin, fährt sich aufgekratzt durchs Haar. Und hin und wieder der jungen Frau über den Mund.

Irina Tomczuk: «Meine Familie kommt aus den Bergen in der Nähe der ungarischen Grenze. In Transkarpatien sprechen wir einen besonderen Dialekt. Mein Grossvater war sehr patriotisch und sagte: Vergiss nie, dass du Ukrainerin bist! Eine meiner Grossmütter kommt jedoch aus dem russischen Süden, von der Krim.

Warum ich in diesem jüdischen Restaurant arbeite? Die Juden sind schlau und tüchtig. Sie beherrschen die Kunst, Geld zu verdienen und zu vermehren. Also wollte ich diesen Job, um den Umgang mit Geld zu lernen. Wir haben keine festen Preise, wir feilschen mit den Gästen um die Bezahlung, eine Art Basar, es ist zwar hart, mit fremden Leuten zu verhandeln, aber das will ich hier lernen.

Ja, ja, ich weiss, das ist keine jüdische Tradition, es ist einfach ein Spiel, das uns Spass macht, wir schaffen eine lustige Stimmung für unsere Gäste.

In der Westukraine reden die Leute schlecht über die Juden. Und es ist meine Aufgabe, die Gäste über die jüdische Kultur aufzuklären. Ich erzähle Legenden, informiere über Traditionen in der Synagoge und unterhalte mich über Kunst und Kultur. Zum Beispiel über Bruno Schulz. Seine Fresken sind hier an den Wänden zu sehen. Sie sind uralt und sehr kostbar.»

Ludmila nähert sich meinem Ohr und flüstert, die Lemberger Juden seien alle von der Krim gekommen. Es gebe so viele Familien mit jüdischem Hintergrund, die sich weigerten, darüber zu sprechen. Nicht zu Unrecht, denn Polen und die Ukraine würden als die Wiege des Antisemitismus bezeichnet. Kein Wunder also, wenn die Leute ihre wahre Herkunft verschwiegen.

Und in den Familien, in denen jüdischer Hintergrund verleugnet würde, sei der ukrainische Nationalismus besonders ausgeprägt. Den Kindern hämmere man ein, gute und patriotische Ukrainer zu sein. Diese Irina sei ein exemplarisches Beispiel für eine junge weibliche Generation: «Sie sind gewandt, klug und schön, sie machen gute Studienabschlüsse, beherrschen Fremdsprachen, ukrainisches Kunsthandwerk, die Tänze, die Gesänge und sind Patriotinnen. Und diese Irina hat eine jüdische Grossmutter von der Krim. Das ist typisch. Das ist so typisch.»

Doch Irina schüttelt heftig den Kopf, ihr Blick wird hart und sie hebt abwehrend die Hände. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Nur immer wieder: «Njet! Njet! Njet!»

Und Ludmila erzählt die Geschichte von Robert aus Arizona, der nach Lemberg gezogen ist und sich nun Goran nennt.

Goran fand in Sambir seine verlorene Familie wieder: eine uralte Stiefmutter, drei Geschwister, Neffen und Nichten. Er bezahlt ihnen das Essen, die Kleidung und die Ausbildungen.

Während des Zweiten Weltkriegs liess Gorans Vater Frau und Kinder in Sambir zurück und flüchtete über Deutschland und Frankreich in die USA. In Arizona heiratete er eine Amerikanerin und bekam mit ihr zwei Söhne. Einer von ihnen war Robert – oder eben: Goran. Der Vater blieb jedoch zeitlebens ein ukrainischer Nationalist. Er verachtete die Armenier, die Tataren, die Georgier, die Polen und natürlich die Russen. Im Besonderen hasste er die Juden, da diese für die Polen gearbeitet und mit den Russen kollaboriert hätten. Denen war alles recht. Hauptsache, es schaute Geld heraus.

Und er hielt an den Bräuchen des unterdrückten ruthenischen Bauernvolks fest: Am achten Tag nach der Geburt liess er seine zwei Söhne beschneiden – wie das in Sambir seit jeher gemacht worden war.

