Читать книгу: «Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt»

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Zum Buch

Ein großer Roman aus dem amerikanischen Süden, ein zärtliches Familienporträt in einer von Armut und Rassismus geprägten Gesellschaft.

Jojo und seine kleine Schwester Kayla leben bei ihren Großeltern Mam and Pop an der Golfküste von Mississippi. Leonie, ihre Mutter, kümmert sich kaum um sie. Sie nimmt Drogen und arbeitet in einer Bar. Wenn sie high ist, wird Leonie von Visionen ihres toten Bruders heimgesucht, die sie quälen, aber auch trösten. Mam ist unheilbar an Krebs erkrankt, und der stille und verlässliche Pop versucht, den Haushalt aufrecht zu erhalten und Jojo beizubringen, wie man erwachsen wird. Als der weiße Vater von Leonies Kindern aus dem Gefängnis entlassen wird, packt sie ihre Kinder und eine Freundin ins Auto und fährt zur "Parchment Farm", dem staatlichen Zuchthaus, um ihn abzuholen. Eine Reise voller Gefahr und Hoffnung.

Jesmyn Ward erzählt so berührend wie unsentimental von einer schwarzen Familie in einer von Armut und tief verwurzeltem Rassismus geprägten Gesellschaft. Was bedeuten familiäre Bindungen, wo sind ihre Grenzen? Wie bewahrt man Würde, Liebe und Achtung, wenn man sie nicht erfährt? „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ ist ein großer Roman, getragen von Wards so besonderer melodischer Sprache, ein zärtliches Familienporträt, eine Geschichte von Hoffnungen und Kämpfen, voller Anspielungen auf das Alte Testament und die Odyssee.

Über die Autorin

Jesmyn Ward, geb. 1977, wuchs in DeLisle, Mississippi, auf. Nach einem Literaturstudium in Michigan war sie Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi. Sie lehrt derzeit Englische Literatur an der Tulane University in New Orleans. Bereits ihr erster Roman »Vor dem Sturm« wurde mit dem National Book Award ausgezeichnet, für »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« erhielt sie ihn 2017 ein zweites Mal.

Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Roman

Aus dem Englischen

von Ulrike Becker

Verlag Antje Kunstmann

Für meine Mutter, Norine Elizabeth Dedeaux, die mich liebte, noch bevor ich den ersten Atemzug tat. Das lässt sie mich in jeder Sekunde meines Lebens spüren.

Wen suchen wir, wen suchen wir? Equiano suchen wir. Ist er an den Fluss gegangen? Dann soll er wiederkommen. Ist er auf die Felder gegangen? Dann soll er zurückkehren. Equiano suchen wir.

Gesang der Kwa

[Das Gedächtnis] ist etwas Lebendiges – und als solches vergänglich. Doch wenn der Moment kommt, strömt alles Erinnerte zusammen und erwacht zum Leben – Alt und Jung, Vergangenheit und Gegenwart, Lebende und Tote.

Eudora Welty

The Gulf shines, dull as lead. The coast of Texas glints like a metal rim. I have no home as long as summer bubbling to its head boils for that day when in the Lord God’s name the coals of fire are heaped upon the head of all whose gospel is the whip and flame, age after age, the uninstructing dead.

Derek Walcott

1. Kapitel
JOJO

ICH STELL MIR GERNE VOR, dass ich weiß, was der Tod ist. Ich stell mir gerne vor, dass er etwas ist, dem ich ins Auge sehen kann. Als Pop zu mir sagt, ich soll ihm helfen, und ich das schwarze Messer seh, das hinter seinem Gürtel steckt, folge ich ihm nach draußen und versuche, den Rücken durchzustrecken und die Schultern so gerade wie einen Kleiderbügel zu halten; so geht Pop. Ich tu so, als wär die Sache ganz normal und langweilig, damit Pop denkt, dass ich mir diese dreizehn Jahre verdient hab, damit er weiß, dass ich bereit bin zu tun, was getan werden muss, Eingeweide von Muskeln zu trennen, Organe aus ihren Höhlen zu schälen. Ich will Pop zeigen, dass ich mit Blut klarkomme. Heute ist mein Geburtstag.

