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Lieber Diogo

Kaufe mir heissen Kaffee. Nestlé mit Milch. Im Lidl besorge ich Brot, Käse, Tomaten, spanisches Mineralwasser und südafrikanischen Wein. Und ein Cornetto.

Das Cornetto aus Portugal. Du hast es geliebt.

Vom netten Kellner, der auch die Rezeption bedient, bekomme ich Messer, Gabel und ein Glas. Zurück im Zimmer beginne ich zu schreiben.

Deine Vergangenheit liegt hinter dir. Meine breitet sich soeben vor mir aus. Habe ich sie betreten und durchschritten, kann ich sie auch wieder verlassen. Unser beider Leben sind vom Verschwinden geprägt, also solltest du mich verstehen.

Und warum schreibst du, meine Briefe würden dich verunsichern?

Du sagst, ich würde dich bedrängen?

Ah. In der Aufzählung der Dinge, die du in Portugal verlassen hattest, ging etwas vergessen. Deine Mutter erzählte es mir in der Küche. Den Ziegenbraten hatte sie gerade in den Ofen geschoben. Geblieben ist mir ein Bild: die schmalen Lichtstreifen, die durch die Lamellen der Jalousien sickern. Das Kichern deiner Mutter, als sie, wegen der Rufe deiner Tante notdürftig in ein Tuch gewickelt, zum Fenster läuft und das Tuch von ihr abgleitet, weil sie die Jalousien mit beiden Händen aufstösst. Sie steht da, nackt, lacht und lacht, schaut dir selbstvergessen in die Augen, steigt aus dem Tuch, das wie ein Nest am Boden liegt, und beugt sich, die Arme über der Brust verschränkt, vorsichtig aus dem Fenster, gegenüber zeichnet sich das Gesicht des Nachbarn ab, der ebenfalls aus dem Fenster, aber nicht hinunter auf die Strasse, sondern zu deiner nackten Mutter starrt. Die Fassaden der hohen Häuser sind schwarz, dazwischen gleissender Himmelsfleck.

Damals, während eurer Flucht, in dieser Raststätte in Clermont-Ferrand, erkanntest du die Macht, die andere Menschen über dein Leben haben. Und die Faust des Verlusts traf dich mit voller Wucht.

Auch ich enttäuschte dich. Und ich raubte dir die Aussicht auf eine Familie und nahm dir dein Baby.

Es war nicht nur wegen Pauline. Auch wegen dir. Du warst so angespannt und zerrissen. Cholerisch. Du hattest diese Sehnsucht, an der Hand genommen und geführt zu werden. Und gleichzeitig diese Angst, weil einem Mann diese Art der Schwäche nicht zusteht.

Aber nun fühle ich eine grosse Kraft. Will mich in deine Arme wühlen, mit dir tanzen und dir zeigen, wohin unser Spiel führt. Ja, wir spielen. Mal sagst du, was wir tun. Und dann wieder ich. Wäre das nicht schön?

Ich stelle mir vor, wie Joel dich beim Kochen beobachtet. Er mag es, wenn du angebratenes Fleisch beim Wenden in die Luft wirfst. Deine Spässe treibst. Ich stell mir vor, wie ihr am Tisch sitzt, Joel mit vorgetäuschter Gleichgültigkeit und du mit deiner Fürsorge, die jeden zwingt, dich zu beachten. Das Licht ist gedämpft, die Wärme hüllt euch ein.

Ich erinnere mich an deinen Spott. Ich würde mit grellem Modeschmuck meine mangelnde Körpergrösse kompensieren. Und um einen Irrtum auszuschliessen, hast du dich standhaft geweigert, mir Schmuck zu kaufen.

Heute Nacht breche ich auf. Ich weiss allerdings nicht, ob es eine Verbindung in die Ukraine gibt. Der Grenzübergang sei zu kompliziert und die Zahl der Fahrgäste zu klein – sagt der nette Kellner an der Rezeption.

Und fährt dennoch ein Zug von Košice nach Lemberg, empfinde ich es als persönlichen Sieg. Wie albern.

Deine Selma

26. Juli. Košice – Lemberg

Sami, mon cher

Bin heute Morgen aus der Dusche gestiegen. Ein grosses Tuch umgenommen. Die Sehnsucht abgewehrt. Bemühe mich, die Gedanken und Gefühle an die langsamen Bewegungen anzupassen, mit denen ich meinen Körper abtrockne, einöle und frisch einkleide.

