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Lieber Diogo

Wie gern würde ich mich ziellos treiben lassen: aufwachen, Geräusche und Gerüche, Sonnenlicht, wandern, schwimmen, Eis essen, Wein trinken, Mond und Sterne, Gerüche, Geräusche, einschlafen.

Aber ich will eine fassbare, zusammenhängende Geschichte, die ich erzählen kann. Ich suche mir das Material und erfinde sie neu.

Warum sollte ich es nicht tun?

Du kannst dir nicht vorstellen, wie verwirrt und leer ich mich fühle. Von allem, was mir Nahrung zugeführt hat, bin ich getrennt. Und frei. Befreit. Und mir schwindelt. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sie mich belogen hat. Pauline! Die alte, verrückte Pauline!

Und diese Hitze! Sogar das Tippen, körperlicher Kleinstaufwand, treibt einem das Wasser aus den Poren. Ich sollte in der kleinen Donau schwimmen gehen.

Und ich muss an deine Eltern denken. Joel sprach oft von ihnen. Er nennt sie Mae-Pai. Ein wenig Portugiesisch hat er also gelernt. Du wärst sicher glücklich gewesen, wenn du den zärtlichen Unterton in seiner Stimme gehört hättest. Hört sich Indianisch an: Mae-Pai.

Joel hat Geld von mir bekommen, damit er zum Friseur geht. Warum reagierst du so ungehalten auf seine merkwürdige Frisur? Lass ihn, auch wenn sie dir nicht gefällt. Er muss entscheiden.

Was kochst du heute? Esst ihr in der Küche oder im Arbeitszimmer? Weiht er dich in seine pubertären Geheimnisse ein? Redet er mit dir?

Umarme Joel mit deinen bärenstarken Armen, bis er keine Luft mehr bekommt!

Deine Selma

22:00: «Selma. Bist du da? Will dich anrufen!»

22:15: «Sami, mon cher. Weisst du, was die Leute in der Ukraine sagen? Ein gebrochenes Herz ist ein unversehrtes Herz.»

22:17: «Selma. Will dich anrufen!»

22:45: «Du hast gesagt, deine Heimat ist das Bett, weil es da alles gibt, was du brauchst: Ruhe, Wärme, Träume, Gedanken, Bücher, Musik, Filme, Telefon, Essen, Trinken und hin und wieder Selma. Und Zeit. Zeit für so viele Details. Sie sind die Seele einer Geschichte und die Bausteine unserer Existenz.»

22:47: «Wo bist du? Warum kann ich dich nicht erreichen?»

22:49: «Friedrich Nietzsche hat geschrieben: Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat! Du hast dein Bett. Und ich hab meines. Ich will aber unseres!»

23:01: «Selma! Ich warte!»

23:15: «Seit einer Stunde unterwegs, um eine dienstbereite Apotheke zu finden. Mückenstiche überall. Bin hippelig. Eine Fusssohle ist angeschwollen und entzündet. Fürchte mich vor einer Blutvergiftung.»

23:18: «Mitten in der Nacht? Ruf mich sofort an!»

23. Juli. Wien

Liebe Janika

War heute Morgen im Gänsehäufl-Bad an der alten Donau.

Und hab experimentiert. Du lachst mich nun bestimmt aus. Ich halte mich jedoch an deine Prinzipien: Jede Recherche muss ein Selbstversuch sein; ich schaue nicht beobachtend von aussen, nein, ich begebe mich in die Ereignisse hinein und mache mich selbst zum Forschungsgegenstand. Nur eigens gemachte Erfahrungen entwickeln in der Darstellung eine Wirkung, sagst du.

Ich nähere mich den Dingen, nehme sie zur Hand, gestalte sie und eigne sie mir an.

Also, hör mir zu: Ich schwimme im Fluss und beschliesse, Mikwe zu machen. Mit den Armen rudernd versuche ich unter Wasser zu bleiben, was für ein paar Sekunden gelingt, aber es ist unbefriedigend, ich wiederhole den Versuch und konzentriere mich auf die Frage, was denn abgewaschen werden soll – die Badenden rundherum schauen irritiert.