Ich halte die Tür fest, damit sie nich zuknallt, dann lasse ich sie ganz leise einklicken. Mam und Kayla sollen nich aufwachen, wenn keiner von uns im Haus is. Besser, sie schlafen. Besser, meine kleine Schwester Kayla schläft weiter, denn in den Nächten, wenn Leonie arbeiten is, wird sie jede Stunde wach, setzt sich im Bett auf und schreit. Besser, Großmutter Mam schläft weiter, denn die Chemo hat sie ausgetrocknet und ausgezehrt, so wie die Sonne und die Luft es bei den Wassereichen machen. Pop schlängelt sich zwischen den Bäumen durch, aufrecht und schlank und braun wie eine junge Kiefer. Er spuckt auf die trockene rote Erde, und die Baumkronen winken im Wind. Es ist kalt. Dieser Frühling ist stur, an den meisten Tagen lässt er keine Wärme durch. Die Kälte bleibt einfach da, so wie Wasser in einer verstopften Badewanne. Ich hab mein Hoodie auf dem Fußboden in Leonies Zimmer liegen lassen, wo ich schlafe, und mein T-Shirt ist dünn, aber ich reibe mir trotzdem nich die Arme. Wenn ich mich von der Kälte ärgern lasse und dann die Ziege sehe, werd ich ganz bestimmt zusammenzucken oder die Stirn runzeln, wenn Pop ihr die Kehle durchschneidet. Und wie ich Pop kenne, wird er es merken.

»Wir lassen die Kleine lieber schlafen«, sagt Pop.

Pop hat unser Haus selbst gebaut, vorne schmal und lang, dicht an der Straße, damit er den Wald auf dem Rest des Grundstücks stehen lassen konnte. Die Ställe für seine Schweine, Ziegen und Hühner hat er auf kleine Lichtungen zwischen die Bäume gesetzt. Zu den Ziegen müssen wir am Schweinestall vorbei. Die Erde dort ist schwarz und matschig vom Kot, und seit Pop mich, als ich sechs war, mal verprügelt hat, weil ich ohne Schuhe im Schweinegehege rumgelaufen bin, war ich nie wieder barfuß hier draußen. Du kannst dir dabei Würmer holen, hatte Pop gesagt. Später an dem Abend hat er mir Geschichten von sich und seinen Geschwistern erzählt, als sie noch klein waren und immer barfuß gespielt haben, weil jeder nur ein Paar Schuhe besaß, und das war zum in die Kirche gehen. Sie haben alle Würmer gekriegt, und wenn sie aufs Plumpsklo gingen, haben sie sich die Würmer aus dem Po rausgezogen. Ich hab es Pop nicht gesagt, aber das hat besser gewirkt als die Schläge.

Pop wählt die unglückliche Ziege aus, legt ihr den Strick wie eine Schlinge um den Hals und führt sie aus dem Stall. Die anderen blöken und stubsen ihn an, rammen ihm ihre Köpfe in die Kniekehlen und lecken an seiner Hose.

»Heh, weg da!«, sagt Pop und tritt nach ihnen. Ich glaub, die Ziegen verstehn sich; ich seh das an den bockigen Kopfstößen, daran, wie sie sich in Pops Hose verbeißen und am Stoff zerren. Ich glaub, sie wissen, was die lose Schlinge um den Hals der einen bedeutet. Der weiße Bock mit dem dunkelgefleckten Fell tänzelt hin und her, er wehrt sich, als ob er schon ahnt, wo es für ihn hingeht. Pop zieht ihn an den Schweinen vorbei, die zum Zaun gerannt kommen und Pop angrunzen, weil sie Futter wollen, und dann den Weg runter zum Schuppen, der dichter am Haus steht. Zweige klatschen an meine Schultern, kratzen mich und hinterlassen dünne weiße Schrammen auf meinen Armen.

»Wieso hast du hier nicht mehr gerodet, Pop?«

»Zu wenig Platz«, sagt Pop. »Und keiner brauch zu sehn, was ich da hinten hab.«

»Man kann die Tiere doch vorn hören. Von der Straße aus.«

»Und wenn einer versucht, sich herzuschleichen und sich an meine Tiere ranzumachen, dann hör ich ihn durch diese Bäume kommen.«

»Du meinst, die Tiere würden sich klauen lassen?«

»Nein. Ziegen sind garstig, und Schweine sind schlauer, als man denkt. Und gemein. So’n Schwein beißt jeden, von dem es nich gewohnt is, Futter zu kriegen.«

Pop und ich gehen in den Schuppen. Pop bindet den Ziegenbock an einen Pfahl, den er in den Boden gerammt hat, und der Bock blökt ihn an.

»Kennst du irgendwen, der seine Tiere draußen hat?«, sagt Pop. Und Pop hat recht. Keiner in Bois lässt seine Tiere frei rumlaufen, weder auf den Feldern noch vorne vor dem Haus.