Setze mich auf die schmutzigen Stufen der Bahnhofstreppe in eKošice und warte auf den Zug. Ich sehne mich danach, mit dir zusammen in den Reiseführern zu fleddern. Du liebst es, langweilige Sehenswürdigkeiten anzuschauen: «Oh, wie schön! Oh, wie schön», wiederholst du angesichts einer touristischen Attraktion. Und danach? Im Strassencafé sitzen. Schweigen. Zeit verstreichen lassen. Leute beobachten, mit denen dich nichts verbindet. Hauptsache: Du bleibst unberührt!

Mit dir würde ich auch das tun.

Du magst es, morgens das Fenster aufzureissen, wenn draussen schönes Wetter ist und die Menschen, Tiere und Pflanzen sich mit frischer Luft vollsaugen, du magst es, wenn ich deinen Monologen aufmerksam zuhöre oder deine sanften Schmeicheleien als Aufforderung zur Fügsamkeit verstehe, ich mag es, mit Regen im Ohr allmählich aufzuwachen, ich mag die warme Kaffeetasse, die du mir ans Bett bringst, ich mag es, mit dir zu kämpfen und zu streiten, ich will mich durch dich herausgefordert fühlen, spielen, immerzu spielen, du hingegen willst dich der Faulheit hingeben, Ruhe, immerzu Ruhe – Bewegung ist für dich lediglich ein Mittel, um den nächsten Schlafplatz zu erreichen –, ich liebe Wasser und nackte Körper und du liebst Strassen und Fahrräder und hasst es, wenn ich mich auf Treppenstufen setze, auf den Bordstein oder auf den nackten Boden.

Ein kindlicher Tritt in den erwachsenen Anstandsarsch – ein harmloses Stück Freiheit. Ja, Sami, mon cher, ich bin 35 Jahre alt, aber meine Hose ist schmutzig.

Ich ging durch die menschenleeren Strassen, liess mich treiben, versuchte die Geschwindigkeit meiner Schritte mit meiner Wut in Übereinstimmung zu bringen – unter Kastanienbäumen und ihren mit Saft gefüllten, platzenden Dolden. Es roch frisch und würzig. Vögel trällerten und sangen.

In der Morgendämmerung war ich aus deinem Bett gestiegen. Leise, du stelltest dich schlafend, und ich schlich mit den Schuhen in den Händen durch deine Wohnung, schloss die Tür, weil ich die Enge des Betts und der Umarmung und all diese ungelösten Spannungen nicht mehr ertrug und doch so sehr hoffte, nach meinem langen Spaziergang durch die Stadt auf der Wiese vor meiner Haustür deinen kleinen, dösenden Körper vorzufinden, deine wachen Blicke unter halbgeschlossenen Lidern.

Müde bist du, zerstritten mit dir und der Welt, und doch besitzt du die Fähigkeit, stundenlang gelassen zu warten.

Ich machte mir nichts vor. Und doch lief ich Umwege durch die Stadt, um dir genügend Zeit zu geben, zu mir zu fahren und dich in die Wiese zu legen.

Nacht. Der Himmel noch hell, das Land farblos. Tädäm. Tädäm. Tädäm. In hellen Tonfolgen: Tädäm. Der Zug fährt langsam. Ich höre Musik. An Pierlé. Songwriterin aus Belgien. Würde dir gefallen. Kehlige Stimme, die in höchste Höhen springt.

Die schwarze Hannah, der schweigsame Jankel, Ossip und Ruthchen fuhren ebenfalls durch die Nacht. Im Kopf Musik. Pferd und Wagen. Eine andere Musik als diejenige, die ich höre, «kiss me, kiss me … all my love comes to me …»

Es war stürmisch. Festhalten. Die Hände schmerzten. Kälte frass sich in Rücken und Bauch. Die sumpfige Strasse war eine Folter. Hufe knallten auf Steine. Räder sprangen. Übelkeit.

