Читать книгу: «Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt», страница 4

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Given hörte nicht auf Pop. Ende des Winters, im Februar, beschloss er, mit den Weißen Jungs oben im Kill jagen zu gehen. Er sparte Geld und kaufte sich einen schicken Bogen. Er hatte mit Michaels Cousin gewettet, dass er mit Pfeil und Bogen schneller einen Bock erlegen könnte, als der mit einem Gewehr. Michaels Cousin war ein kleiner Typ mit einem schielenden Auge, der Cowboystiefel und Bier-T-Shirts wie eine Uniform trug; er war der Typ, der mit Highschool-Kids rumhing und mit Schülerinnen ausging, obwohl er schon Anfang dreißig war. Given trainierte mit Pop. Übte stundenlang hinten auf dem Grundstück schießen, obwohl er lieber Hausaufgaben hätte machen sollen. Fing an, genauso aufrecht wie Pop zu gehen, jede Faser in ihm so straff gespannt wie sein Bogen, bis er schließlich mit dem Pfeil genau in die Mitte der zwischen zwei Kiefern gespannten Leinwand traf, die fünfzig Meter entfernt war. Er gewann seine Wette in der Morgendämmerung eines kalten, bedeckten Wintertages, teils weil er richtig gut war, teils weil alle anderen, die ganzen Jungs, mit denen er Football spielte, in der Umkleide raufte und auf dem Spielfeld bis zum Umfallen gemeinsam schwitzte, an diesem Morgen schon zum Frühstück statt Orangensaft Bier getrunken hatten, weil sie glaubten, Given würde verlieren.

Damals kannte ich Michael noch nicht; ich hatte ihn ein paar Mal in der Schule gesehen, mit seinen dicken blonden Locken, die fast schon verfilzt aussahen, weil er sie nie kämmte. Seine Ellbogen, Hände und Füße waren aschfahl. Michael ging an dem Morgen nicht mit zum Jagen, weil er keine Lust hatte, so früh aufzustehen, aber er hörte davon, als sein Onkel mitten am Tag zu Big Joseph kam, während der Cousin langsam wieder nüchtern wurde und ein Gesicht machte, als habe er etwas Faules gerochen, eine vergiftete Ratte, die die Winterkälte ins Haus getrieben hatte, und der Onkel sagte: Er hat den Nigger erschossen. Dieser verdammte Blödmann hat den Nigger erschossen, weil er ihn besiegt hat. Und dann, weil Big Joseph jahrelang Sheriff gewesen war: Was machen wir jetzt? Michaels Mama sagte, sie sollten die Polizei rufen. Big Joseph beachtete sie gar nicht, und sie fuhren alle zusammen zurück in den Wald, liefen eine Stunde lang tief hinein und fanden Given, der ausgestreckt und reglos auf den Kiefernnadeln lag, in einer Pfütze aus dunklem Blut. Um ihn herum überall Bierdosen, die die Jungs hastig weggeworfen hatten, als sie abgehauen waren, nachdem der Cousin mit dem Schielauge gezielt und abgedrückt und der Schuss die Stille zerrissen hatte. Sie waren in alle Richtungen geflohen, wie die Kakerlaken vor dem Licht. Der Onkel hatte seinem Sohn eine runtergehauen, und dann noch eine. Du verdammter Idiot, hatte er gesagt. Es ist nicht mehr so wie früher. Und der Cousin hatte die Hände gehoben und gemurmelt: Er hätte verlieren sollen, Pa. Hundert Meter weiter lag der Bock auf der Seite, einen Pfeil im Hals, einen zweiten in der Flanke, genauso kalt und steif wie mein Bruder. Ihr Blut schon fast geronnen.

Jagdunfall, sagte Big Joseph, als sie wieder zu Hause waren und am Tisch saßen, das Telefon in der Hand, ehe der Vater des Cousins, genauso klein wie sein Sohn, aber mit synchronen Augen, die Polizei anrief. Jagdunfall, sagte der Onkel am Telefon, während das Licht der kühlen Mittagssonne durch die Vorhänge schnitt. Jagdunfall, sagte der schieläugige Cousin vor Gericht, das gute Auge auf Big Joseph gerichtet, der hinter dem Anwalt des Jungen saß, mit einer Miene so reglos und hart wie ein Porzellanteller. Aber sein schwaches Auge schweifte zu Pop und mir und Mama herüber; wir saßen alle nebeneinander hinter dem Staatsanwalt, einem Staatsanwalt, der sich auf einen Deal einließ, bei dem der Cousin zu drei Jahren in Parchman und zwei Jahren Bewährung verurteilt wurde. Ich frage mich, ob Mama wohl ein Summen von dem kranken Auge des Cousins vernommen hat, in seinem Umherwandern Reue gespürt hat, aber sie schaute nur durch ihn hindurch, während ihr ununterbrochen die Tränen über die Wangen liefen.