Der Bock wirft den Kopf hin und her, stemmt sich nach hinten. Versucht, den Strick abzuschütteln. Pop schwingt ein Bein über das Tier, zwängt es ein und schiebt ihm seinen Arm unters Kinn.

»Big Joseph«, sage ich. Als ich das sage, würde ich am liebsten rausgucken, über meine Schulter auf den hellen grünen Tag draußen, aber ich zwinge mich, den Blick auf Pop zu richten, auf den Bock, dem zum Sterben der Hals gestreckt wird. Pop schnaubt verächtlich. Ich wollte den Namen eigentlich gar nicht aussprechen. Big Joseph ist mein Weißer Opa, Pop mein Schwarzer. Ich wohne seit meiner Geburt bei Pop; meinen Weißen Opa hab ich zwei Mal gesehen. Big Joseph ist rund und groß und sieht ganz anders aus als Pop. Er sieht noch nicht mal so aus wie Michael, mein Vater, der schlank ist und überall Tattoos hat. Die hat er sich als Andenken bei Möchtegern-Künstlern machen lassen, in Bois und draußen auf dem Wasser, als er offshore gearbeitet hat, und im Gefängnis.

»Na also«, sagt Pop.

Pop ringt mit dem Bock wie mit einem Mann, und der Bock knickt ein. Er fällt vorwärts in den Sand und dreht den Kopf zur Seite, sodass er mich anguckt und mit der Wange über die schmutzige Erde und den blutbefleckten Schuppenboden schabt. Er zeigt mir sein sanftes Auge, aber ich gucke trotzdem nich weg, zucke mit keiner Wimper. Pop macht den Schnitt. Der Bock gibt einen überraschten Laut von sich, ein Blöken, das von einem Gurgeln erstickt wird, und dann ist überall Blut und Schlamm. Die Beine des Tiers werden schlapp wie Gummi, und Pop kämpft nicht mehr. Mit einer schnellen Bewegung steht er auf, bindet die Fesseln mit einem Strick zusammen und zieht dann den Tierkörper hoch zu einem Haken, der am Dachsparren hängt. Das Auge: noch feucht. Es schaut mich an, als wäre ich derjenige, der ihm die Kehle aufgeschlitzt hat, als wäre ich derjenige, der ihn ausbluten lässt, bis sein Gesicht ganz rot und blutdurchtränkt ist.

»Könn’ wir?«, fragt Pop. Dann schaut er mich kurz an. Ich nicke. Meine Stirn schlägt Falten, mein Gesicht ist verkrampft. Ich versuche, mich zu entspannen, während Pop an den Beinen entlangschneidet, dem Ziegenbock Hosennähte verpasst, Hemdnähte, Schlitze überall.

»Hier festhalten«, sagt Pop. Er zeigt auf einen Schlitz am Bauch des Tiers, also greife ich mit den Fingern hinein und packe zu. Es ist noch warm, und nass. Bloss nicht abrutschen, ermahne ich mich. Nicht loslassen.

»Jetzt ziehen«, sagt Pop.

Ich ziehe. Die Ziege wird von innen nach außen gekehrt. Schleim und Gestank überall, irgendwas riecht muffig und beißend, wie ein Mann, der tagelang nicht geduscht hat. Das Fell lässt sich abschälen wie eine Bananenschale. Ich staune jedes Mal, wie leicht es abgeht, sobald man nur dran zieht. Pop zieht kräftig auf der anderen Seite, und dann schneidet und reißt er das Fell an den Hufen ab. Ich ziehe die Haut auf meiner Seite über das Tierbein bis zum Fuß, kriege sie aber nicht so gut ab wie Pop, deshalb übernimmt er das Abschneiden und Abreißen.

»Andere Hälfte«, sagt Pop. Ich greife in den Schlitz in der Nähe des Herzens. Dort ist die Ziege sogar noch wärmer, und ich frage mich, ob ihr Herz in der Panik so schnell geschlagen hat, dass die Brust ganz heiß geworden ist, aber dann schaue ich zu Pop, der schon dabei ist, die Haut am Fuß abzutrennen, und merke, dass ich durch das Grübeln langsam geworden bin. Ich will nicht, dass er mein Trödeln für Angst hält oder für Schwäche, so als wär ich nich alt genug, um dem Tod ins Gesicht zu sehen wie ein Mann, also packe ich zu und ziehe mit Wucht. Pop trennt das Fell am Fuß ab, und dann baumelt das Tier von der Decke und besteht nur noch aus rosa Muskeln, die das bisschen Licht, das in den Schuppen fällt, einfangen und im Dunkeln glänzen. Von der Ziege ist nur noch das haarige Gesicht übrig, und irgendwie ist dieser Anblick noch schlimmer als der Moment, bevor Pop ihr die Kehle durchgeschnitten hat.