Ganz nahe bei sich sein. In diesem Körper, der alte Zeiten aufbewahrt und in die Gegenwart holt, «I need protection …»

Das Licht fällt grell aus dem Zug auf die heftig schwankenden Bäume. Sind sie gut verwurzelt, im Geäst aber biegsam und weich, überleben sie Stürme und Unwetter, Trockenheit und Kälte, «so you walk thousand of miles …»

Das Davor war Erinnerung, das Danach ein Traum, die Gegenwart Reise, Durchgang, Bewegung, «true love is to need …»

Ich tanke nur Empfindungen. Ich sehe Paulines präzise Bewegungen, mit denen sie an den Wasserhähnen dreht, um die richtige Wärme zu bekommen. Und so fühlt es sich an: Wasser kalt oder heiss einstellen. Es gibt Temperaturen im Körper, die falsches Leben anzeigen, und solche, die gutes Leben anzeigen, «before you cry I have been gone … I have always been a dreamer with a dirty mind … I have not had the chance to say goodbye … but it’s not my fault … nobodys fault …»

Erwache um fünf Uhr früh. Karpaten. Bunte Holzhäuser den Strassen entlang aufgereiht.

Wälder. Wiesen. Hügel.

Vogelbeeren. Hab seit Jahren keine Vogelbeeren gesehen. Tiefrote traubenförmige Signallichter in Hülle und Fülle.

Äpfel und Kirschen. Gänsetruppen in Gärten und Höfen.

Schlafen. Dösen. Flaches Land. Der Fluss. Der Dnjestr. Sandiges Ufer.

Eine Frau in hellbraunem Trainingsanzug und pinkfarbenen Schuhen schiebt einen Kinderwagen durch hohes Gras.

Muss an deine Erzählungen von den Zedernwäldern im Libanongebirge denken. Libanongebirge. Mont Liban. Dschabal Lubnan. Laban. Was auf Aramäisch weiss bedeutet.

Erinnerst du dich an den Labane, den Käse, den ich dir im Einweckglas mitgebracht hab? Du wolltest dir das Rezept für deine Mutter notieren: Joghurt in einen Mull giessen und zwei Tage abtropfen lassen. Die Molke trinken und die feste Masse zu kleinen Kugeln formen und in ein Glas legen. Roten Chili, Nelken, Koriander und Kardamomsamen, grüne Pfefferkörner, Senfkörner und ganz viel frische Petersilie dazwischen legen und das Glas mit Olivenöl auffüllen. Schliessen und lagern.

Der Esel reisst das Maul auf. Schrille Schreie. Der Zug bremst. Ich rieche Urin, Schweiss, Bier, Salz und Knoblauch. Eine unsichtbare, nervende Mücke.

Lemberg. Der Ort, von dem die schwarze Hannah, der schweigsame Jankel, Ossip und Ruthchen aufgebrochen sind. Ihr Aufbruch spiegelt sich in meiner Ankunft.

Sie verliessen damals ihr Zuhause. Eine Wohnung steht heute für mich bereit. Angehörige nahmen damals für immer Abschied. Unbekannte erwarten heute meinen Anruf. Ohne Sehnsucht. Ohne Freude. Aber immerhin.

Und ich sehe dich vor meinem inneren Auge, wie du neben mir stehst, ruhig und gelassen, Kaugummi im Mund, und nur die abgehackten Kaubewegungen verraten den drohenden Ausbruch. Dein Hass auf die Dummheit und Rückständigkeit der Menschen, die nicht wissen, was ein gutes Leben ist. Und somit auch auf mich.

Du denkst, ich bin sentimental und gelangweilt.

Und dennoch liebst du meine Briefe. Ja du verlangst und erwartest sie mit der Dringlichkeit eines Süchtigen. Du denkst, sie sind Poesie. Ja du sagst: J’aime ta poésie.

Ich verstehe dich nicht. Du bist mir ein Rätsel.

Und es wäre mir ein so grosser Wunsch, dass du die Forderung deiner Mutter in den Wind schlägst.

Selma

30. Juli 2010. Lemberg

Liebe Janika

Heute Nacht stürzte der Regen. Das Wasser von den Dächern spritzte aus angerosteten Rohren und bildete im Hinterhof ein weitverzweigtes Netz von Pfützen.

Jugendliche hocken auf kaputten Tischen, trinken Bier, reden und lachen laut, ein kleiner Junge liegt bäuchlings auf einer Schaukel und angelt nach einem Plastikgewehr: Pengpeng! Eine magere Frau mit grünem Regenmantel und grauer Kappe zieht eine Holzstange aus dem Geviert, in dem die Container stehen, und stochert damit im Abfall herum.

Ich stehe auf dem Balkon und rauche.

In der kleinen Wohnung am Prospekt Svobody sind die Kleider aufgehängt, die Bücher sortiert, die Toilettenartikel aufgereiht, das Bett ist gerichtet. Schreibplatz.