Ein Jahr nach Givens Tod pflanzte Mama einen Baum für ihn. An jedem Todestag einen, sagte sie mit vor Kummer brechender Stimme. Wenn ich lang genug lebe, wird hier ein Wald stehn, sagte sie, ein raunender Wald. Der von Wind und Blütenstaub und Schädlingsbefall erzählt. Dann schwieg sie, setzte den Baum in die Mulde und fing an, die Erde um die Wurzeln festzuklopfen. Ich hörte sie durch ihre Fäuste: Die Frau, die Marie-Therese unterrichtet hat – die konnte sehen. Alte Frau, sah fast Weiß aus. Tante Vangie. Sah die Toten. Marie-Therese hatte die Gabe nich. Ich auch nich. Sie grub ihre roten Fäuste tief in die Erde. Ich träum davon. Ich träum davon, Given zu sehn, wie er in seinen Stiefeln zur Tür reinkommt. Aber dann wach ich auf. Und sehe nichts. An der Stelle fing sie an zu weinen. Dabei weiß ich, dass es da is. Gleich hinter dem Schleier. Sie kniete so lange dort auf dem Boden, bis ihre Tränen versiegt waren, dann richtete sie sich auf und wischte sich übers Gesicht, beschmierte es überall mit Blut und Erde.

Vor drei Jahren, nach dem Koksen, habe ich Given zum ersten Mal gesehen. Es war nicht meine erste Line, aber Michael war gerade ins Gefängnis gekommen. Ich hatte mir angewöhnt, es oft zu tun; jeden zweiten Tag beugte ich mich über einen Tisch, schob Lines zusammen und inhalierte. Ich weiß, das war falsch: Ich war schwanger. Aber ich war wehrlos gegen das Verlangen, zu spüren, wie mir der Koks in die Nase stieg, direkt ins Gehirn schoss und allen Kummer und alle Verzweiflung über Michaels Abwesenheit wegbrannte. Als Given zum ersten Mal auftauchte, war ich auf einer Party im Kill, und mein Bruder kam einfach hereinspaziert, ohne Kugellöcher in der Brust oder im Hals, unversehrt und langgliedrig wie immer. Aber nicht grinsend. Er trug kein Hemd, und sein Nacken und Gesicht waren gerötet, so als wäre er gerannt, aber seine Brust war reglos wie Stein. So reglos wie er gewesen sein muss, nachdem Michaels Cousin ihn erschossen hatte. Ich dachte an Mamas kleinen Wald, an die zehn Bäume, die sie in einer immer größer werdenden Spirale bislang gepflanzt hatte, einen an jedem Todestag. Ich starrte Given an und knirschte mit den Zähnen, bis mein Zahnfleisch wund wurde. Ich verschlang ihn mit meinen Blicken. Er versuchte, mit mir zu reden, aber ich verstand ihn nicht, und er wurde immer frustrierter. Er setzte sich vor mir auf den Tisch, direkt auf den Spiegel mit dem Koks darauf. Ich konnte mich nicht mehr runterbeugen, ohne mit dem Gesicht in seinem Schoß zu landen, also saßen wir nur da und starrten uns an, und ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, damit meine Freunde nicht dachten, ich hätte den Verstand verloren. Sie grölten die Countrysongs mit, knutschten unbekümmert wie Teenager in dunklen Ecken oder liefen mit untergehakten Armen in Zickzackreihen nach draußen in die Dunkelheit. Given guckte mich an wie damals, als wir klein waren und ich die neue Angelrute zerbrochen hatte, die er gerade erst von Pop bekommen hatte: mordlüstern. Als ich runterkam, rannte ich fast zu meinem Auto. Ich zitterte so stark, dass ich kaum den Schlüssel ins Zündschloss bekam. Given stieg neben mir ein, auf den Beifahrersitz, wandte den Kopf und starrte mich mit steinerner Miene an. Ich höre auf, sagte ich. Ich schwöre, ich werde es nie wieder tun. Er fuhr mit mir bis nach Hause, und ich ließ ihn im Auto sitzen, während die Sonne aufging und den Rand des Horizonts in weiches Licht tauchte. Ich schlich in Mamas Schlafzimmer und betrachtete sie im Schlaf. Staubte ihren Altar ab: ihren Rosenkranz, der über der Marienfigur in der Ecke hing, machte mich an den blaugrauen Kerzen, den Flusskieseln, den drei getrockneten Rohrkolben und der einzelnen Yamswurzel zu schaffen. Als ich Givennicht-Given zum ersten Mal sah, erzählte ich meiner Mama nichts davon.