»Hol den Eimer«, sagt Pop, also hole ich den Metallbottich vom Regal hinten im Schuppen und schiebe ihn unter das Tier. Ich hebe das Fell, das schon anfängt, steif zu werden, auf und stopfe es in den Bottich. Alle vier Stücke.

Pop macht einen Schnitt in der Bauchmitte, die Eingeweide rutschen raus und fallen in den Bottich. Während er weiterschneidet, stinkt es überwältigend, schlimmer als Schweinekot im Gesicht. Es riecht wie tote Tiere, die tief im Wald verwesen und auf die nur dieser Gestank und die kreisenden, hinabstürzenden Bussarde hinweisen. Es stinkt wie platt gefahrene Opossums oder Gürteltiere, die auf dem heißen Asphalt vor sich hin faulen. Nur schlimmer. Dieser Geruch ist noch schlimmer; es ist der Todesgestank von etwas, das bis gerade lebendig war, das noch heiß ist von Blut und Leben. Ich schneide eine Grimasse, würde am liebsten Kaylas Stinkgesicht machen, das sie immer macht, wenn sie sauer oder ungeduldig ist. Für andere sieht es aus, als hätte sie was Ekliges gerochen: Sie kneift ihre grünen Augen zusammen, rümpft die Nase zu einem Pilz, zeigt alle zwölf winzigen Milchzähne. So ein Gesicht möchte ich ziehen, weil ich durch die gekräuselte Nase vielleicht den Geruch wieder rausquetschen oder abmildern könnte, den Todesgestank vielleicht sogar ganz aussperren könnte. Ich weiß, dass es der Magen und die Gedärme sind, aber ich sehe bloß Kaylas Stinkgesicht vor mir und das sanfte Auge des Ziegenbocks, und dann kann ich nicht mehr hinschauen, kann nicht mehr an mich halten, dann bin ich raus durch die Schuppentür und übergebe mich ins Gras. Mein Gesicht brennt heiß, aber meine Arme sind kalt.

Pop kommt mit einem Rippenstück in der Hand aus dem Schuppen. Ich wisch mir den Mund ab und schau ihn an, aber er schaut nicht zu mir, sondern in Richtung Haus und weist mit einem Nicken dorthin.

»Ich glaub, ich hab das Baby weinen hören. Du solltest mal nach den beiden sehen.«

Ich stecke die Hände in die Hosentaschen.

»Brauchst du mich denn nich mehr?«

Pop schüttelt den Kopf.

»Ich komm jetzt klar«, sagt er, aber dann schaut er mich zum ersten Mal richtig an, und sein Blick ist nicht mehr streng. »Geh du schon mal rein.« Und er dreht sich um und geht zurück in den Schuppen.

Pop muss sich verhört haben, denn Kayla ist noch gar nich wach. Sie liegt in ihrer Unterhose und ihrem gelbem T-Shirt auf dem Boden, den Kopf zur Seite gedreht, die Arme ausgebreitet, als ob sie die Luft umarmen will, die Beine gespreizt. Auf ihrem Knie sitzt eine Fliege; ich verjage sie und hoffe, sie hat nicht die ganze Zeit, als ich mit Pop im Schuppen war, auf Kayla draufgesessen. Fliegen fressen Aas. Als ich noch kleiner war, als ich Leonie noch Mama genannt hab, hat sie mir erzählt, dass Fliegen einen vollscheißen, wenn sie auf einem landen. Das war, als es noch mehr Gutes als Schlechtes gab, als Leonie mich auf der Schaukel, die Pop an einem der Pekannussbäume im Vorgarten aufgehängt hatte, angeschubst hat oder neben mir auf dem Sofa saß, mit mir Fernsehen guckte und mir dabei über den Kopf strich. Bevor sie mehr weg war als da. Bevor sie anfing, zerdrückte Tabletten zu schniefen. Bevor die Gemeinheiten, die sie zu mir gesagt hat, sich immer mehr aufgehäuft haben und sich wie Splitt in einem aufgeschürften Knie festgesetzt haben. Damals hab ich Michael noch Pop genannt. Das war, als er bei uns gewohnt hat, bevor er wieder bei Big Joseph eingezogen ist. Bevor die Polizei ihn vor drei Jahren abgeholt hat, kurz vor Kaylas Geburt.