Der Besitzer hat mir eine Bratpfanne gebracht.

Ich brauche Milch, Kaffee, Zucker, Joghurt.

Die Verkäuferin im kleinen Supermarkt in der Hrnaluka holt ihre Brille aus der Schublade und studiert mein Wörterbuch. Fürsorglich steckt sie mir zusätzlich zum Vanillejoghurt noch eins mit Aprikosen dazu: Wasser, Käse, Brot.

Salz, Pfeffer, Öl, Essig – du weisst ja, ich bin glücklich, wenn ich die Möglichkeit zum Kochen hab.

Diogo hat seine redaktionellen Kontakte spielen lassen. Marya und Ludmila, zwei russische Übersetzerinnen, erwarten mich. Um die fünfzig, blass, blond und schüchtern freuen sie sich über meine Ankunft, als sei ich eine nahe Verwandte. Sie wohnen bei ihren kranken Eltern – ein Leben wie mit Kleinkindern –, zerrissen zwischen Arbeit, Pflegedienst und dem Bedürfnis, noch etwas anderes zu sein: Liebhaberinnen, Freundinnen, Opernbesucherinnen. Nach dem Vaterländischen Krieg zogen ihre Eltern aus Russland in die Ukraine, um Arbeit und billige Wohnungen zu finden, Zufall, nur Zufall, und Marya und Ludmila blieben in Lemberg.

Nach zwei Tassen heisser Schokolade – dickflüssig und übersüsst – reden wir über Adriano Celentano, Roberto Benigni und Jim Jarmusch. In Wolldecken gehüllt auf der Terrasse des Kawy Swit an der Katedralna.

Zwei junge Roma-Frauen packen mich am Ärmel und reden auf mich ein, so viele Zigeuner hier, lästig, lästig, bemerkt Marya und wedelt mit der Hand. Schwarze Wolken saugen am Licht.

Wir bestellen Tee und Käsekuchen. Marya und Ludmila setzen ihre Erzählung fort: Während der Sowjetzeit habe sich niemand um die Nationalität oder die Religion der anderen gekümmert, mindestens zwei Drittel der Klasse wären jüdisch oder sonst etwas gewesen, man diskutierte über die gleichen Dinge, ging zusammen ins Kino, nach dem Ende der Sowjetunion schossen jedoch jüdische, ukrainische, russische, tatarische, armenische und sonstige Identitäten wie Pilze aus dem dunklen, feuchtwarmen Hummus der vergärten Völkergemeinschaft hervor.

Später zeigen mir Ludmila und Marya den Markt. Helfen, das Abendessen einzukaufen: Nudeln, Tomaten, Frühlingszwiebeln, Suppensellerie, Heidelbeeren und Basilikum. Von der Reise hab ich noch frischen Ziegenkäse.

«Kein Fleisch?» Sie fragen immer wieder. «Kein Fleisch?»

«Nein. Heute nicht.»

Ludmila: «Die ukrainische Küche ist hervorragend. Ich liebe die mit Schweinefleisch gefüllten Piroggen und die mit Leber gefüllten Varenykys. Schau dich mal um.»

Marya: «Hast du unsere Wälder und Pilze vergessen? Meine russische Grossmutter legte Waldpilze, Lorbeer, Pfefferkörner und Wacholder in Salzlake ein. Sowas kriegst du hier nicht.»

Ludmila: «Siehst du! Wir brauchen ein kosmopolitisches Leben.»

Sie nimmt meine Hand und sagt, man solle die Welt der Grenzen, Nationalitäten und Rassismen verlassen und ins Land des Friedens, der Zeichen und Wunder flüchten, man müsse in die eigene Seele einziehen, wie die Schildkröten, die ihr Haus auf dem Rücken tragen, um jederzeit Schutz suchen zu können, wenn sie sich bedroht fühlten.

Und Ludmila weint.

Und schreibt mit einem Bleistift auf eine mit Zwiebeln gefüllte Papiertüte: «Let your sleeves never be wet of tears. You are too beautiful to cry.»

Im benachbarten Museum für Religionsgeschichte, das früher «Museum für die Geschichte des Atheismus» genannt worden ist, liegen in einem beleuchteten Sarkophag zwei dreitausend Jahre alte Skelette in innigster Umarmung. Gestorben während des Liebesakts.

Marya schaut schweigend in den Sarkophag.

Und Ludmila weint.