Ludmilas Einwand, in Sambir hätte der jüdische Bevölkerungsanteil über sechzig Prozent betragen und nur in jüdischen Familien wären die Söhne beschnitten worden, weist Goran starrsinnig zurück.

«Ja, ich lebe im Bewusstsein meiner jüdischen Herkunft. Ich empfinde ein verrücktes, ja ganz starkes Gefühl der Zugehörigkeit. Das spielt sich auf der emotionalen Ebene ab und geht unaussprechlich tief. Mein Innerstes gehört den Juden. Aber ich kann darüber nicht sprechen.» Notat von Pauline Einzig

museum von hesed-arieh jewish home: Eine nackte Frau auf einem zerwühlten Bett. Das weisse Pferd leckt gierig ihren Rücken.

Bruno Schulz: Geflügelt von zwei ausgehöhlten, abstehenden Ohren.

Joseph Roth: Vom Alkohol aufgelöstes Gesicht.

Pferdegespanne und Männer auf einem Marktplatz: Akkordeon, Geige und Laute.

Kleine, magere Knaben: Bücher.

Eine Remington 5 mit hebräischen Buchstaben.

Geschirr für Pessach mit Anweisungen in Polnisch, Deutsch, Russisch und Hebräisch.

Singer- und Kayser-Nähmaschinen. Bügeleisen mit Kohle und Davidstern.

Jerusalem.

Und Exekutionen.

Immer wieder diese Exekutionen.

Hesed-Arieh Jewish Home: home care, curators service, medical program, rehabilitation equipment loan, meals, volunteers service, region, winter relief, sos, club, bulletin of hesed-arieh, day center, beiteinu children’s programs: mazl tov, ken eladim, lev group.

rael yuter, direktorin von hesed-arieh jewish home, 46 jahre, lebt in lemberg: Dämmrige Ruhe. Schwere Möbel in der Umarmung flauschiger Teppiche. Rael Yuter ist klein und energisch. Nackte Füsse in aufsehenerregenden Schuhen: gefährlich hohe Plateausohlen. Ein aufgedunsenes Gesicht unter einer unglaublichen Lockenfülle. Die Haut von einem feuchten Film überzogen. Sie fächelt sich Luft zu.

Sie lacht.

Ein mageres Mädchen bringt hauchdünne, mit lauwarmem Kaffee gefüllte Porzellantassen.

Rael Yuter: «Meine russische Mutter besass keinerlei Beziehung zu den jüdischen Traditionen. Mein ukrainischer Vater hingegen brachte an Pessach Mazzen nach Hause, obwohl es verboten war – Freiwillige buken sie heimlich in ihren Wohnungen und verteilten sie über illegale Kanäle. An Schabbat zündete er die Kerzen an und sprach den Kiddusch.

Eine Schwester meines Vaters war nach Israel ausgewandert. Nach ihrem Tod flog ich zur Testamentseröffnung nach Tel Aviv. Als wir die Dokumente öffneten, fanden wir einen Brief in russischer Sprache mit ganz vielen Fotos aus meiner Kindheit, sorgfältig und chronologisch geordnet: Liebe Rael, ich wartete auf dich. Ich wartete auf dich, nachdem du deine Ausbildung abgeschlossen hattest, aber du kamst nicht, ich wartete auf dich, nachdem du geheiratet hattest, aber du kamst nicht, ich wartete auf dich, nachdem du dein Baby bekommen hattest, aber du kamst nicht. Nun sterbe ich und kann nicht länger hoffen.

Meine Tante hat ihr Vermögen – 900.000 Dollar, zwei Häuser, zwei Zitrusplantagen und ein Kleidergeschäft – einem Kinderheim für Waisen aus dem Zweiten Weltkrieg vermacht! Und das im Jahr 1994!»

Rael lacht fröhlich.

Rael Yuter: «Im selben Jahr verliess ich meinen Mann und stand mit zwei Kindern auf der Strasse. Glücklicherweise bekam ich das Angebot, für Hesed-Arieh Jewish Home zu arbeiten.