Weiter oben im Fluss tauche ich mit aller Kraft unter, stosse mich mit einem heftigen Zug in die Tiefe, lasse mich bewegungslos treiben und ein klarer Gedanke steigt auf: Es muss abgewaschen werden, was weg muss, auch wenn ich nicht weiss, was es ist. Mich auf das Ritual der Reinigung einzulassen, ist meine Entscheidung, und was dabei weggeht, das überlasse ich einer klügeren Instanz. Nach dem Auftauchen platzen fast die Lungen, ich keuche, japse und huste – das kann Mikwe nicht sein.

Bevor ich an Land gehe, atme ich tief ein, löse die Füsse vom sandigen Grund und lasse mich schwer in die starke Umarmung der Strömung fallen, sinke und sinke, bloss der Kopf, der verdammte Kopf bleibt wie ein aufgeblasener Luftballon über der Wasseroberfläche, ich atme aus, langsam, kräftig atme ich aus, nun sinkt auch der Kopf, dieses bewusste Untertauchen fühlt sich unangenehm an, ich will ja nicht tot sein. Ich stosse die restliche Luft aus, der Strom aus meinen Lungen ist stärker als der Wasserdruck und bricht den Flusswiderstand, ich schaukle wie ein Embryo und richte die Aufmerksamkeit auf diese klügere Instanz, die weiss, was abgewaschen, was weg muss: die Auflösung meines bisherigen Lebens in bruchstückhaften Bildmontagen.

Die Welt steht still. Wind verfängt sich in den Bäumen. Ich beobachte die im seichten Wasser stehenden und plaudernden Frauen. Und erkenne plötzlich die Gleichförmigkeit junger, attraktiver Körper und die einzigartige Verformung eines jeden einzelnen älteren Körpers. Die Details dieser nackten Menschen lösen Begehren aus: Ich schaue den unbekannten Mann an und setze mich auf seinen braunen Schwanz, der sich an der Eichel bläulich verfärbt, ich spüre die grünen Augen der Frau, die Cola trinkt, auf Brüsten und Bauch, ich streiche mit der Hand über den rundlichen Rücken und Po ihrer Freundin und dringe mit den Fingern von unten ein, kühle Luft auf der Haut. Bis in jede Falte. In jede Öffnung.

Sami hat erzählt, während seiner ersten Jahre in Marseille sei er jeden Freitag an den Strand gefahren und habe übers Meer geschaut. Sass auf dem Felsen und starrte in die Ferne.

In den Libanon hinein.

Liebe Janika, ich umarm dich.

Selma

24. Juli. Wien – Košice

Liebe Janika

Passagiere schlafen, essen Snacks aus Plastiktüten, reden leise, lesen, lösen Sudokus, Kinder zeichnen, eine ältere Frau tuscht sich wiederholt die Wimpern, die Farbe hängt klumpig an den Lidern, eine Roma-Mutter kämmt ihrer Tochter das lange Haar und flicht Zöpfe, lässt sich von ihrem Mann die Schultern massieren, zärtlich sind sie, aber warum schreibe ich Roma-Mutter, nicht einfach nur Mutter, und erwische mich beim Gedanken: Seht hin! Roma! Sie sind liebevoll, sie sind freundlich. Warum hasst ihr sie?

Ja, erst vor dem Hintergrund ihrer Herkunft und der gesellschaftlichen Situation entfaltet ihr familiärer Umgang seine besondere Wirkung.

Damit du mir wütend auf die Hände schlägst, fahre ich dir in deine Haarpracht. Die sich nicht einfach so in einem Eisenbahnabteil entwirren und kämmen liesse, da sie alle Anwesenden unter sich begraben und ersticken würde. Wer trägt heute noch hüftlanges Haar? Wer macht sich heute noch die Mühe, in langwieriger Arbeit diese Fülle zu komplizierten Frisuren zu knüpfen? Allein diese Befestigungstechniken! Mittelalterliche Architektur. Du würdest hier auffallen. Als eine dem Film entsprungene rotblonde Kleopatra läufst du schnell und leicht durch die Gänge und wirfst dich dem schönen jungen Mann, der mir gegenübersitzt, lachend an die Brust.