Ich erinnere mich: Lag nachts im Bett. Heiss. Schob die Decke in der Mitte zusammen und legte die Beine drum herum. Auch eine Art Umarmung. Bewachte die Lichtvorräte, die aus den Strassenlaternen ins Zimmer flossen, und hörte Pauline in der Küche klappern. Obwohl wir nach dem Essen alles spülten und wegräumten, ging Pauline, während ich im Bett auf den Schlaf wartete, in die Küche, arbeitete, als gälte es, eine Grossfamilie zu versorgen. Ich tauchte in die grauen Schatten ein, die das Zimmer in ein abstraktes Gemälde und mich in ein Sujet verwandelten, wartete auf das Abtauchen und legte das Versprechen ab, schnell, ganz, ganz schnell erwachsen zu werden, einen Mann zu finden, ihn mit dem Schleier über dem Kopf siebenmal zu umkreisen: Wein trinken, Gläser zertreten, Ringe austauschen und laut zu singen: Ich bin meines Liebsten und mein Liebster ist mein.

Ich legte den Schwur ab, nicht, wie die Frauen in meiner Familie es üblicherweise tun, allein zu leben, nein, ich wünschte mir eine Familie. Eine ganz normale Familie. Mit Pauline, mit meiner Mutter Marielouise, mit meinem Grossvater Hendrik, meinem unbekannten Vater und ganz vielen Geschwistern. Mit Cousinen und Cousins, mit Tanten und Onkeln. Eine mit Diogo oder Sami oder einem anderen Mann.

Und mein Bauch hätte dauernd ein Kind ausgespuckt, das von den hungrigen Herzen der Grossfamilie geschluckt worden wäre.

Eine solche Familie wäre für dich ein Albtraum. Alle diese Menschen würden dich überwältigen, vereinnahmen und deinen Rhythmus durcheinanderbringen. Eine solche Menschenansammlung mit all ihren unberechenbaren Nöten und selbstbezogenen Bedürfnissen störte deinen Drang nach Perfektion und deinen Wunsch, in allem die Beste zu sein.

Deine wunderbaren, grosszügigen Eltern und dein liebenswerter Bruder treiben dich ja bereits zur Verzweiflung.

Dennoch bist du mit deiner Lautstärke, deinem unbändigen Lachen, deinem Schimpfen und Fluchen, deiner überfüllten, gemütlichen Küche, deiner opulenten Kocherei, deiner Fürsorge, die weder Grenzen noch Skrupel kennt, meine vermisste Familie – die fehlende Stimulation in meinem zurückgezogenen, stillen Universum.

Wir bilden Einheiten gegen den Rest der Welt, um sie gleich darauf zu sprengen, um diesen Rest der Welt uns einzuverleiben.

Du sagst, die Entscheidung, wen oder was wir lieben, gibt Auskunft darüber, wer wir sind und was für uns ein gutes Leben ist.

Auf dem Heimweg kaufe ich bei einer alten Frau Blumen: Der Strauss, Margeriten, Erikas und in der Mitte eine rote Rose, riecht wie das Kraut, das auf der Wiese rund um Paulines Almhütte wuchs. Heftiges Heimweh. Obwohl ich sicher bin, dieses Stück Pauline-Natur, diese Leere – Sommer für Sommer diese Leere –, diese endlosen Tage in verschwitzten Kleidern und dieses über dem Feuer gekochte, nach Rauch schmeckende Essen zu hassen.

Monster zogen ihre langen Mäntel schattenhaft über die buckligen Wiesen, ihre Zähne blitzten in der Finsternis, Eulen lugten von den Bäumen, Füchse brachen durchs Gehölz, Maulwürfe huschten unter die Felsbrocken. Ich verkroch mich klopfenden Herzens und mit weichen Knien in einer Senke, kauerte auf weichen, vom Tag noch warmen Föhrennadeln, Ameisen krabbelten, doch ich blieb, wickelte die Würstchen aus dem rosafarbenen Fettpapier und verschlang sie alle – kaltes, süssliches Fleisch.

Pauline hatte in unseren leeren Vorratsschrank gestarrt und mich ins eine Stunde Fussmarsch entfernte Dorf zum Einkaufen geschickt. Auf dem Heimweg trödelte ich herum, bis der Einbruch der Nacht mich überraschte und Dunkelheit über mich herfiel.