In diesem Umfeld regte sich meine jüdische Identität und ich erwarb mir ein tieferes Verständnis für meine Wurzeln. Ich wuchs allmählich in die Traditionen hinein – eine sanfte Bewegung, eine behutsame Annäherung. Nun zünde ich an Schabbat die Kerzen an und spreche den Kiddusch. Zu Rosch Haschana und Jom Kippur gehe ich in die Synagoge.

Während der ersten zwei Jahre setzten die Bewohner dieses Hauses alle Hebel in Bewegung, um uns rauszuwerfen. Im Hof untersagten sie ihren Kindern, mit unseren Kindern zu spielen, unsere Grossmütter durften sich nicht auf die Bänke zu den anderen setzen. Ich fragte: Warum? Wir leben in derselben Stadt! Wir kümmern uns um Arme und Bedürftige. Sie schrien: Gebt ihr euer Geld auch den Armen, die in den Kirchen sitzen? Gebt ihr eure Medikamente und Kühlschränke auch den ukrainischen Babuschkas? Verteilt ihr Essen in den Dörfern in den Karpaten? Nein! Ihr schaut nur für euch! Und ihr habt ein besseres Leben.

Eine staatliche Rente beträgt knapp hundert Dollar. Davon müssen Steuern, die Miete, Medizin, Kleider und der tägliche Bedarf an Zahnpasta, Seife, Shampoo und was man sonst noch so braucht, bezahlt werden. Viele Rentner ernähren sich von Buchweizengrütze und Milch. Sie haben nichts. Absolut nichts! Keine staatliche Unterstützung, keine Elektrizität, kein fliessend Wasser, keine medizinische Versorgung – in den Spitälern muss jeder die Apparate, die Anästhesie, die Operation, die Schmerzmittel selber bezahlen. Die Leute sind allein. Da haben sie ein ganzes Leben gelebt und im Moment der Not sind sie allein.

In den Dörfern haben sie eigene Gärten mit Gemüse und Früchten. Das hilft jedoch nur so lange, wie sie den Garten bestellen können.

Wir pflegen die alten Leute, die oft nicht in der Lage sind, sich selber anzukleiden oder auf die Toilette zu gehen, wir putzen, kochen, waschen, das ist schwere körperliche Arbeit.

Tag für Tag bekommen wir Anrufe. Eine Geburt, eine Bar Mitzwa, eine Hochzeit, eine Bestattung. Wir helfen Eltern, ihre Kinder zu versorgen, jungen Leuten, ihre Studien fortzusetzen, wir organisieren Schabbat, Rosch Haschana, Jom Kippur und Pessach, wir feiern zusammen, wir sind eine grosse Familie und das ist unser Glück.»

Liebe Janika

Sami meldet sich nicht. Beantwortet keine Briefe. Schreibt keine SMS. Geht nicht ans Telefon.

Das Gefühl der Verlassenheit erfasst mich wie ein harmloser Grippevirus. Und könnte so leicht auskuriert werden. Ich müsste mich nur mit Tee ins Bett legen. Und wäre am nächsten Morgen wieder gesund.

Und ja, diese Dialektik der gegenseitigen Störung. Es gibt sie. Aber das besagt rein gar nichts. Und sie soll mich nicht aufhalten. Es ist wie mit den Verletzungen während eines Fussballspiels: Wälze dich im Gras, warte, bis der Schmerz nachlässt, schütte dir Wasser ins Gesicht, steh auf, humple und spiel weiter. (Hab ich von Joel gelernt. Und von Diogo. Sie lieben beide Benfica Lissabon.)

Nicht an Sami denken.

Stattdessen lenke ich mich ab, lass mich von Ludmila herumführen. Treffe die Kellnerin im Restaurant Goldene Rose und die Direktorin der jüdischen Wohlfahrt. Auch habe ich den Leiter des Instituts für osteuropäische Geschichte kennengelernt und einen Anwalt aus Toronto, der den jüdischen Friedhof in Sambir retten will. Ich befrage sie. Und weiss nicht, was daraus werden soll.

Und Paulines Kiste verhält sich wie ein Orakel. Sie enthält Geheimnisse, die ich für meine Zukunft entschlüsseln will. Ich schliesse die Augen, ziehe ein Notat von Pauline raus und laufe los, um jemanden zu befragen.