Durch schmutzige Fensterscheiben sehe ich buttrige Sonnenblumenfelder, helles Weizenland, Strohballen, Vogelschwärme. Am Horizont eine Bergkette, die Polen von der Slowakei trennt. Bin schlecht gelaunt. Die Unbehaustheit kriecht wie müde Fliegen den Magenwänden entlang und die versteckten Blicke der Leute setzen sich auf meine Haut, stechen zu, spritzen Gift und saugen. Blut. Das innere Bild vom Zweck meiner Reise bricht weg.

Das Wissen um die Distanz zum Abfahrts- wie auch zum Ankunftsort provoziert Unruhe und Ängste, das Gefühl einer sinnhaften Kontinuität kommt mir abhanden. Warten – bis man sich in Bewegung setzt. Warten – bis man irgendwo weg kann. Warten – bis man anderswo ankommt. Warten – nicht als gefühltes Verstreichen von Zeit. Warten – als Ausblenden von Zeit. Meine Uhr steht still. Ich zerlege sie in ihre Einzelteile, verstehe aber nicht, wie ich sie wieder zusammensetzen kann.

Die Gedanken verlassen ihre Bahnen. Verborgenes arbeitet sich an die Oberfläche. Vielleicht äussert sich noch ein Rest Text im Unterleib. Nachts. Und in Träumen. Tagsüber Hunger, Durst, Notdurft und Müdigkeit.

Trockenheit oder Nässe, Hitze und Kälte sind übriggebliebene Wörter in dieser reduzierten Rede vom Sein im Nichtsein, wobei ich jetzt von den Flüchtlingen rede, der schwarzen Hannah, dem schweigsamen Jankel, von Ossip und Ruthchen. Ich sehe sie vor mir, wie sie Kräuter, Wurzeln und Nudeln ins kochende Wasser werfen, vielleicht – kostbar, unendlich kostbar – eine Prise Salz dazu, und wie sie Nudelsuppe schlürfen.

Hatten sie Löffel und Näpfe dabei?

Liebe Janika, deine Hände schossen hoch und deine dunkle Stimme las mir die Leviten: «Pauline plante deine Reise von langer Hand. Nun sitzt sie irgendwo, beobachtet dich Tag und Nacht und lacht sich kaputt. Sie hat diese Kiste nicht einfach so unter ihrem Bett zurückgelassen.»

Und ich schaute dich an und fragte mich, ob es deine Absicht war, mich von dieser Reise abzuhalten, oder du einfach Lust hattest, die Frequenzen deiner Stimme in der Brust und die Substanz deiner Worte auf der Zunge zu spüren. Sprechen ist ein körperlicher Akt – wie Sex, wie essen, wie kacken, wie schlafen –, hast du gesagt. Und du geniesst ihn.

Du liebst es, wenn die Wirkung deiner Worte im Gegenüber sich ausbreitet und etwas geschieht.

Du warfst dich ins Sofa und strecktest Arme und Beine aus: «Wo liegt das Problem? Mach dir ein schönes Leben! Verlass Sami. Vergiss Diogo. Brich auf! Nimm! Alles, was vor dir auf dem Weg liegt! Ja, mach aus deinem Leben ein Kunstwerk! Hör auf, dich selber zu bedauern!»

Den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen fügtest du noch leise an: «Das Wichtigste hast du erreicht. Du hast ein Kind.»

Baufälliger Bahnhof, die Zäune abgeblättert, aus den Ritzen des aufgesprungenen Asphalts wuchern Pflanzen, den Gleisen entlanggezogene Gebäude, bis der Bahnhof aufhört, Bahnhof zu sein. Eine Frau in Uniform bringt Schulkinder ins Abteil, verschafft ihnen mit zackigen Gesten und autoritärer Stimme Sitzplätze – alle müssen zusammenrücken –, die Kinder sind artig und sprechen kein Wort, als habe die Vorzugsbehandlung ihnen die Sprache verschlagen.

Berglandschaft.