Der Verzehr der Würstchen gab mir Kraft und Zuversicht, die Alm öffnete sich und zeigte sich im Mondlicht als harmloser, gleichgültiger Raum. Ich kroch aus der Senke und lief zur Hütte zurück. In Gedanken bei Pauline, deren Angst ich geradezu roch, stolperte ich immer wieder, rannte weiter, wütend, weil mein ungeschickter Körper mit meinen vorauseilenden Schuldgefühlen und dem ungeduldigen Wunsch, mich zu entschuldigen, nicht mithalten konnte, und von Weitem sah ich Paulines Gestalt, die auf der Bank vor der Hütte sass.

Sie umarmte und wiegte mich. Ich spürte ihre nasse Wangenhaut, hörte ihren stockenden Atem und fühlte den Druck ihrer starken Arme. Und dieses überraschende Liebesglück – in einem Film wäre es ein Happy End gewesen, in unserem Leben war es eine Episode – entschädigte mich für anstrengende Wanderungen unter stechender Sonne, Muskelkater, Mückenstiche, für einsame, stille Nächte, in die jedes Geräusch einschlug wie eine Bombe, furchterregende Gewitter, sterbenslangweilige Blaubeer- und Pilzernten, harte, trockene Kuchen, körnig-käsige Polenta mit verbrannten Zwiebeln und Kartenspiele mit einer Pauline, die ärgerlich die Karten weglegte, wenn sie verloren hatte.

Meine Grossmutter litt an Depressionen.

In den Bergen war sie traurig, weil die Steilwände das Fabulieren nicht erlaubten. Zu schnell waren die Täler überfüllt. Und die Berge in der Schweiz erinnerten sie an die Berge in Chile.

In der Kiste mit den drei goldenen Elefanten fand ich ein Bild von Marielouise auf einem Pferd. Sie trägt elegante, modische Grossstadtschuhe aus Schlangenlederimitat und eine taillierte rote Lederjacke. Eine weit ausgeschnittene grüne Bluse und – du wirst es nicht glauben – einen rosafarbenen Rock. Sie sitzt lächelnd, hoch aufgerichtet und so unpassend gekleidet auf dem braunen Pferd, das schläfrig in die Kamera blickt. Im Hintergrund eine raue Berglandschaft, grobe Felsbrocken, Wasserrinnsal im Geröll.

Eine Hütte. Rauch über dem rostigen Rohr.

Es ist verwirrend. Ich weiss, dass Marielouise nicht in Chile ist. Nicht in Chile sein kann.

Und dann ist plötzlich so eine Fotografie da.

Du, liebe Janika, wusstest hingegen, wie man die Öfen und den Herd anfeuert. Wie man heizen und kochen kann, ohne die Luft in Paulines Hütte mit Rauch zu vergiften. Man musste lediglich das Feuer in allen Öfen gleichzeitig zünden. Mit deiner Fähigkeit, dauernd in Bewegung zu sein, brachtest du dieses Kunststück zustande. Und du warst eine hervorragende Holzhackerin. Mit gesenktem Kopf liessest du das Beil mitten ins Holz fallen: Zack! Nicht mal Joel durfte ran.

Diese Tage mit dir, Diogo und Joel. Stundenlang wanderten wir durch die Wälder und bestiegen die Berge. Und ich war so glücklich, wenn Joel jubelnd über die Steine hüpfte, sich ins Wasser wühlte, literweise Sonne soff und kreischend mit den Schmetterlingen Hula-Hopp spielte. Und die Pfiffe der hysterischen Murmeltiere. Diogo liebte es, sie zu erschrecken. Zu Joels grosser Freude verfiel er in ekstatische Bockstänze und stiess schrille Schreie aus.

Eines Tages jedoch kündigte Joel den Vertrag. Er mochte die Hütte, die Berge, das Wandern und die Schmetterlinge nicht mehr.

Es tue ihm leid, aber er verspüre keine Lust, mir das Gefühl zu geben, eine gute Mutter zu sein: «Geh mit Pauline oder Janika. Lass mich in Ruhe.»

Als ich ein Kind und mit Pauline allein in der Hütte war, las ich unter der blau-weiss gewürfelten Bettdecke ein Buch nach dem anderen.

Und dieser Brandgeruch.

Immerzu dieser Brandgeruch. Für Pauline, die das Wort aschen liebte: dein goldenes Haar, Margarete. Dein aschenes Haar, Sulamith: Paul Celans Todesfuge. Die grossartigste lyrische Abrechnung mit der Schoa. Hat sie gesagt.