Durch einen Telefonanruf bei Michaels Eltern würde ich alles erfahren, was ich wissen musste. Ich könnte einfach zum Hörer greifen, die Nummer wählen und beten, dass Michaels Mutter ranging. Es wäre unser fünftes Gespräch, und ich würde sagen: Hallo, Mrs Ladner, ich weiß nicht, ob Sie Bescheid wissen, aber Michael kommt morgen raus, und ich und die Kinder und Misty fahren ihn abholen, Sie brauchen also nicht hin, okay, Ma’am, auf Wiederhören. Aber ich will nicht, dass Big Joseph rangeht und einfach auflegt, nachdem ich nur in die Sprechmuschel geatmet habe, ohne ein Wort zu sagen, während er auch kein Wort sagt. Immerhin könnte ich dann sicher sein, dass er Mrs Landner rangehen lassen würde, wenn ich es noch mal versuchte, damit sie sich mit dem Anrufer rumschlagen müsste, wer es auch sein mochte: Witzbold, Geldeintreiber, verwählt, die Schwarze Kindsmutter von seinem Sohn. Aber ich will mit alldem nichts zu tun haben: will weder in abgehackten Sätzen mit Michaels Mutter reden noch Big Josephs bleiernes Schweigen ertragen. Deshalb fahre ich landeinwärts zum Kill, den Kofferraum mit großen Wasserkanistern und Baby-Feuchttüchern und Schlafsäcken und Taschen mit Klamotten vollgepackt, um eine Nachricht in den Briefkasten am Ende ihrer Auffahrt zu stecken, eine atemlose Nachricht. Dasselbe, was ich hastig gesagt hätte. Ohne Punkt und Komma. Unterschrieben mit: Leonie.

Michael hatte noch nie ein Wort mit mir gesprochen. Eines Tages in der Schule, ein Jahr nach Givens Tod, setzte sich Michael in der Mittagspause neben mich auf den Rasen, berührte meinen Arm und sagte: Tut mir leid, dass mein Cousin so ein blöder Idiot ist. Ich dachte, das war’s. Dass Michael nach dieser Entschuldigung weggehen und nie wieder mit mir sprechen würde. Aber so war es nicht. Er fragte mich ein paar Wochen später, ob ich mit ihm Angeln gehen wollte. Ich sagte Ja und spazierte einfach durch die Haustür hinaus. Es war nicht mehr nötig, mich wegzuschleichen, meine Eltern waren völlig in ihrer Trauer versunken. Auf die Spinne fixiert: blind für das Netz. Als Michael und ich uns zum ersten Mal trafen, gingen wir mit unseren Angeln auf den Pier hinaus, weg vom Strand; ich hatte Givens Angel dabei und trug sie vor mir her wie eine Opfergabe. Wir redeten über unsere Familien, über seinen Vater. Er sagte: Er’s alt – ’n alter Dickschädel. Mehr brauchte er nicht zu sagen, ich wusste auch so, was er meinte. Er wäre stocksauer, wenn er wüsste, dass ich mit dir hier bin und dass ich dich küssen werde, bevor der Abend rum ist. Oder, kürzer gesagt: Nigger bleiben für ihn Nigger. Und ich schluckte die bittere Galle, dass sein Vater so war, und ließ sie durch mich hindurchgleiten, denn der Vater ist nicht der Sohn, dachte ich. Denn wenn ich Michael in der scheckigen Dunkelheit unter dem Laubendach am Ende des Piers anschaute, konnte ich den Schatten von Big Joseph in ihm erkennen; ich betrachtete seinen langen Hals und seine langen Arme, seinen schlanken, muskulösen Körper, den schmalen Brustkorb, und ich konnte sehen, wie die Jahre ihn aufweichen und seinem Vater angleichen würden. Wie Fett ihn umlagern würde, wie er sich in seinem stattlichen Knochengerüst einrichten würde, ähnlich wie ein Haus sich in die Erde schmiegt. Ich musste mir immer wieder sagen: Sie sind nicht gleich. Michael beugte sich über unsere Angeln, und seine Augen veränderten ihre Farbe wie die Wolkenberge am Himmel vor einem Unwetter: tiefdunkles Blau, Wassergrau, Spätsommergrün. Er war gerade so groß, dass sein Kinn, wenn er mich umarmte, auf meinem Kopf lag und ich unter ihm geborgen war. Als gehörte ich dorthin. Und ich wollte Michaels Mund auf mir spüren, denn von dem Moment an, als ich im Schatten des Schulschildes gesessen hatte und ihn über den Rasen auf mich zukommen sah, hatte er mich gesehen. Hatte durch Haut in der Farbe von Kaffee ohne Milch, durch schwarze Augen und durch pflaumenbraune Lippen hindurchgeschaut und mich gesehen. Sah die wandelnde Wunde, die ich war, und kam, um Balsam für mich zu sein.