Jedes Mal, wenn Leonie was Gemeines zu mir gesagt hat, hat Mam ihr gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen. Ich hab doch nur Spaß gemacht, meinte Leonie dann, lächelte jedes Mal ganz breit und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um ihr kurzes, gesträhntes Haar glattzustreichen. Ich wähle Farben, die meiner Haut schmeicheln, hat sie Mam erklärt. Die dieses Schwarz zur Geltung bringen. Und dann: Michael steht total drauf.

Ich ziehe die Decke hoch, bis über Kaylas Bauch, und leg mich neben sie auf den Fußboden. Ihr kleiner Fuß fühlt sich in meiner Hand warm an. Im Schlaf strampelt sie die Decke wieder ab, greift nach meinem Arm und zieht ihn auf ihren Bauch, sodass ich sie umarme, ehe ich wieder still liege. Ihr Mund geht auf, ich wedele die freche Fliege weg, und Kayla lässt einen kleinen Schnarcher los.


Als ich wieder raus in den Schuppen gehe, hat Pop schon sauber gemacht. Er hat die stinkenden Eingeweide im Wald vergraben, das Fleisch, das wir Monate später essen werden, in Plastik eingepackt und in den kleinen Gefrierschrank in der Ecke gelegt. Er macht die Schuppentür zu, und als wir an den Ställen vorbeigehen, weicht mein Blick ganz von alleine den Ziegen aus, die an den Holzzaun kommen und blöken. Ich weiß, sie fragen nach ihrem Freund, dem, den ich mit getötet habe. Dem, von dem Pop ein paar Stücke bei sich hat: die zarte Leber für Mam, die er nur kurz anbraten wird, gerade so lange, dass Mam das Blut beim Essen nicht übers Kinn läuft, wenn er mich zu ihr reinschickt, um sie damit zu füttern, und für mich die Keulen, die er stundenlang kochen und danach räuchern und grillen wird, um meinen Geburtstag zu feiern. Ein paar der Ziegen wenden sich ab und grasen.

Zwei Böcke schliddern ineinander, dann versetzt einer dem anderen einen Kopfstoß, und sie fangen an zu kämpfen. Als einer weghumpelt und der Sieger, der ein schmutzig-weißes Fell hat, sich über eine kleine graue Ziege hermacht und versucht, sie zu besteigen, ziehe ich meine Hände in die Ärmel. Die Ziege tritt nach dem Bock und blökt. Pop bleibt neben mir stehen und schwenkt das frische Fleisch durch die Luft, um die Fliegen zu verjagen. Der Bock beißt der Ziege ins Ohr, die Ziege macht einen Laut, der wie ein Knurren klingt, und schnappt zurück.

»Ist es immer so?«, frage ich Pop. Ich hab schon gesehen, wie Pferde sich aufbäumen und besteigen, wie brünstige Schweine sich im Schlamm bespringen, gehört, wie wilde Katzen nachts schreien und fauchen, wenn sie Katzenbabys machen.

Pop schüttelt den Kopf und hebt die ausgesuchten Fleischstücke in meine Richtung hoch. Er lächelt halb, der Mundwinkel, der ein paar Zähne entblößt, wird messerscharf, dann ist das Lächeln wieder verschwunden.

»Nein«, sagt er. »Nicht immer. Manchmal ist es auch das hier.«

Die Ziege versetzt dem Bock einen Stoß in den Nacken und schreit. Der Bock schliddert rückwärts. Ich glaube Pop. Wirklich. Ich seh ihn ja mit Mam. Aber ich seh auch Leonie und Michael, so klar und deutlich, als stünden sie hier vor mir, bei ihrem letzten großen Streit, bevor Michael uns verlassen hat und wieder zu Big Joseph gezogen ist, vor drei Jahren, kurz bevor er ins Gefängnis kam: Michael hat damals seine Pullover, seine Camouflage-Hosen und seine Jordans in große schwarze Müllsäcke gestopft und alles nach draußen geschleppt. Ehe er wegging, hat er mich umarmt, und von so nah konnte ich nur seine Augen sehen, die grün waren wie die Kiefern, und die roten Flecken, die auf seinem Gesicht erschienen: an den Wangen, um den Mund herum, an den Nasenflügeln, wo die Adern unter der Haut kleine lila Strahlen waren. Er legte die Arme um mich und tätschelte mir ein, zwei Mal den Rücken, aber seine Berührungen waren so leicht, dass es sich gar nicht wie eine Umarmung anfühlte, obwohl sein Gesicht total angespannt aussah, irgendwie komisch, so als hätte er überall Klebeband unter der Haut. Als würde er gleich anfangen zu weinen. Leonie war schwanger mit Kayla, und sie hatte schon Kaylas Namen ausgesucht und mit Nagellack auf den Autositz geschrieben, der früher mein Autositz gewesen war. Ihr Bauch wurde langsam größer; es sah aus, als hätte sie sich einen Kinder-Basketball unter ihr T-Shirt geschoben. Sie lief hinter Michael her nach draußen auf die Veranda, wo ich stand und immer noch die beiden kleinen Klapse auf meinem Rücken spürte, so sanft wie eine schwache Brise, und Leonie packte Michael von hinten am Kragen, zog ihn zu sich und versetzte ihm einen Schlag an den Kopf, der so laut schallte, dass es nass klang. Er drehte sich um, packte sie am Arm, und dann schrien und keuchten und schubsten und zerrten die beiden sich gegenseitig über die ganze Veranda. Sie waren so dicht zusammen, an Hüften, Brust und Gesicht, dass sie eins waren und sich trippelnd fortbewegten, wie ein Einsiedlerkrebs, der unbeholfen über den Sand hoppelt. Dann schoben sie sich noch dichter aneinander und sagten etwas, aber ihre Worte klangen wie Stöhnen.

