Читать книгу: «Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt», страница 2

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Stattdessen brannte und blutete es, ich saß weinend auf der Pferdelichtung, schmeckte Ketchup und etwas Saures hinten in der Kehle und umklammerte meinen Knöchel. Ich traute mich nicht, den Deckel herauszuziehen, und endlich hörte ich, wie eine Autotür zuschlug, dann erst mal nichts mehr, bis Pops Stimme nach mir rief und ich antwortete und er mich auf der Erde sitzen sah, schluchzend und japsend, ohne mich darum zu scheren, dass mein Gesicht ganz nass war. Pop kam zu mir und fasste mein Bein an, so wie er es bei unserem Pferd immer macht, wenn er das Hufeisen prüft. Mit einem kurzen Ruck zog er den Deckel raus, und ich brüllte laut auf. Das war das erste Mal, dass ich dachte, Pop hat was gemacht, was nicht gut war.

Als Leonie an dem Abend nach Hause kam, hat sie kein Wort gesagt. Ich glaub nicht, dass ihr mein Fuß überhaupt aufgefallen ist, bis Pop sie anschrie, Verdammt noch mal, Leonie!, verdammt noch mal, immer wieder. Ich war schläfrig von dem Schmerzmittel, kribbelig von dem Antibiotikum, mein Fuß weiß verbunden, ganz fest umwickelt, und sah bloß zu, während Pop mit der flachen Hand an die Wand schlug, um jede Silbe zu unterstreichen: Leonie! Sie zuckte zusammen, wich einen Schritt vor ihm zurück und sagte dann kleinlaut: Du hast in seinem Alter unten bei den Docks Austern geöffnet, und Mam hat Windeln gewechselt. Und dann: Er is alt genug. Sie sagte: Alles okay, oder, Jojo? Und ich guckte sie an und sagte: Nein, Leonie. Das war was Neues für mich: Ihre Hände, die sie ständig rieb, und die schiefen Zähne in ihrem plappernden Mund anzugucken und in meinem Kopf nicht Mama zu hören, sondern ihren Namen: Leonie. Als ich ihn aussprach, lachte sie; der Laut brach aus ihr hervor, als wäre er mit einem harten Spaten herausgehackt worden. Pop sah aus, als würde er ihr gleich eine runterhauen, aber dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er schnaubte nur, so wie er es macht, wenn eine Saat nicht aufgeht oder eine seiner Säue mehr tote als lebendige Ferkel wirft: enttäuscht. Er setzte sich mit mir auf eins der beiden Sofas im Wohnzimmer. Das war die erste Nacht, in der er Mam allein im Bett schlafen ließ. Ich schlief auf dem Zweisitzer, er auf dem großen Sofa, wo er, nachdem Mam immer kränker wurde, schließlich auch blieb.

Die Ziege riecht beim Kochen wie Rind. Im Topf sieht sie sogar so aus, dunkel und faserig. Pop drückt mit einem Löffel auf das Fleisch, um zu prüfen, wie weich es ist, und legt dann den Deckel schief auf, sodass Dampf herausquillt.

»Pop, erzählst du mir noch mal von dir und Stag?«, frage ich.

»Was denn?«, fragt Pop.

»Parchman«, sage ich. Pop verschränkt die Arme. Beugt sich vor, um am Ziegenfleisch zu riechen.

»Hab ich dir das nich schon alles erzählt?«, fragt er.

Ich zucke die Achseln. Manchmal finde ich, dass ich um Nase und Mund herum Stag ähnlich sehe. Stag und Pop. Ich will hören, wie sie sich unterscheiden. Wie wir uns alle unterscheiden. »Schon, aber ich möchte es trotzdem noch mal hören«, sage ich.