Big Joseph und Michaels Mutter wohnen auf einem Hügel, in einem niedrigen Landhaus mit weißen Wänden und grünen Rollläden. Es wirkt groß. In der Auffahrt stehen zwei Lieferwagen, strahlen neue, glänzende Pick-ups, die die Sonne reflektieren und Lichtblitze in alle Richtungen schicken. Ein roter Lieferwagen und ein weißer. Drei Pferde grasen auf den parzellierten Wiesen, die ans Haus angrenzen, und eine Schar Hühner rennt über den Hof, duckt sich unter die Pick-ups und verschwindet hinter dem Haus. Ich fahre rechts ran und halte kurz vor ihrem Briefkasten; der grasbewachsene Seitenstreifen am Straßenrand ist hier nicht so breit und grenzt an einen mindestens hüfttiefen Graben, sodass ich aussteigen und zu Fuß zum Briefkasten gehen muss, statt einfach dicht ranzufahren und meinen Zettel vom Wagen aus einzuwerfen. Es ist ein paar Tage her, seit es zuletzt geregnet hat. Als ich zum Kasten gehe, knirscht das trockene Gras unter meinen Füßen. Es sind keine anderen Autos auf dieser Straße unterwegs. Sie wohnen weit oben im Kill, wo bloß noch wenige Häuser und Wohnwagen auf den weiten Feldern stehen, am Ende einer Sackgasse.

Gerade als ich die Briefkastenklappe öffne, höre ich ein Summen, das zu einem Brummen anschwillt, aus dem ein Dröhnen wird, und dann kommt ein Mann auf einem riesigen Aufsitzrasenmäher mit Verdeck ums Haus gefahren, eins von diesen superteuren Modellen, die so groß wie ein Traktor sind. So einer kostet so viel wie mein Auto. Ich lege den Zettel in den Briefkasten. Der Mann fährt auf das nördliche Ende der Grasfläche zu, biegt nach links ab und fährt langsam in Richtung Straße. Er will anscheinend den Rasen von oben nach unten mähen, in langen, geraden Streifen.

Ich fasse den Türgriff an, ziehe die Autotür auf, und sie quietscht, als Metall gegen Metall schabt. »Mist.«

Er schaut hoch. Ich steige ins Auto.

Der Rasenmäher wird schneller. Ich drehe den Schlüssel um. Der Motor stottert und geht aus. Ich drehe den Schlüssel zurück, starre auf das Armaturenbrett, als könne ich den Motor zum Anspringen bringen, wenn ich nur lange genug hinschaue. Vielleicht hilft Beten.

»Mist, Mist, Mist.«

Ich drehe den Schlüssel erneut um. Der Motor heult auf und springt an. Der Mann, der, wie ich jetzt erkenne, Big Joseph ist, hat seinen Plan, zuerst den oberen Teil des Gartens zu mähen, aufgegeben und fährt jetzt diagonal über die Grasfläche, um schneller bei mir und dem Briefkasten zu sein. Und dann zeigt er mit dem Finger, und ich sehe das Schild, das knapp einen Meter vom Briefkasten an einen Baum genagelt ist. Betreten verboten.

Er beschleunigt.