Erzeugt das Gefühl, wenn man sich nur genug bemühe, käme man bald an ein Ziel. Und doch: Bild der Vergeblichkeit. Also beginnt man zu beten und zu singen. Oder zu saufen. Früher jedenfalls. Heute sind die Züge klimatisiert und fahren schnell, die Touristen, gut ausgerüstet, freuen sich auf Wildnis und unberührte Nostalgie – da man nur zu gern glaubt, Notleidende oder Leute aus einfachen Verhältnisse, besässen eine Unschuld, die man selbst verloren hat. Auf den Bergkämmen Silhouetten übereinandergetürmter Wohnsiedlungen – beim Näherkommen und genaueren Hinsehen jedoch hingeknallt wie Sperrgut. Als die Schulkinder den Zug verlassen, ziehen die Mädchen ein Kopftuch über.

Ein enges Tal lässt gerade mal den Fluss und den Zug durch. Danach eine weite, bis zum Horizont zerdehnte Landschaft, am Flussufer Silberpappel, Silberweiden, Eichen, Birken, Hasel, geduckte, verschachtelte Holzhütten, als würden sie, kaum hingestellt, sich erschreckt in die Erde verkriechen, ziegelrote Blechdächer und buntgemusterte Fliesen, Gärten, Kukuruz, Hühner, Obstbäume, Gemüse, Salate, Blumen, Büsche, üppiges Gras, mittendrin ein grosser, runder Tisch mit Familie – gut zum über den Zaun schauen und am Heimweh sich satt essen.

Am Fluss konnten Hannah und Jankel, Ossip und Ruthchen sich waschen und erfrischen.

Und wie sie überqueren? So viele Flüsse?

Und wenn die im Frühjahr über die Ufer traten?

Bin müde. Stecke die Kopfhörer ein und höre Musik. An Pierlé: «Before you cry I have been gone … I have always been a dreamer with a dirty mind … I have not had the chance to say goodbye … but it’s not my fault …» Sami macht es auch so. Steckt die Kopfhörer ein und hört Musik oder Radio. Stundenlang.

Sehne mich nach einem Zeichen von ihm. Das tatsächlich in diesem Moment in Form einer SMS kommt, Kaffeeduft zieht durchs Abteil, eine Geborgenheitsinfusion durch die Nasenkanüle. Ich fühle mich wieder gut.

Joel war sieben oder acht Jahre alt. Stundenlang kauerte er auf dem Teppich, die Zunge zwischen den Lippen, die Finger in den Locken oder in der Nase, und krakelte mit seiner unbeholfenen Schrift Listen, um im Fall eines Aufbruchs gerüstet zu sein. Er notierte alles, was er liebte und, überrascht von einer Katastrophe oder einer Gefahr, auf keinen Fall zurücklassen wollte.

Pauline fütterte ihn tagtäglich mit tragischen Geschichten von Freunden und Bekannten, die irgendwann von irgendwoher nach irgendwohin geflüchtet waren. Es war ihr Lieblingsthema und Joel war entsetzt. Vertraute Dinge zurücklassen zu müssen, schien ihm das Schlimmste zu sein. Immer wieder fragte er, wie denn die Kinder der geflüchteten Bekannten und Freunde reagiert hätten, als sie den wahren Grund ihrer Reise erfuhren: Kein Urlaub?

Flucht? Für immer?

Erinnerst du dich, liebe Janika? Ich erzählte dir bereits von meiner Strafversetzung in die Ostslowakei. Pauline schickte mich, als ich fünfzehn Jahre alt war, zur Mutter ihrer besten Freundin Brigita, um mir das wahre Gesicht der Armut zu zeigen und mich meiner verwöhnten Borniertheit zu überführen.

Mitten in der Nacht schlich ich in die Küche – es war dunkel, ich musste Gegenständen ausweichen und mir den Weg ertasten – ich fühlte mich wie eine Einbrecherin – nahm zwei Stück frisch gebackenen Mohnkuchen vom Blech und schlang sie hinunter – essen war für mich schon damals eine Leidenschaft, der man jeglichen Anstand opfern musste.