Das macht Pop immer, wenn wir abends allein sind und noch spät im Hof oder im Wald sitzen. Er erzählt mir Geschichten. Wie sie früher Rohrkolben gegessen haben, wenn sein Daddy in den Sümpfen gewesen war und welche geholt hat. Wie seine Mama und ihre Leute Louisianamoos gesammelt und damit ihre Matratzen gestopft haben. Manchmal erzählte er mir die gleiche Geschichte drei oder sogar vier Mal. Wenn er erzählt, gibt mir seine Stimme das Gefühl, als würde er eine Hand nach mir ausstrecken und mir den Rücken kraulen und als könnte ich allem entkommen, was mir sonst das Gefühl gibt, dass ich niemals mit so stolz erhobenem Haupt dastehen werde wie Pop, mir meiner selbst niemals so sicher sein werde wie er. Ich gerate ins Schwitzen und klebe förmlich an meinem Stuhl in der Küche fest, wo es von dem kochenden Ziegenfleisch auf dem Herd so warm geworden ist, dass die Fenster dick beschlagen sind und die Welt auf mich und Pop in diesem Raum zusammengeschrumpft ist.

»Bitte«, sage ich. Pop bearbeitet das Fleisch, das noch in den Topf muss, mit dem Fleischklopfer, damit es weich und zart wird, und räuspert sich. Ich lege die Ellbogen auf den Tisch und höre zu:

Ich und Stag, wir haben den gleichen Papa. Meine anderen Geschwister haben andere Daddys, weil mein Papa jung gestorben ist. Glaub, er war so Anfang vierzig. Ich weiß nich genau wie alt, weil er selbst nich wusste, wie alt er war. Er meinte, seine Maman und sein Daddy sind den Behörden immer aus dem Weg gegangen, ham ihre Fragen nie richtig beantwortet, die Zahl ihrer Kinder falsch angegeben, die Geburten gar nich beim Amt gemeldet. Sie glaubten, die wollten nur bei ihnen rumschnüffeln und sich die Informationen besorgen, um sie unter Kontrolle zu kriegen, um sie einzusperren wie Vieh. Deswegen haben sie das ganze offizielle Zeugs nich mitgemacht, sondern lieber nach den alten Sitten gelebt. Papa hat uns einiges davon beigebracht, bevor er starb: Jagen und Spurensuchen, wie man Tiere hält, ein paar Sachen über Ausgewogenheit und über das Leben. Ich hab gut zugehört. Ich hab immer gut zugehört. Aber Stag hat nie zugehört. Selbst als er noch klein war, rannte Stag nur mit den Hunden rum oder ging zum Badeloch, war viel zu beschäftigt mit sowas, um sich mal hinzusetzen und zuzuhören. Und als er älter wurde, hing er ständig im Juke Joint rum. Papa meinte, er sähe zu gut aus, er würde er sich schnell Ärger einhandeln, weil er so hübsch wie ein Mädchen auf die Welt gekommen war. Weil die Leute hübsche Sachen mögen und ihm alles zu leicht gemacht wurde. Maman machte Schschscht, wenn Papa das sagte, sie meinte, Stag würde nur zu viel fühlen, weiter nichts. Meinte, deswegen fiel es ihm schwer, stillzusitzen und nachzudenken. Ich hab nix gesagt, aber ich fand, sie hatten beide nich recht. Ich glaub, Stag fühlte sich innen drin tot, deswegen konnte er nich stillsitzen und zuhören, deswegen musste er immer auf den höchsten Felsen klettern und kopfüber ins Wasser springen, wenn wir am Fluss baden waren. Deswegen ging Stag, sobald er achtzehn oder neunzehn war, fast jedes verfluchte Wochenende in den Juke Joint und trank, deswegen lief er mit einem Messer in jedem Schuh rum, und noch einem in jedem Ärmel, deswegen verletzte er Leute und kam selbst oft mit Schnittwunden nach Hause – er brauchte das, um sich lebendiger zu fühlen. Und er hätte ewig so weitermachen können, wenn nicht dieser Kerl von der Navy da aufgekreuzt wäre, mit noch ein paar andern Weißen Männern aus dem Norden, die auf Ship Island stationiert waren. Wollte sich wohl’n bisschen mit den Farbigen amüsieren, doch dann traf er an der Theke auf Stag, ein Wort gab das andere, und schließlich zog der Mann Stag eine Flasche über den Schädel, und da hat Stag zugestochen, nich tief genug, um ihn zu töten, aber tief genug, um ihm wehzutun, damit Stag Zeit gewinnen und weglaufen konnte, aber weit is er nich gekommen, weil die Freunde des Weißen sich Stag griffen und ihn zusammenschlugen. Ich war allein zu Haus, als Stag ankam, Maman war ein paar Häuser weiter und kümmerte sich um ihre Schwester, und Papa war draußen auf dem Feld. Als die Weißen Männer Stag holen kamen, fesselten sie uns beide und nahmen uns mit. Ihr zwei werdet jetzt lernen, was Arbeit bedeutet, sagten sie. Was es heißt, nach den Gesetzen von Gott und den Menschen zu leben, sagten sie. Euch Bengel schicken wir nach Parchman.