»Verdammt noch mal!«

Ich schalte auf Drive, schaue nach hinten, ob die Straße frei ist, und sehe ein Auto kommen, einen grauen SUV. Angst steigt in mir auf, bis zu den Schultern, dann den Nacken hoch, brodelnd und erstickend. Ich weiß gar nicht, wovor ich mich fürchte. Was kann er schon machen, außer mich zu beschimpfen? Was kann er tun? Ich bin nicht in seiner Auffahrt. Gehört der Straßenrand nicht dem County? Aber bei dem Tempo, mit dem er mich mit dem Rasenmäher ansteuert, der Art und Weise, wie Big Joseph auf den Baum zeigt, wie dieser Baum, eine Sumpfeiche, aufragt und seine Äste, die fast schwarzen Äste mit den Millionen von dunkelgrünen Blättern bis über die Straße ausbreitet, der Entschlossenheit, mit der dieser Mann auf mich zugerast kommt, muss ich unweigerlich an Gewalt denken. Ich steige aufs Gaspedal und lenke den Wagen auf die Straße, das Auto hinter mir schlingert und hupt, aber das ist mir egal. Die Automatik wechselt jaulend von einem Gang in den nächsten. Ich schwenke herum und beschleunige. Der graue SUV ist in eine Auffahrt gefahren, aber der Fahrer winkt aus dem Fenster, und Big Joseph fährt unter dem Baum durch, hält am Briefkasten, wo ich gerade gewesen bin, klettert von seinem Mäher und geht mit großen Schritten auf den Kasten zu. Er hat vom Mähersitz etwas mitgenommen, ein Gewehr, das dort gelegen hat, etwas, das er immer dabei hat und mitnimmt, falls er im Wald auf rammelnde Wildschweine stößt. Aber nicht ihretwegen diesmal. Meinetwegen.

Als ich an ihm vorbeifahre, strecke ich meinen linken Arm aus dem Fenster. Balle die Hand zur Faust. Hebe den Mittelfinger. Ich sehe meinen Bruder auf seinem letzten Foto: eins von seinem achtzehnten Geburtstag, auf dem er mit dem Rücken an der Küchentheke lehnt, während ich ihm den Süßkartoffel-Pekannusskuchen, seinen Lieblingskuchen, hinhalte, damit er die Kerzen ausblasen kann; er hat die Arme vor der Brust verschränkt, das Lächeln in seinem schwarzen Gesicht ist weiß. Wir lachen alle. Ich beschleunige so stark, dass die Reifen durchdrehen, es nach verbranntem Gummi riecht und eine Qualmwolke aufstiebt. Ich hoffe, Big Joseph kriegt einen Asthmaanfall. Ich hoffe, er erstickt daran.

3. Kapitel
JOJO

ZUM FRÜHSTÜCK GABS HEUT kalte Ziege mit Soße und Reis: Obwohl mein Geburtstag schon zwei Tage her ist, war der Topf noch halb voll. Als ich aufgewacht bin, stieg Leonie grade über mich rüber. Sie hatte eine Tasche über der Schulter und nahm Kayla hoch. »Aufstehn«, sagte Leonie, ohne mich anzugucken, runzelte aber die Stirn, als Kayla beim Aufwachen quengelte. Ich stand auf, putzte mir die Zähne, zog mir meine Basketballshorts und ein T-Shirt an und trug meine Tüte raus zum Auto. Leonie hatte eine richtige Tasche, irgendwas aus Baumwolle und Segeltuch, auch wenn sie schon ein bisschen ramponiert aussah und an den Kanten aufging. Meine Tasche war eine Einkaufstüte aus Plastik. Ich brauchte nie eine Reisetasche, also hatte Leonie mir nie eine gekauft. Wir fahren zum ersten Mal mit ihr in den Norden zum Gefängnis. Ich wollte das Ziegenfleisch warm essen, es in der kleinen braunen Mikrowelle heiß machen, von der Pop sagt, sie würde unser Essen mit Krebs verseuchen, weil die Emaille innen drin abblättert wie Farbe. Pop macht nie was darin warm, und Leonie will nicht die Hälfte bezahlen, um eine neue zu kaufen. Als ich das Essen grade in die Mikrowelle stellen wollte, kam Leonie vorbei und sagte: »Dafür is keine Zeit.« Also füllte ich die Reste meines Geburtstagsessens in eine Styroporschüssel, schlich ins Zimmer, um der schlafenden Mam einen Kuss zu geben, die im Schlaf zuckte und Babys murmelte, und ging dann raus zum Auto.

Pop wartete auf uns. Er sah aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen, in den gestärkten Khakihosen und dem kurzärmligen Hemd mit Knopfleiste, alles in Grau-Braun, genau wie er selbst. Er passte zum Himmel, in dem die Wolken tief hingen, ein silbernes Küchensieb, zum Überlaufen voll. Es nieselte. Leonie warf ihre Tasche auf den Rücksitz und marschierte zurück ins Haus. Misty spielte mit den Knöpfen am Radio, und der Motor lief schon. Pop schaute mich stirnrunzelnd an, deshalb schlurfte ich zu ihm hin. Schaute auf meine Füße. Meine Basketballschuhe gehörten Michael; ein altes Paar, das ich unter Leonies Bett gefunden hatte und das mir zwei Nummern zu groß war. Das war mir egal. Es waren Jordans, also trug ich sie trotzdem.