Brigitas Mutter hatte vor dem Schlafengehen tiefschwarzen, feuchten Mohnkuchen gebacken. Aufgerissener Himmel und ein Hauch Engel. Hohelied der Mutterliebe. Ein Funken Ekstase in der Nase. Und Gott legte sich auf meiner Zunge schlafen.

Am nächsten Morgen sprach Brigitas Mutter kein Wort und war nicht in der Lage, mir in die Augen zu schauen – und ich erkannte die Wachsamkeit einer Köchin, die jedes Stück auf ihrem Blech zählte, da sie es gewohnt war, mit knappen Mitteln eine grosse Familie zu füttern. Und während der folgenden Tage trug sie unaufhörlich auf: Fleisch, Schinken, Gurken, Tomaten, Brot, Butter, Knödel, Spätzle, Kohl, Würste und Eier. Und diesen Mohnkuchen vom Blech. Brigitas Mutter kochte von morgens bis abends und stopfte mich mit ihren wunderbaren Gerichten voll, als wolle sie ihre Fähigkeit, alle ihr anvertrauten Lebewesen ausreichend zu ernähren, unter Beweis stellen.

Und ich, schuldig gesprochen, konnte das bitter vom alltäglichen Mund abgesparte Essen nicht zurückweisen. Denn für Menschen ist es eine Demütigung, wenn das, was sie zu geben bereit sind, zurückgewiesen wird – das hatte ich, obwohl noch sehr jung, instinktiv begriffen. Ich war also verpflichtet, diese kostbare Nahrung bis zum Überdruss zu vertilgen, um die Beziehung von Brigita und Pauline nicht zu gefährden. Nach drei Tagen gab ich auf und fuhr, ohne mich zu verabschieden, nach Prag. Rief Pauline aus einer Telefonzelle im Bahnhof an: Ihr blieb nichts anderes übrig, als mich nach Hause zu holen.

Brigitas Mutter besiegte mich, eine verwöhnte Göre, und meine herrische, selbstbewusste Grossmutter mit ihrer Kochkunst und ihrem verletzten Stolz.

Und Pauline sprach während dreier Wochen kein Wort mit mir, sie machte sich nicht einmal die Mühe, meine Version der Geschichte sich anzuhören.

Und ich wollte die Teetasse an die Wand schmettern. Stattdessen lächelte ich und dachte: Na? Immerhin! Langweilen tut man sich nicht.

Du, liebe Janika, hast hingegen voller Wut die Suppenteller im Wohnzimmer deiner Eltern zerdeppert. Linsensuppe ist es gewesen. Die Teller noch halbvoll. Braune Linsensuppe mit viel Knoblauch. Und Speck. Ja, dein Vater isst heimlich Speck. Shwejn in Shtejn!

Liebste Janika. Antworte mir nicht. Du hast so viel zu tun. Deine Aufmerksamkeit beim Lesen meiner Briefe reicht mir vollständig aus.

Aber lass mich wissen, wie es dir geht.

Kann dir Diogo Arbeit beschaffen? Ich schreib ihm. Er soll für eine Anstellung in der Gewerkschaft sorgen. Sie brauchen immer wieder durchsetzungsfähige und intelligente Leute.

Und ich will wissen, wie der Bescheid vom Migrationsamt ausfällt.

Liebe dich.

Deine Selma

25. Juli. Košice

«Der Angriff auf die Würde und Entscheidungsfreiheit eines Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus liegt in der Erhöhung des psychischen Drucks. Es werden ihm zwar keine unmittelbaren Schmerzen und Leiden zugefügt, aber die durch die Dauer der Massnahme geschaffenen unerträglichen körperlichen und psychischen Belastungen zwingen ihn zu einem bestimmten Handeln. Dieser Angriff wird in voller Absicht und mit kühler Berechnung geplant und ausgeübt.» Notat von Pauline Einzig

Thread 1: «I was in the very lovely City of Košice. After that I visited the very exciting Lunik 9. Unforgettable highlight of your trip!»