Ich war fünfzehn. Aber ich war noch nicht mal der Jüngste dort, sagt Pop. Das war Richie.

Kayla wacht plötzlich auf, rollt sich auf den Bauch, stemmt sich hoch und lächelt. Ihr Haar steht wild ab und ist so zerzaust wie die Lianen an den Ästen der Kiefern. Ihre Augen sind grün wie Michaels, und ihre Haarfarbe schwankt irgendwo zwischen Leonies und Michaels, mit einer Spur von Strohblond.

»Jojo?«, sagt sie. Das sagt sie immer, sogar wenn Leonie im Bett neben ihr liegt. Darum kann ich jetzt nicht mehr auf dem Zweisitzer bei Pop im Wohnzimmer schlafen; Kayla hat sich als kleines Baby so dran gewöhnt, dass ich ihr nachts das Fläschchen bringe. Darum schlaf ich neben Leonies Bett auf dem Fußboden, und in den meisten Nächten kommt Kayla irgendwann zu mir runter, weil Leonie meistens weg ist. Kayla hat was Klebriges am Mundwinkel. Ich spucke auf den Saum von meinem T-Shirt und reibe damit über ihre Wange, und sie schüttelt meine Hand ab und krabbelt auf meinen Schoß: Sie ist klein für ihre drei Jahre, und wenn sie sich an mich kuschelt, hängen ihre Füße nicht mal über meine Oberschenkel. Sie riecht nach in der Sonne getrocknetem Heu, warmer Milch und Babypuder.

»Durst?«, frage ich.

»Mhm«, macht sie leise.

Als sie ausgetrunken hat, lässt Kayla ihre Schnabeltasse auf den Boden fallen.

»Singen«, sagt sie.

»Was soll ich denn singen?«, frage ich, obwohl sie mir das nie sagt. Genau wie ich mir zu gerne Pops Geschichten anhöre, hört Kayla mir zu gerne beim Singen zu. »›Die Räder am Bus‹?«, schlage ich vor. Das kenne ich aus dem Head-Start-Programm in der Vorschule: Manchmal sind die Nonnen aus dem Ort zu uns in die Klasse gekommen, mit ihren akustischen Gitarren, die sie wie Jagdgewehre geschultert hatten, und haben uns was vorgespielt. Ich singe das Lied leise, damit Mam nicht aufwacht, und meine Stimme ist holprig und krächzend, aber Kayla schwenkt trotzdem die Arme und marschiert im Zimmer herum. Als Pop den Kochtopf sich selbst überlässt und ins Wohnzimmer kommt, bin ich außer Puste, und meine Arme tun weh. Ich singe gerade »Funkel, funkel, kleiner Stern«, auch ein Hit aus der Vorschule, werfe Kayla dabei in die Luft, fast bis an die hohe Decke, und fange sie wieder auf. Wenn sie ein Kreischkind wäre, würde ich das nicht machen, denn dann würde Mam garantiert aufwachen. Aber während sich jetzt der Duft von in Butter gedünsteten Zwiebeln und Knoblauch, Paprikaschoten und Sellerie im Zimmer ausbreitet, fliegt Kayla mit glänzenden Augen hoch und fällt wieder runter, die Arme ausgebreitet, den Mund zu einem breiten Lächeln verzogen, sodass es so aussieht, als würde sie aus vollem Hals schreien.

»Noch mal«, keucht sie. »Noch mal«, sagt sie jedes Mal ächzend, wenn ich sie auffange, um sie erneut hochzuwerfen.