»Könnte heftig regnen unterwegs.«

Ich nickte.

»Weißt du noch, wie man einen Reifen wechselt? Ölstand und Kühlflüssigkeit prüft?«

Ich nickte wieder. Pop hatte mir das alles beigebracht, als ich zehn war.

»Gut.«

Ich hätte Pop am liebsten gesagt, dass ich gar nicht mitfahren wollte, dass ich wünschte, Kayla und ich könnten zu Hause bleiben, und vielleicht hätte ich das auch getan, wenn er nicht so wütend ausgesehen hätte, wenn sein finsterer Gesichtsausdruck nicht ausgesehen hätte, als wäre er förmlich in Mund und Stirn eingemeißelt, wenn Leonie nicht grade mit Kayla herausgekommen wäre, die sich die Augen rieb und weinte, weil sie im grauen Dämmerlicht geweckt wurde. Es war sieben Uhr morgens. Also sagte ich, was ich konnte.

»Ist schon gut, Pop.«

Da glättete sich seine Miene ganz kurz, lange genug, um zu sagen: »Pass auf sie auf.«

»Mach ich.«

Leonie richtete sich auf, nachdem sie Kayla hinten auf ihrem Sitz angeschnallt hatte.

»Beeil dich, wir müssen los.«

Ich trat einen Schritt auf Pop zu und umarmte ihn. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das zum letzten Mal gemacht hatte, aber es schien mir wichtig, es jetzt zu tun, die Arme um ihn zu legen und meine Brust an seine zu drücken. Ihm mit den Fingerspitzen ein, zwei Mal auf den Rücken zu klopfen und ihn dann loszulassen. Er ist mein Pop, dachte ich. Er ist mein Pop.

Er legte seine Hände auf meine Schultern und drückte sie, dann schaute er meine Nase an, meine Ohren, mein Haar und schließlich, als ich einen Schritt zurücktrat, in meine Augen.

»Du bist ein Mann, hörst du?«, sagte er. Ich nickte. Er drückte mich noch einmal, den Blick auf die vergessenen Schuhe gesenkt, die ich trug und die neben seinen Arbeitsstiefeln schlabbrig und albern aussahen, und der Boden in der Auffahrt war sandig, das Gras abgewetzt von Leonies Auto, und der Himmel hing schwer über uns allen, sodass alle Tiere, die ich zu verstehen glaubte, still waren, unter dem sich sammelnden Frühjahrsregen kleinlaut schwiegen. Das einzige Tier, das ich vor mir sah, war Pop, Pop mit seinen geraden Schultern und dem langen Rücken; sein flehender Blick war alles, was in diesem Moment zu mir sprach und mir verriet, was er ohne Worte sagte: Ich hab dich lieb, Junge. Hab dich lieb.

Jetzt regnet es, es gießt in Strömen, das Wasser schlägt heftig gegen unser Auto. Kayla schläft, eine leergesaugte Tüte Capri-Sonne in einer Hand, einen halben Cheeto-Stick in der anderen, das Gesicht orange verschmiert. Ihre blonden Afro-Locken kleben am Kopf. Misty summt den Song im Radio mit; sie trägt ihr Haar in einem Dutt. Ein paar Strähnen haben sich gelöst und hängen im Nacken. Ihr Haar wird langsam dunkel vom Schweiß. Es ist heiß im Auto, und ich sehe zu, wie die Haut an ihrem Haaransatz feucht wird und sich Tropfen bilden, die wie Regenwasser an der Säule ihres Halses herunterlaufen und in ihrem Ausschnitt verschwinden. Je länger wir fahren, desto wärmer wird es, und Mistys T-Shirt, das am Hals weit und tief ausgeschnitten ist, dehnt sich noch mehr, sodass der Rand ihres BHs zum Vorschein kommt, und da ich groß bin, kann ich ihn vom Rücksitz aus sehen, wenn ich diagonal durchs Auto schaue. Er ist neonblau. Die Fensterscheiben beschlagen allmählich.

»Findet ihr es nich heiß?« Misty fächelt sich mit einem Stück Papier, das sie aus Leonies Handschuhfach genommen hat, Luft zu. Sieht aus, als wären es Leonies gefälschte Autoversicherungspapiere. Die Leute zahlen Misty zwanzig Dollar, um Kopien von solchen Ausweisen zu machen und ihre Namen darauf einzutragen, damit sie, falls sie von einer Polizeistreife angehalten und kontrolliert werden, so tun können, als wären sie versichert.