Ich taste mich wie eine Blinde voran, die auf Geräusche reagiert, die sie noch nicht einordnen kann.

Das Wichtigste ist: nicht denken.

Nicht an Sami denken.

Die Füsse gekreuzt, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen lag er auf dem Sofa in seiner Küche und hielt eine seiner typischen Reden. Jedes Wort eine Absicht, jeder Satz ein Wunsch – und so reihte er Befehl an Befehl, ja spuckte sie geradezu aus: die Hütte mit Feuerstelle und ohne fliessendes Wasser am Fuss der libanesischen Berge, am Rand der Zedernwälder, Traktor, Lastwagen, Motorrad, Hühner, Gockel, Eier, Schafe, Schafsböcke, Lämmer, Pferde, Fohlen.

Tomaten, Auberginen, Gurken, Pflaumen, Kirschen, Mandeln und Mandarinen baue man selber an. Bohnen, Öl, Salz, Reis, Kichererbsen, Brennholz, Benzin und Kleider hingegen müsse man kaufen.

Und in dieser Hütte gäbe es genug Platz für mich und meinen Laptop und manchmal ein Stückchen Freiheit für einige Wochen Tel Aviv oder Zürich, über Zypern oder Beirut. Und er sässe am Feuer und würde nichts tun, nur warten, auf mich warten, mit strahlend blauen Augen – wie Bergseen – ins fluoreszierende Gletschereis unter hellem Winterhimmel schauen und warten.

Das Dorf liegt in der Nähe der israelischen Grenze auf den Golanhöhen, am Fuss des Bergs Hermon, hat Sami gesagt. Auf der Landkarte liegt es jedoch in der Beeka-Ebene. Weit vom Golan und dem Berg Hermon entfernt.

Beirut ist weit, das Gebirge hoch und der Fluss, der den Namen Hundefluss trägt, wild und unpassierbar.

Das war sein Plan für unsere Zukunft.

Für Sami war das Dorf die Welt. Die von der syrischen, der libanesischen und der israelischen Armee abwechselnd überrannt und zerstört wurde. Später marschierte die schiitische Hisbollah-Miliz in die Dörfer ein, beschoss die Häuser, verwüstete die Gärten und blieb. Sie gab sich als Wohltäter aus und drückte den kriegsmüden und hungrigen Menschen Geld in die Hand und schrie über die Dorfplätze hinweg: Baut eure Häuser! Bepflanzt eure Gärten! Bestellt eure Felder! Was braucht ihr noch? Strassen? Wasser? Elektrizität? Schulen? Spitäler? Ihr bekommt alles, was euer Herz begehrt! So unterwarf die Hisbollah-Miliz, die Partei Gottes, die besitzlose, mit Angst und Hass angefüllte schiitische Bergbevölkerung in den Zedernwäldern und die Talbewohner der Beeka-Ebene. In der Gemüse, Getreide, Tabak und Wein im Überfluss wächst – und der rote Libanese, das weltweit beste Cannabis. Jeder Bauer baut ihn an, um den Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen: den verbotenen roten Libanesen.

Erste Version einer Geschichte: Sami war bereits in Beirut und studierte Mathematik. Da erfasste ihn eines Tages eine unerklärliche Angst. Er rief seine Mutter an, sie brach in Tränen aus, schluchzte und war kaum in der Lage zu sprechen: «Der kleine Bruder … Eine Bombe … Der kleine Bruder tot … Eine Bombe … Der kleine Bruder in Stücke gerissen … Eine Bombe … Der Vater im Krankenhaus … Der Vater schwer verletzt …»

Sami hatte Monate zuvor sich mit einem Cousin in den Gassen des Dorfes herumgetrieben. Da lief der Sohn der Nachbarn, ein Offizier der christlichen Phalangisten, vorbei, blieb stehen und baute sich breitbeinig und grinsend vor den zwei Jungs auf.

Ein Schuss löste sich – Stille.

Sami beugte sich über den toten Mann und wunderte sich über das kleine Loch in der Stirn.