Pop schüttelt den Kopf, aber ich mache weiter, denn ich sehe an der Art, wie er seine Hände am Geschirrtuch abtrocknet und sich an den hölzernen Türbogen lehnt, den er eigenhändig geschliffen und vernagelt hat, dass er nichts dagegen hat. Er hat die Decke absichtlich so hoch gebaut, gut dreieinhalb Meter, weil Mam ihn darum gebeten hatte. Sie meinte, je mehr Platz zwischen Fußboden und Dach ist, desto kühler ist es im Haus. Er weiß, dass ich Kayla nicht wehtun werde.

»Pop«, sage ich schnaufend, als Kayla mehr auf meiner Brust als in meinen Armen landet. »Erzählst du mir den Rest, bevor du das Fleisch zum Räuchern rausbringst?«

»Das Baby«, sagt Pop.

Ich fange Kayla auf und drehe mich einmal mit ihr im Kreis. Sie schmollt, als ich sie absetze und ein Spielset von Fisher-Price, das früher mir gehört hat, unter dem Sofa hervorziehe. Ich puste den Staub ab und schiebe es ihr hin. Zum Set gehörten eine Ziege und zwei Hühner, und eine der roten Scheunentüren ist kaputt, aber trotzdem geht Kayla in die Hocke und legt sich dann auf den Bauch, um die Plastiktiere hüpfen zu lassen.

»Guck, Jojo!«, sagt Kayla und lässt die Ziege auf und ab springen. »Baa baa«, sagt sie.

»Macht doch nichts«, sage ich. »Sie hört uns gar nich zu.«

Pop setzt sich hinter Kayla auf den Fußboden und lässt die noch heile Scheunentür auf und zu schnappen.

»Die ist ganz klebrig«, sagt er. Dann schaut er nach oben an die raue Decke und bringt seufzend einen Satz hervor, und dann noch einen. Er erzählt mir die Geschichte noch einmal.

Richie, so wurde er genannt. Sein richtiger Name war Richard, und er war gerade mal zwölf Jahre alt. Hatte drei Jahre gekriegt, weil er Essen geklaut hatte: Salzfleisch. Ne Menge Leute waren dort, weil sie Essen geklaut hatten, denn viele waren arm und hungerten, und auch wenn die Weißen unsere Arbeitskraft nicht mehr umsonst kriegten, taten sie alles, um uns nicht einstellen und bezahlen zu müssen. Richie war der kleinste Junge, den ich je in Parchman gesehen habe. Auf der riesigen Farm waren ungefähr zweitausend Männer, verteilt auf mehrere Arbeitscamps. Fast fünfzigtausend Morgen Land, verdammt. Parchman is’ ein Ort, wo einem am Anfang vorgegaukelt wird, dass es gar kein Gefängnis ist, du denkst, wird schon nicht so schlimm werden, weil’s ja keine Mauern gibt. Damals warn es bloß fünfzehn Camps, jedes davon mit Stacheldraht eingezäunt. Keine Ziegel, keine Steinmauern. Wir Insassen wurden Gunmen genannt, weil wir unter Aufsicht der Trusty Shooters, der Vertrauensschützen, arbeiteten, die selbst Insassen waren, die aber vom Direktor Gewehre kriegten, um den Rest von uns zu beaufsichtigen. Diese Trusty Shooters waren die Sorte Männer, die immer als Erste den Mund aufmachen, wenn sie in einen Raum kommen. Männer, die gern die Aufmerksamkeit auf sich ziehn, groß angeben mit den Schlägereien und Messerstechereien und Morden, die sie begangen haben, um an so ’nem Ort nach oben zu kommen, weil sie sich wichtiger fühlen, wenn sie beachtet werden. Die fühl’n sich nur wie echte Männer, wenn sie bei andern Angst sehn.