»Ich weiß«, sagte Michael.

»Du weißt überhaupt nichts«, sagte Leonie.

»Wieso drängst du mich so?«

»Mach doch, was du willst«, sagte Leonie, und dann weinte sie, und die beiden küssten sich und lösten sich erst voneinander, als Big Joseph in die sandige Auffahrt gefahren kam und anhielt, sodass sein Lieferwagen nicht mehr auf der Straße, sondern gerade so auf dem Hof stand. Er hupte nicht und winkte nicht und gar nichts, er saß einfach nur da und wartete auf Michael. Und dann ließ Leonie Michael stehen, knallte die Tür und war wieder im Haus verschwunden, und Michael schaute nach unten auf seine Füße. Er hatte vergessen, Schuhe anzuziehen, und seine Zehen waren ganz rot. Er holte einmal tief Luft und griff dann nach seinem Gepäck. Dabei kamen die Tattoos auf seinem weißen Rücken in Bewegung: der Drache auf seiner Schulter, die Sense am Oberarm. Ein grimmiger Sensenmann zwischen den Schulterblättern. Mein Name, Joseph, am Nackenansatz, zwischen Umrissen von meinen Babyfüßen.

»Ich komme wieder«, sagte er, sprang kopfschüttelnd von der Veranda, warf sich die Müllsäcke über die Schulter und ging zu dem Lieferwagen, in dem sein Daddy, Big Joseph, der Typ, der nie, kein Mal, laut meinen Namen gesagt hat, wartete. Ein Teil von mir hätte ihn am liebsten ausgepfiffen, als er in der Auffahrt zurücksetzte, aber ein größerer Teil von mir hatte Angst, Michael könnte noch einmal aus dem Wagen springen und mich verprügeln, deshalb ließ ich es bleiben. Damals war mir noch nicht klar, dass Michael manchmal alles mitkriegte und manchmal nichts, dass er mich mal wahrnahm, und dann wieder tage- oder wochenlang nicht. Dass ich in dem Moment keine Rolle spielte. Michael hatte sich nicht mehr umgedreht, nachdem er von der Veranda gesprungen war, hatte noch nicht mal hochgeguckt, nachdem er seine Säcke auf die Ladefläche des Pick-ups geworfen hatte und vorne eingestiegen war. Er schien sich immer noch auf seine nackten roten Füße zu konzentrieren. Pop sagt, ein Mann soll einem anderen Mann in die Augen sehen, also stand ich da und schaute Big Joseph an, während er den Rückwärtsgang einlegte, und Michael, der nur auf seinen Schoß guckte, bis sie von der Auffahrt runter waren und davonfuhren. Dann spuckte ich aus, so wie Pop es macht, sprang von der Veranda und rannte ums Haus rum zu den Tieren, zu ihren geheimen Ställen hinten im Wald.

»Na komm, Junge«, sagt Pop. Als er in Richtung Haus losgeht, folge ich ihm und versuche, die Erinnerung an Leonies und Michaels Streit abzuschütteln, sie in der feuchten, kühlen Luft draußen hängen zu lassen wie einen Nebel. Doch sie verfolgt mich, sogar noch, als ich der warmen, weichen Blutspur folge, die Pop im Sand hinterlässt, einer Spur, die ebenso eindeutig von Liebe zeugt wie die Brotkrumen, die Hänsel im Wald fallen ließ.