Thread 4: «In einer Siedlung wie Lunik 9 wohnen mehr als 7.000 Roma. Die Häuser sind verwahrlost, platzen aus allen Nähten, die Fenster sind kaputt – alles zerfällt. Keine Abfallentsorgung.»

Thread 3: «Die dicke Beamtin an der Grenze zur Ukraine lässt uns zehn Stunden warten. Das ist höchst amüsant, denn sie hat keine Chance und muss uns schliesslich fahren lassen. Schlimm sind aber die widerlichen Zigeuner, die während der Wartezeit an den offenen Zugfenstern betteln.»

Thread 4: «In Anlehnung an den Begriff Antisemitismus ist in Europa die Bezeichnung Antiziganismus gebräuchlich. Menschen, die nicht sesshaft sind, einer anderen Religion angehören und eigene Traditionen besitzen, werden mit gefährlichen, bösartigen Eigenschaften ausgestattet. Diese gelten gleichermassen für die Juden, Roma, Sinti und Jenischen.»

Thread 2: «Juden beschimpfe nur, wenn du besoffen bist und hinter vorgehaltener Hand. Bei den Zigeunern tu dir keinen Zwang an. Jeder hört zu!»

Thread 4: «Deutsche Wissenschaftler wollen unter dem Deckmantel des Antiziganismus eine harte Assimilationspolitik durchsetzen.»

Thread 5: «In Rumänien fahren wir an Roma-Siedlungen vorbei. Halbzerfallene Plattenbauten, die Fensterscheiben sind eingeschlagen, auf den Fensterbrettern sitzen Hühner und im Hauseingang steht eine Kuh. Auf den Abfallhaufen spielen oder schlafen Kinder.»

Thread 3: «Sie sind fremd. Unheimlich. Gehören nirgends hin. Praktizieren eine primitive Religion. Der Staat baut ihnen Häuser und finanziert ihren Lebensunterhalt. Man muss die Wut der Slowaken verstehen.»

Thread 2: «Heutige Roma-Siedlungen erinnern an die ehemaligen Schtetl der osteuropäischen Juden. Die Roma weigern sich ebenfalls, ihre Kinder in die öffentliche Schule zu schicken. Sie fürchten sich vor der Assimilation. Sie wollen sich nicht anpassen und nicht dazugehören.»

Thread 4: «Wenn hingegen ein Roma ein Studium abschliesst, findet er keine Arbeit. Der Bund akademischer Roma ist so frustriert, dass er jedes Interview mit Journalisten verweigert. Ich hab es zwei Monate lang versucht.»

Thread 5: «Für die Roma ist Geldsparen eine Sünde. Von Gott geschenkt, muss es wieder zurückgegeben werden. Den Lohn versaufen ist keine moralische Schwäche, sondern ein heiliges Ritual des zyklischen Bekommens und Hergebens. Besitz hat keinen ideellen Wert und dient nur dem Überleben.»

Thread 4: «Unter der Sowjetmacht wurden die Roma zwangsangesiedelt. Sie verloren ihre traditionellen Berufe, ihr herkömmliches Einkommen. Und wegen des herrschenden Rassismus finden sie keine Anstellung. In einem Viertel wie Lunik 9 beträgt die Arbeitslosigkeit bis zu hundert Prozent. Der einzige Ausweg ist Sozialhilfe.»

Thread 5: «Freiheit ist die Entfernung zwischen dem Mörder und dem Opfer, sagt die bulgarische Dichterin Malina Tomowa. Ich denke an diese Worte, als ich durch die Stadt Kardschali im Süden von Bulgarien spaziere. Die Stadt ist in drei Stücke geschnitten: Die türkischen Schiiten, die Bulgaren und die Roma. Bei den Bulgaren kleinbürgerliche Ordentlichkeit, die Türken ziehen eine Mauer um ihr Viertel und die Roma leben in baufälligen Hütten. Die Küche ist im Freien. Der Hausrat verstreut.»

Thread 3: «Für Touristen sind die Zigeuner nicht so schlimm. Sie gehören dazu. Bringen Farbe ins Bild.»

Thread 1: «Lunik 9 liegt am Stadtrand, durch eine Schnellstrasse vom Rest der Stadt getrennt, dahinter kahle Hügel.»