»Ein bisschen«, sagt Leonie.

»Du weißt ja, ich kann Hitze nicht ab. Sie bringt meine Allergien zum Ausbruch.«

»Und das sagt eine, die in Mississippi aufgewachsen ist.«

»Sehr witzig …«

»Ich sag ja nur, dass du im falschen Staat lebst, wenn du keine Hitze abkannst.«

Mistys Haar ist am Ansatz dunkel, überall sonst blond. Sie hat Sommersprossen auf den Schultern.

»Vielleicht sollte ich nach Alaska ziehen«, sagt Misty.

Wir fahren den ganzen Weg Landstraße. Nachdem ich mich hinter ihr auf den Rücksitz gesetzt hatte, hat Leonie mir den Straßenatlas auf den Schoß geworfen und gesagt: »Lies die Karte.« Sie hat die Strecke mit einem Stift nachgezeichnet; sie führt durch ein Gewirr von zweispurigen Highways in Richtung Norden und ist an manchen Stellen, wo Leonie mit dem Finger über die Fläche des Bundesstaats gefahren ist, verschmiert. Die Markierung ist dunkel, deshalb kann ich die Straßennamen kaum lesen, weil die Buchstaben und Nummern übermalt sind. Aber ich erkenne den Namen des Gefängnisses, dasselbe, wo Pop war: Parchman. Manchmal frage ich mich, wer dieser parched man, der ausgedörrte Mann, wohl war, der Mann, der nach Wasser schmachtete und nach dem die Stadt und das Gefängnis benannt wurden. Frage mich, ob er wohl wie Pop ausgesehen hat, aufrecht von Kopf bis Fuß, mit brauner Haut, die rötlich schimmerte, oder wie ich mit meiner Mischfarbe, oder wie Michael, mit einer Haut wie Milch. Frage mich, was der Mann gesagt hat, bevor er an ausgetrockneter Kehle gestorben ist.

»Ich auch«, sagt Leonie. Gestern Abend hat sie ihr Haar gelöst und im Küchenwaschbecken ausgespült, sodass es jetzt so glatt und flaumig ist wie Mistys. Misty hat vor ein paar Wochen Leonies Haarspitzen im gleichen Blondton gefärbt wie ihre eigenen, und als Leonie sich über das Becken beugte, ihre Haare spülte und hörbar die Luft einsog, als das Wasser über ihre Kopfhaut lief, über die von den Chemikalien verbrannten Stellen, die kleinen, runden Schorfplättchen, die ich später sehen sollte, da kam mir ihr Haar so vor, als würde es gar nicht zu ihr gehören, so schlapp und fließend und orange-blond, wie es da im Becken hing. Jetzt bauscht und kräuselt es sich allmählich wieder.

»Mir gefällt’s hier.«, sage ich. Die beiden beachten mich gar nicht. Es stimmt. Ich mag die Hitze. Ich mag es, wie der Highway die Wälder durchschneidet, sich zuverlässig und abwechselnd auf und ab in Richtung Norden über die Hügel schlängelt. Ich mag die Bäume, die bis zu den Straßenrändern reichen, die Kiefern, die hier oben dicker und höher sind, weil sie von dem peitschenden Wind verschont bleiben, der die Bäume an der Küste dürr und brüchig macht. Doch das hält die Leute nicht davon ab, sie zu fällen, um ihre Häuser bei Sturm zu schützen oder ihre Geldbeutel zu füttern. Zwischen diesen Bäumen könnte echt viel passieren.

»Wir müssen mal anhalten«, sagt Leonie.

»Wieso?«

»Tanken«, sagt Leonie. »Und ich hab Durst.«

»Ich auch«, sage ich.

Als wir auf dem Schotterstreifen bei der kleinen Tankstelle zum Stehen kommen, gibt mir Leonie die gleichen dreißig Dollar, die sie heute Morgen, das hab ich beim Einsteigen ins Auto gesehen, von Misty bekommen hat, und guckt mich an, als hätte sie nicht gehört, dass ich Durst hab.

»Fünfundzwanzig für Benzin. Hol mir eine Cola und bring das Wechselgeld zurück.«

»Kann ich auch eine?«, drängele ich. Ich stell mir die dunkle, brennende Süße vor. Ich schlucke, und meine Kehle ist so rau wie Klettband. Ich glaub, ich weiß, wie sich der parched man gefühlt hat.