Wenige Wochen nachdem der kleine Bruder durch die Rache der christlichen Nachbarn ums Leben gekommen war, bekam Sami ein Stipendium der französischen Regierung und flog nach Grenoble, in die Stadt, die zwischen den Tannenwäldern der Alpen und den Lavendelbüschen des Zentralmassivs liegt – und erreichte schliesslich Marseille.

Zweite Version: Syrische Soldaten zerrten den kleinen Bruder vom Traktor und bestiegen johlend das Gefährt. Sie hatten das Dorf besetzt und die Felder gestürmt.

Da sie jedoch nicht wussten, wie man einen Traktor bedient, verloren sie die Kontrolle und überrollten den damals gerade mal fünfzehn Jahre alten Jungen. Sie sprangen vom Gefährt, liessen Sami mit seinem toten Bruder zurück und beschuldigten ihn, den Traktor gefahren zu haben.

Dritte Version: «Er oder wir. Seine Familie oder unsere Familie», wiederholte Sami mehrmals und versuchte mir zu erklären, warum es notwendig gewesen war, den phalangistischen Offizier, den Sohn der Nachbarn, zu töten.

Und ich, die immer wieder fragen wollte: «Hast du geschossen? Ist es nicht so gewesen? Du hast doch geschossen?»

Und: «Bist du gefahren? Ist es nicht so gewesen? Du bist doch den Traktor gefahren?»

Meine Handflächen waren nass und mein Herz schlug im Hals, obwohl keine Gefahr bestand, einer unerträglichen Wahrheit begegnen zu müssen. Denn ich wusste um seine Fähigkeit zur Lüge.

Ja, Sami kann lügen! Mit seinem unfassbaren Leiden lullt er mich behutsam ein. Bis ich schlussendlich nicht mehr weiss, ob es mein Gefühl ist oder mein Gegenüber, das mich trügt.

Als wir zum ersten Mal in Samis Wohnung Pittabrot und Hummus assen und Rotwein tranken, fühlte ich mich abgestossen. Mit den Fingern stopfte er das Essen hastig in sich rein, kaute lange und sprach gleichzeitig, und seine Hände, die bereits die nächste Portion festhielten, fuchtelten vor meiner Nase herum. Später bemerkte ich seine disziplinierte Mässigkeit. Denn er ass nie zu viel. Nahm aber in regelmässigen Abständen kleine Happen zu sich.

Ich jedoch wurde unmässig. Wollte ununterbrochen in seinen Körper hineinkriechen, mich in ihm auflösen und vollständig verschwinden.

Und so konnte ich nicht mehr arbeiten, nicht mehr kochen, meine Wohnung nicht mehr putzen, das Kind nicht versorgen, und wenn meine Freunde mich ansprachen, fiel mir nichts ein, leeres Gehirn, leeres Grinsen, leeres Geschwätz.

Das Leben bündelte sich in dieser einen Sekunde, die es brauchte, die Arme um einen anderen Körper zu schlingen. Ja, meine Welt verkleinerte sich auf seine Hände. Seinen Bauch. Seine Beine. Seine Augen. Seine Lippen. Seinen Schwanz.

Nie hatte mich jemand so gehalten. Nie. Jemand so geliebt. Nie. Es gab keinen Anfang und kein Ende. Kein Aussen und kein Innen. Kein Ich und kein Du.

Deine schroffe Antwort auf meine Briefe: «Wenn diese Liebe darüber Auskunft gibt, wer du in deinem Innersten bist, dann habe ich mich in dir getäuscht. Ich will mich aber nicht täuschen. Darum – lass es! Es gibt nichts Schrecklicheres als diese Art der Abhängigkeit.»

Es gäbe Heterosexuelle, Homosexuelle, Transsexuelle und solche, die unerreichbare Träume fickten. Hast du noch hinzugefügt.

Ja, die Unerreichbaren. Sie begehren mich. Aber sie wollen mich nicht. Das heizt die Leidenschaft an – und die Liebe. Und es schützt mich vor den Enttäuschungen des Alltags und vor meiner Neigung, mich den Wünschen des anderen zu unterwerfen, um seine Liebe nicht zu verlieren.