Sumpfige Trampelpfade führen durch hüfthohes, nasses Gras zu den verwahrlosten Plattenbauten, zerknüllte Kleider, ausgeweidete Regenschirme, zerbrochene Flaschen und zerrissene Plastiktüten in den Büschen und Wiesen. Der Regen verwandelt die Umgebung in eine Seenlandschaft. Ich hüpfe von Inselchen zu Inselchen, bis ein schmaler, brauner, aber schnell fliessender Fluss den Weg versperrt, am Ufer entlang komme ich zu einem Übergang – einem glitschigen, in der Mitte gebrochenen Brett.

Stimmen und Schritte. Unvermittelt stehen zwei kleingewachsene, magere Jungen vor mir und sprechen mich an. Ich verstehe sie nicht und stammle etwas auf Russisch, sie verstehen mich nicht, schliesslich fragt einer auf Deutsch nach meinem Namen, Selma sage ich, als Roman stellt sich einer vor, als Kamil der andere. Sie setzen ihren Weg Richtung Schnellstrasse durchs hohe Gras fort, Angst kriecht hoch, wie ich da aus dem Takt gebracht am Fluss stehe, Roman und Kamil hingegen stapfen unbekümmert durch dieses matschige Gräsermeer, sie plaudern, und ich spüre, sie reden über mich, entwerfen einen Plan. Ich beginne zu laufen, stolpere, kann mich gerade noch auffangen und folge ihnen.

Ohne zu schauen, überqueren sie die Schnellstrasse und beobachten lachend von der anderen Seite, wie ich ängstlich nach links und rechts schaue, bevor ich die Strasse wie ein aufgescheuchtes Huhn überflattere, eine hochschwangere, in Wolltücher gehüllte Frau und ein magerer Mann mit prallgefüllten Plastiktüten von Lidl nähern sich, auch sie, ohne zu schauen, tauchen in die Schnellstrasse und schwimmen im Gräsermeer davon.

Wir gehen die löchrige Strasse zur Busstation hoch. Roman hält mir entschlossen zwei hohle Hände hin. Ich gebe ihm zwei Euro. Kamil läuft herbei und Roman bittet um weitere zwei Euro, ok, in Ordnung, zwei Euro. Roman legt den Kopf schräg, Augenaufschlag, hält nochmals die Hände hin, ist gut jetzt, ist genug, sage ich, Roman verbeugt sich und imitiert einen frivolen Knicks, Kamil flötet ein zuckersüsses Danke und nickt mit dem Kopf. Sie laufen von mir weg und wieder zurück, umkreisen mich, halten die Hände hin und fragen: Ok? Und ich antworte: Ja! Roman verbeugt sich, Kamil flötet ein Dankeschön. So besteigen wir, das Ritual wiederholend, spielend und scherzend den Hügel bis zur Bushaltestelle – und plötzlich sind sie weg. Vom Erdboden verschluckt.

Im Park in der für die ehemaligen Kronländer des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs typischen Altstadt schiesst zu den Klängen von Johann Strauss’ An der schönen blauen Donau Wasser in regelmässigen Intervallen mal höher und mal tiefer aus einem Springbrunnen in den grauen Himmel. Der Mythos von der guten alten Zeit spritzt in tausend Gefühlstropfen und süssen Zuckerfleckerln in die trostlose Sonntagslaune und nährt sie mit tröstlichen Illusionen. Alte Leute, junge Paare, Kinder auf Dreirädern stehen im Regen und starren auf das entrückte Schauspiel. Das Crescendo der Tanzmusik fetzt über die Köpfe der teilnahmslosen Zuschauer und der aufkommende Wind stülpt die Regenschirme um.

In einer düsteren Passage stimmen zwei ältere Männer ein Akkordeon und eine Klarinette aufeinander ein, drei vom Regen durchnässte Kinder betteln, obwohl kein Mensch vorbeigeht.

Ich flüchte in eine kahle, grau gestrichene Eisdiele. Das grellfarbige Eis in grossen Plastikkübeln glänzt.

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9783038670476
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