Johann Wolfgang von Goethes Gretchen und Heinrich Heines Loreley, allesamt deutsch, blond und golden, die Sulamith aus König Salomons Schir Ha’Schirim ist orientalisch und aschen gewesen und in Auschwitz verbrannt worden oder hat überlebt, aber ist nun für immer grau und noch viel grauer in der Seele, so etwas vererbt sich über Generationen hinweg, diese Verfärbung der Seele, wiederholte Pauline immerzu. Und ich wollte die ursprüngliche, noch unversehrte Sulamith aus dem Lied der Lieder zurück, deren glänzendes Haar in Locken über den Rücken fiel und die wunderschön gewesen war und in den Granatapfelgärten in den Hügeln Samarias sich der Liebe hingab, und meine Kinderseele verabscheute diesen Celan, der auf dem Wort aschen und auf Auschwitz beharrte, wenn er doch ebenso melonenkernschwarz und Granatapfelgarten hätte hinschreiben können.

Ich hingegen liebte historische Abenteuerromane: Angélique! Die wild, ungezähmt und bildschön, als Tochter eines verarmten Landadeligen aus dem 18. Jahrhundert gegen ihren Willen mit einem älteren, reichen Junker verheiratet, sich überraschend in den schweigsamen Mann, der gehbehindert und mit einem tyrannischen Charakter gesegnet ist, jedoch einen brillanten Geist, Humor und eine leidenschaftliche Liebesfähigkeit besitzt, unsterblich verliebt: Joffrey!

Doch kurz nach der Heirat zum Tod verurteilt und hingerichtet hinterlässt er seiner jungen Witwe nicht genügend finanzielle Mittel zum Überleben. Angélique bricht auf. Vor ihr liegt ein Weg voller Abenteuer und Prüfungen, der sie auf vier Kontinente und die Leserin durch zehn dicke Wälzer führt.

In Paris lebt sie als Wirtin einer übel beleumundeten Kneipe unter Ganoven und Bettlern, zieht ihre Kinder auf, zählt Dichter und Revolutionäre zu ihren Liebhabern, steigt am Hof des französischen Sonnenkönigs in den Rang der Favoritin und Geliebten auf, flüchtet vor Intrigen und Mordanschlägen übers Meer und wird von Piraten entführt.

Aufgrund politischer Wirren und launischer Winde, die das Schiff übers Wasser treiben, wird sie zu guter Letzt in den Harem des Sultans von Marokko verkauft.

Zurück in Europa gerät Angélique im Zuge der Religionskriege zwischen die Fronten der Katholiken und der Protestanten, landet erneut auf einem Schiff und im Bett eines Piraten, der sie in die Neue Welt bringt. Meine Heldin stellt sich selbstbewusst und unerschrocken allen Schwierigkeiten und muss sich doch immer wieder hilflos in die Arme und den Schutz eines mächtigen, einflussreichen Mannes begeben.

Nicht zu vergessen die quälenden Schuldgefühle! Im Sturm der Ereignisse sind Angélique ihre Muttergefühle und ihre Kinder schlicht abhandengekommen.

Pauline jedoch starrte aus dem Fenster und sagte: «Deine Mutter wollte sich nicht durch Ehe und Mutterschaft einsperren und frustrieren lassen. Und doch fürchtete sie sich vor Einsamkeit und Verbitterung. Deshalb hatte sie ständig neue Liebhaber, die sie alle auf Distanz hielt. Und wo ist Marielouise jetzt? Wo ist deine Mutter?»

Sie goss Tee aus der mit Blümchen verzierten Porzellankanne, führte die Tasse an die geschürzten Lippen, die sich gegen die Zumutung der Hitze wappneten, trank mit kleinen Schlucken und hielt eine Hand unters Kinn, um den Pullover aus Kaschmirwolle vor herunterfallenden Tropfen zu schützen – das kostbare Stück, das sie auch in den Bergen, in der verrauchten Almhütte trug –, setzte die Tasse ab, ein leises Klacken, Porzellan auf Porzellan, und befahl, ohne den Blick vom Fenster zu wenden: «Lass es! Hör auf, solchen Mist zu lesen!»

Und ich dachte darüber nach, was Pauline über meine Mutter Marielouise gesagt hatte.

Ja, was nun?

Der Unterschied zwischen dem erfolglosen Verhindern von Unglück und dem vergeblichen Streben nach Glück entzog sich mir – und ich wusste nicht, was Pauline mit ihrer Rede bezweckte.