Der Geruch der Leber in der heißen Pfanne sitzt schwer in meiner Kehle, trotz des Bacon-Fetts, mit dem Pop sie vorher beträufelt hat. Als Pop sie auf den Teller schiebt, riecht die Leber immer noch, aber die Soße, die er dazu gemacht hat, verläuft um sie herum zu einem kleinen Herz, und ich frage mich, ob das wohl Absicht war. Ich trage den Teller bis an Mams Türschwelle, aber Mam schläft noch, also bringe ich ihn zurück in die Küche, und Pop legt ein Papiertuch drüber, um das Essen warm zu halten, und dann schaue ich zu, wie er das Fleisch und die Gewürze, Knoblauch, Sellerie, Paprikaschoten und Zwiebeln, von denen mir die Augen tränen, schneidet und alles zum Kochen aufsetzt.

Wären Mam und Pop am Tag von Leonies und Michaels Streit zu Hause gewesen, hätten sie die Rauferei gestoppt. Der Junge braucht das nicht mitanzusehen, hätte Pop gesagt. Oder Mam hätte gesagt, Euer Kind soll doch nicht denken, dass man andere Menschen so behandelt. Aber sie waren nicht zu Hause. Ich kann nicht behaupten, dass das oft vorkam. Sie waren nicht da, weil sie erfahren hatten, dass Mam Krebs hatte, und Pop deshalb immer wieder mit ihr zum Arzt fuhr. Soweit ich mich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie sich darauf verließen, dass Leonie auf mich aufpasste. Nachdem Michael mit Big Joseph weggefahren war, fühlte es sich äußerst seltsam an, Leonie am Tisch gegenüberzusitzen und mir ein Bratkartoffelsandwich zu machen, während sie ins Leere starrte, die Beine übereinanderschlug, mit dem Fuß wippte und Zigarettenrauch zwischen ihren Lippen hervorquellen ließ, bis er ihren Kopf wie einen Schleier umhüllte, obwohl Mam und Pop es nicht leiden konnten, wenn sie im Haus rauchte. Mit ihr allein zu sein. Sie aschte in eine leere Coladose, die sie gerade ausgetrunken hatte, und machte auch die Kippen darin aus, und als ich in mein Sandwich biss, sagte sie: »Das sieht ja eklig aus.«

Nach dem Streit mit Michael hatte sie sich die Tränen abgewischt, aber man konnte noch die getrockneten, glänzenden Spuren in ihrem Gesicht sehen.

»Pop isst das auch immer so.«

»Musst du Pop alles nachmachen?«

Ich schüttelte den Kopf, weil sie das zu erwarten schien. Aber die meisten Sachen, die Pop tat, fand ich richtig gut, zum Beispiel die Art, wie er dastand, wenn er redete, die Art, wie er sein Haar kämmte, aus dem Gesicht raus nach hinten, und es mit Gel glatt strich, sodass er wie einer der Choctaw- oder Muskogee-Indianer aus den Büchern aussah, die wir in der Schule lasen, oder dass er mich im Traktor auf seinem Schoß sitzen und hinten auf unserem Grundstück rumfahren ließ, oder seine Art, schnell und sauber zu essen, und natürlich die Geschichten, die er mir vor dem Einschlafen erzählte. Als ich neun war, machte Pop einfach alles richtig gut.

»Sieht aber ganz so aus.«

Statt zu antworten, schluckte ich kräftig. Die Kartoffelscheiben waren salzig und dick, die Mayonnaise und der Ketchup zu dünn aufgestrichen, deshalb rutschten die Kartoffeln nicht so gut runter.

»Hört sich sogar eklig an«, sagte Leonie. Sie ließ ihre Zigarette in die Coladose fallen und schob die Dose dann über den Tisch zu mir rüber. »Wirf das weg.«

Sie ging aus der Küche ins Wohnzimmer, nahm eins von Michaels Baseball-Caps, das er auf dem Sofa liegen gelassen hatte, und zog es sich tief ins Gesicht.

»Ich komm bald wieder«, sagte sie.

Mit dem Sandwich in der Hand trottete ich hinter ihr her. Die Tür schlug zu, und ich stieß sie wieder auf. Willst du mich etwa ganz alleine hierlassen, wollte ich sie fragen, aber das Sandwich saß mir wie ein Kloß im Hals und unterdrückte die Panik, die wie Blasen aus meinem Bauch aufstieg; ich war noch nie allein zu Hause gewesen.

»Mama und Pop sind bestimmt bald zurück«, sagte sie, bevor sie die Autotür zuschlug. Sie fuhr einen weinroten Chevrolet Malibu, den Pop und Mam ihr zum Highschool-Abschluss gekauft hatten. Leonie fuhr aus der Auffahrt und ließ eine Hand aus dem Fenster baumeln, entweder um sich Luft zuzuwedeln oder um zu winken, schwer zu sagen, und dann war sie weg.