Der Verlustschmerz fährt jedoch so richtig ein, wenn ich meine eigene Rolle erkenne. Ich bin es, die ihn nicht will. Ich bin es, die nur einer begrenzten, ausgeliehenen Liebe gewachsen ist. Ich miete mir dieses Liebeshaus für eine gewisse Zeit, weil ich das Gefühl brauche, jederzeit ausziehen zu können.

Warum kannst du das nicht verstehen?

Heute. Früh. Sieben Uhr. Im Hinterhof meiner Wohnung herrscht Ruhe. Nachdem Jugendliche, die nun ihr letztes Dosenbier trinken und eine der rostigen Schaukeln bis an ihre Grenzen zum Schwingen bringen, die Nacht durchgefeiert haben.

Auf dem Balkon, die Füsse auf der Brüstung, trinke ich Weisswein aus dem kleinen Supermarkt in der Hrnaluka, löffle Tomaten mit Zwiebeln und Dill und rauche. Starre auf die gegenüberliegenden Häuser, den kleinen Balkon, auf dem ich immer wieder dieselbe junge Frau sehe – das luftige Stofffetzchen an ihrem Körper bauscht sich im Wind.

Trotz der frühen Stunde und der kühlen Luft rinnt mir der Schweiss aus den Achselhöhlen und mir ist übel. Meine Bluse ist falsch geknöpft. Es ist diese Bluse, die du so magst: cyanblau mit lila Blüten und gelben Staubblättern – weisst du, dass die Schönheit der Blumen nur dem Zweck der sexuellen Vermehrung dient?

Ich knöpfe die ganze Reihe auf und wieder zu, einer der runden Kupferknöpfe fällt ab, so hab ich was zum Nesteln und Spielen und gleich fühle ich mich besser.

Der Himmel ist von rosa und glutroten Schlieren durchzogen und mit durcheinanderschwirrenden Schwalben bestückt. Die Morgensonne kitzelt frische Gerüche aus den Dingen. Die Pflanzen räkeln sich und furzen ins Universum. Der Wind vögelt die Bäume. Ich würde dir so gern diese Schwalben zeigen. Ihre Schwärme sind vibrierende Atome und bauen den Himmel.

Und ich vermisse Joel.

Wie er über den heissen Asphalt hüpfte, sich mit den schmutzigen Fusssohlen abstiess und jauchzte. Joel, der blass, mit Gänsehaut und blauen Lippen aus dem Wasser lief und sich bibbernd und beglückt in das warme Tuch wickeln liess. Das hungrige, ja gierige, tierische Schlingen und Verdauen von ausgespielten, ausgetobten, ausgewässerten, ausgesandeten Kindern. Wie er auf meinem Schoss immer schwerer wurde. Vollgesogen mit Sonne und Luft.

«Mama», sagte er leise. «Mama.» Und schlief ein.

Sami will mit mir zusammen in den Libanon ziehen. Seine Mutter allerdings hat für ihn eine junge Braut gefunden. Und sie besteht auf der Hochzeit. Für Sami ist das überhaupt kein Problem. Eine Ehefrau. Und eine Geliebte.

So ist das Leben.

Ich jedoch würde niemals eine andere Frau an seiner Seite akzeptieren und hoffe auf seine Einsicht, auf seine Vernunft und sage: Nein! Kommt nicht in Frage. Du heiratest keine andere.

Erste Version: Ich ziehe mit Joel zu Diogo. Zweite Version: Ich fahre mit Sami in den Libanon, ins Beeka-Tal, ich setze mich neben der jungen Braut ins Nest seiner Familie, in den grossen Garten seiner Mutter, Kirsch- und Mandelbäume, Gurken und Auberginen, Eierfrucht, hier sagen sie: Eierfrucht!

Dritte Version: Ich fliege nach Valparaiso.

Ich hoffe sowohl auf Samis wie auch auf Diogos Einlenken. Ich kämpfe um sie beide.

Was ist mit mir los? Warum bin ich so rücksichtslos?

Liebste Janika. Dein Selmachen

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