Ich beobachtete, wie sie den Duft einer geschälten Mandarine einsaugte und die Schale in kleinste Stückchen zerkrümelte, und konnte den Blick nicht von ihrem schönen Profil abwenden, schaute auf den schlanken Hals, die aufrechte Kopfhaltung, roch den würzigen Duft des zimtbraunen Rollkragenpullovers. Fischreiher. Sie erinnerte mich an einen Fischreiher. Ein leiser Widerwille stieg mir in die Kehle.

Und ich las weiterhin meine Kitschromane.

Drapierte mich vor Paulines Augen im Sessel, das Haar im Gesicht, liess langsam die Beine heruntergleiten, spreizte sie, scheinbar völlig unbewusst, und wenn Paulines Blick sich genügend in mich gebohrt hatte, hob ich, irritiert über diese strafende Aufmerksamkeit, unwillkürlich den Kopf, schloss hastig die Beine, lächelte schuldbewusst, wendete mich ab und vertiefte mich erneut in das Buch.

Ein kleines Mädchen tanzt. Die Arme ausgebreitet, die Hände geöffnet dreht es sich um sich selbst, stampft mit den Füssen. Den Kopf in den Nacken geworfen lacht es selbstvergessen, die Haare fliegen – plötzlich wendet es mit einer impulsiven Bewegung der Kamera den Rücken zu, hebt den Rock, reisst den Schlüpfer runter und wackelt kreischend mit dem nackten Hintern.

Lärm, viele Menschen: Frauen sitzen an Tischen, Männer stehen in Gruppen.

Die junge, bunt gekleidete Frau gleitet mit hoch erhobenem Kopf durch die Menschenmenge, federleicht, als ginge sie durch Wände, als berührte sie die Materialität der sie umgebenden Dinge nicht. Sie kniet vor mir nieder, wartet, lächelt mich belustigt an, streicht mir flüchtig das Haar aus dem Gesicht, zieht mir den Schlüpfer hoch und glättet den Rock. Sie trägt mich aus dem Saal und verschwindet im dunklen Bildhintergrund.

Marielouise beugt sich über mich. Hellblau schwimmende Augen. Wirres, strähniges Haar. Sie lächelt zerstreut. Aus ihrem Mund fällt Wärme. Ja, Wärme fällt auf mich herab. Sie umklammert mich erstaunlich kraftvoll. Fast tut es weh. Und nimmt mir den Atem. Wir tauschen Küsse und lachen.

Diesen Super-8 Film liess Pauline auf DVD überspielen. Ich fand ihn in der Kiste unter ihrem Bett.

Wer stand hinter der Kamera? Wer hielt diese Episode fest? Ich spule den Film innerlich zurück und schaue mir die Szene nochmals an.

Der Körper prallt auf andere Körper. Reflex. Unmittelbare Freude. Dieser Stempeldruck auf die Brust. Tämp! Tämp! Das ist meine SCHÖNHEIT. Doch würde niemand die Schönheit dieses Gemäldes «Tanzendes Kind und fürsorgliche Mutter» bestreiten. Also IST es schön! Weil es für uns ALLE schön ist. Tämp! Tämp!

Rufst du Joel an? Und berichtest mir, wie es ihm geht? Hast du von Diogo gehört? Meldet er sich bei dir?

Ich denke an dich. An unsere Nächte in deiner Küche. Deine vielen Schnapsflaschen. Sieben Sorten Whisky. Oder Rum. Oder Cognac. Und den Schokoladenkuchen mit Chili. Deine Gewürzsammlung. Deine Tarotkarten. Unsere Spiele. Die Zigaretten und dein schadenfreudiges Lachen, wenn du ein Spiel gewinnst. Die Sexinserate. Mit dir lerne ich, ungehemmt zu sprechen. Seit ich dich habe, lerne ich, die Worte zu gebrauchen. Sie sind die Stücke unserer Erfahrungen. Wir nehmen die Sätze auseinander, schauen die einzelnen Wörter an und setzen sie neu zusammen. Du und ich.

Verzeih mir die langen Briefe. Aber ich habe das Gefühl, du magst Pauline.

Sie ist ein präzises, geordnetes, eigenwilliges, wütendes, vielschichtiges Universum.

So wie du.

Es geht mir gut.

Und du wirst mich mit jedem Brief besser verstehen.

Deine Selma

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9783038670476
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