Irgendwie war mir ganz allein in dem zu stillen Haus unheimlich, deshalb setzte ich mich raus auf die Veranda, aber dann hörte ich einen Mann singen, mit einer hohen Stimme, die ganz falsch klang, und er sang immer wieder den gleichen Text. Oh Stag-o-lee, why can’t you be true? Das war Stag, Pops ältester Bruder, mit einem langen Spazierstock in der Hand. Seine Sachen sahen hart und ölig aus, und er schwenkte den Stock wie eine Axt. Immer, wenn ich ihn traf, ergab das, was er sagte, für mich überhaupt keinen Sinn; es war so, als würde er eine fremde Sprache sprechen, obwohl ich wusste, dass es Englisch war: Jeden Tag lief er in Bois Sauvage herum, sang und schwenkte seinen Stock. Er ging genauso aufrecht wie Pop, wirkte genauso stolz wie Pop. Hatte die gleiche Nase wie Pop. Aber alles andere an ihm war ganz anders als bei Pop, eher so, als hätte man Pop wie einen nassen Lappen ausgewrungen und dann in der falschen Form wieder trocknen lassen. Das war Stag. Einmal hab ich Mam gefragt, was mit ihm los war, warum er immer so nach Gürteltier roch, und sie hat die Stirn gerunzelt und gesagt: Er is nicht ganz richtig im Kopf, Jojo. Und dann: Frag Pop lieber nicht danach.

Ich wollte nicht, dass er mich sah, darum sprang ich von der Veranda und rannte hinters Haus in den Wald. Es war tröstlich, die Schweine schnüffeln und die Ziegen rupfen und fressen zu hören, die Hühner picken und scharren zu sehen. Ich fühlte mich nicht mehr so klein und allein. Ich hockte mich ins Gras und schaute den Tieren zu, glaubte fast zu hören, wie sie mit mir redeten, wie sie kommunizierten. Manchmal, wenn ich das fette Schwein mit den schwarzen Matschflecken an der Seite anschaute, grunzte es und schlackerte mit den Ohren, und ich dachte, es will mir sagen: Kratz mich hier, Junge. Wenn die Ziegen mir die Hand leckten und mich mit dem Kopf anstubsten, während sie blökend an meinen Fingern knabberten, hörte ich: Das Salz ist so schön scharf und lecker – noch mehr Salz. Wenn das Pferd, das Pop hält, den Kopf neigte und so lange mit den Hufen scharrte und buckelte, bis seine Flanken wie der feuchte rote Mississippi-Lehm glänzten, verstand ich: Ich könnte über deinen Kopf springen, Junge, und ach, dann würde ich losrennen, würde rennen und rennen und wäre nicht mehr zu sehen. Ich könnte dich zum Zittern bringen. Es erschreckte mich, sie zu verstehen, ihnen zuzuhören. Weil Stag das auch tat; Stag stand manchmal mitten auf der Straße und führte lange Gespräche mit Casper, dem schwarz gescheckten Nachbarshund.

Aber die Tiere nicht zu hören, war unmöglich, denn ich brauchte sie nur anzuschauen, da verstand ich sie schon – es war so, als würde ich einen Satz anschauen und die Wörter verstehen, als würden sie alle auf einmal auf mich einstürmen. Nachdem Leonie weggefahren war, saß ich eine Weile hinten bei den Ställen, hörte den Schweinen und dem Pferd zu und dem Gesang vom alten Stag, der aufbrauste und abflaute wie ein launischer Wind. Ich ging von einem Stall zum anderen, schaute immer wieder zur Sonne hoch, um zu schätzen, wie lange Leonie schon weg war, wie lange Mam und Pop schon weg waren, wie lange es wohl dauern würde, bis sie wiederkamen und ich zurück ins Haus gehen konnte. Ich ging mit hochgerecktem Kopf, lauschte auf das Knirschen von Autoreifen, deshalb sah ich den scharf gezackten Dosendeckel nicht, der vor mir aus der Erde ragte, sah nicht, dass ich im Gehen den Fuß daraufsetzte und instinktiv mein Gewicht verlagerte. Der Deckel sank tief ein. Ich schrie auf, fiel hin, hielt mir das Bein und wusste, dass die Tiere mich in diesem Moment auch verstanden: Lass mich los, großer Zahn! Verschone mich!

1 722,70 ₽
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9783956142284
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