»Bring mir das Wechselgeld.«

Ich will nich weggehn. Ich will weiter in Mistys Ausschnitt schauen. Ihr BH blitzt wieder grellblau auf, ein Blau, das ich bisher nur auf Fotos gesehen habe, die Farbe des tiefen Wassers draußen im Golf von Mexiko. Das gleiche Blau wie auf den Bildern, die Michael gemacht hat, als er auf der Ölplattform vor der Küste gearbeitet hat, wo das Wasser eine lebende nasse Landschaft war und mit dem Himmel zusammen eine riesige blaue Schüssel ergab.

Das Licht drinnen im Laden ist noch trüber als der fade Glanz des Frühlings draußen. Eine Frau sitzt hinter der Ladentheke, und sie ist hübscher als Misty. Schwarzer Afro, die Lippen von der Klimaanlage pink bis bläulich, der Mund wie ein umgekehrtes U. Sie hat meine Hautfarbe und ist auch molliger als Misty, und ich spüre in der Brust ein Aufglühen, so als hätte mich ein gekapptes, Funken sprühendes Stromkabel getroffen.

»Hi«, murmelt sie und spielt dann weiter auf ihrem Handy. Alle Wände sind mit Metallregalen vollgestellt, und die Metallregale sind voller Staub. Ich gehe in den dunkleren hinteren Teil, als wäre ich schon mal da gewesen, als würde ich mich auskennen, als wüsste ich, was ich wollte und wo es ist. So wie ein Mann gehen würde. So wie Pop gehen würde. Meine Augen brennen, und dann entdecke ich den Glasschrank mit den Getränken im vorderen Ladenteil. Ich starre die Scheibe an, stelle mir vor, wie kühl und nass so ein sprudelnder Softdrink wäre, und schlucke gegen meine ausgedörrte, zugeschnürte Kehle an: trocken wie ein Felsbach bei Dürre. Meine Spucke ist dicker Brei. Ich schaue zu der Angestellten, und sie beobachtet mich, also nehme ich die größte Cola und versuche nicht mal, mir noch eine zweite in die Tasche zu schieben. Ich gehe nach vorne.

»Ein Dollar dreißig«, sagt sie, und ich muss mich vorbeugen, um sie zu verstehen, denn es donnert mit lautem Knall, und dann schüttet der Himmel Wasser über dem Blechdach des Gebäudes aus: Es trommelt und dröhnt. In ihren Ausschnitt kann ich nicht gucken, aber ich denke daran, als ich draußen im Regen stehe, mir den hinteren Teil meines T-Shirts über den Kopf ziehe, als würde mich das schützen, obwohl ich durch und durch nass bin, der Benzingeruch sich mit dem aufsteigenden Dunst der feuchten Erde mischt und der Regen mir die Augen verschließt und an meiner Nase herunterläuft. Ich habe das Gefühl, keine Luft zu kriegen. Gerade noch rechtzeitig fällt es mir ein, und ich lege den Kopf in den Nacken, halte den Atem an und lasse den Regen durch meine Kehle laufen. Kühl wie eine schmale Messerklinge, als ich schlucke. Einmal. Zweimal. Dreimal, weil die Pumpe so schwach ist. Der Regen drückt mir die Augen zu, massiert sie. Ich höre ein Wispern, ein hingehuschtes Wort, aber dann ist es weg, als der Zapfstutzen einrastet und der Schlauch schlaff wird. Das Auto ist nah und warm, und Kayla schnarcht.

»Wenn du solchen Durst hattest, hätte ich dir was zu trinken kaufen können«, sagt Misty. Ich zucke die Achseln, und Leonie lässt den Motor an. Ich ziehe mein Shirt aus, das so schwer ist wie ein nasses Handtuch, und lege es auf den Boden, ehe ich mich bücke, um in meiner Tasche nach einem anderen zu wühlen. Als ich es überstreife, bemerke ich, dass Misty mich im Spiegel der Sonnenblende des Beifahrersitzes anschaut, während sie Lipgloss aufträgt und ihre Lippen statt des trockenen Rosa einen glänzenden Pfirsichton annehmen; als sie sieht, dass ich sehe, wie sie guckt, zwinkert sie mir zu. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.


Ich war elf, als Mam mich aufgeklärt hat. Da war sie schon so krank, dass sie jeden Tag mitten am Tag mehrere Stunden im Bett verbrachte, mit einem dünnen Laken um die Taille einschlief und immer wieder hochschreckte. Sie war wie eins von Pops Tieren, das sich im Schuppen oder in einem der Unterstände an der Seite versteckt, um der Hitze zu entkommen. Doch an diesem Tag schlief sie nicht.

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9783956142284
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