Als ich zuerst nach Parchman kam, hab ich auf den Feldern gearbeitet, hab gepflanzt und Unkraut gejätet und die Ernte eingebracht. Parchman war sofort als Arbeitsfarm zu erkennen. Du siehst die weiten Felder, auf denen wir gearbeitet haben, siehst, dass man durch den Stacheldraht durchgucken kann, dass man ihn greifen, mit dem Fuß Halt finden, sich mit einer blutenden Hand daran festhalten kann, siehst, dass sie die Bäume zurückschneiden und niedrig halten, sodass das Land bis ans Ende der Welt frei und offen daliegt, und du denkst, Hier kann ich rauskommen, wenn ich es mir nur fest genug vornehme. Ich kann den Sternen nach Süden folgen und den Weg nach Hause finden. Aber du denkst das nur, weil du die Trusty Shooters nicht siehst. Weil du den Sergeant nicht kennst. Nicht weißt, dass der Sergeant aus einer langen Reihe von Männern stammt, die darauf getrimmt wurden, dich wie ein Arbeitspferd zu behandeln, wie einen Jagdhund – und darauf getrimmt zu glauben, er könnte dich dazu bringen, es sogar noch zu mögen. Dass der Sergeant in einer langen Tradition von Aufsehern steht. Du weißt nicht, dass die Trusty Shooters wegen viel schlimmerer Sachen nach Parchman geschickt wurden, als wegen einer Schlägerei in einem Juke Joint. Weißt nicht, dass die Trusty Shooters, die Insassen-Aufseher, dort sind, weil sie Spaß am Töten haben und weil sie auf alle möglichen fiesen Arten gemordet haben, nicht nur andere Männer, sondern auch Frauen und –

Ich und Stag kamen in verschiedene Camps. Stag wurde wegen Körperverletzung verurteilt, ich wegen Beihilfe zur Flucht. Ich hatte auch vorher schon gearbeitet, aber noch nie so hart. Noch nie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf einem Baumwollfeld. Noch nie bei solcher Hitze. Da oben ist sie anders. Die Hitze. Da gibt’s kein Wasser, das im Wind mitfliegt und einen kühlt, deswegen steht dort die Hitze wie im Backofen. Wie in einem feuchten Backofen. Schon bald wurden meine Hände dick, und meine Füße waren ganz verkrustet und blutig, und ich kapierte, wenn ich da draußen auf den Feldern bei der Arbeit war, dann musste ich es schaffen, nicht daran zu denken. Ich durfte nicht an Papa oder Stag oder den Sergeant oder die Trusty Shooters oder die Hunde denken, die am Rand der Felder bellend und mit triefenden Lefzen rumrannten und davon träumten, ihre Zähne in eine Ferse oder einen Nacken zu schlagen. Ich vergaß das alles, ich bückte mich und kam hoch und bückte mich und kam hoch und dachte nur noch an meine Mutter. An ihren langen Hals, ihre ruhigen Hände, ihr Haar, das sie immer nach vorne geflochten hat, um ihren schiefen Haaransatz zu verbergen. Die Gedanken an sie waren wie die Glut eines erloschenen Feuers in einer kalten Nacht: warm und behaglich. Nur so konnte ich meinen Geist von mir selbst losmachen, ihn dort auf diesen Feldern hoch in die Luft fliegen lassen wie einen Drachen. Das musste sein, sonst wär ich im Laufe meiner fünf Jahre in Gefangenschaft irgendwann einfach auf die schmutzige Erde gesunken und gestorben.

Richie hatte nicht annähernd die Zeit. Es ist schwer genug für einen Mann von fünfzehn, aber für einen Jungen? Einen zwölfjährigen Jungen? Richie kam gut einen Monat nach mir dort an. Er marschierte weinend in das Camp, aber er weinte lautlos, ohne zu schluchzen. Die Tränen liefen einfach über sein Gesicht und machten es nass. Er hatte einen großen Kopf, der wie eine Zwiebel geformt war und für seinen Körper viel zu groß aussah: ein Körper, der nur aus Haut und Knochen bestand. Seine Ohren standen gerade vom Kopf ab, wie Blätter von einem Ast, und seine Augen waren sehr groß für sein Gesicht. Er blinzelte nicht. Er war schnell: ging schnell, ohne zu schlurfen, nicht so wie die meisten, wenn sie im Camp ankamen, sondern er hob die Füße, zog die Knie hoch, wie ein Pferd. Sie banden seine Hände los und brachten ihn in die Baracke, zu seiner Pritsche, und er legte sich im Dunkeln neben mich, und ich wusste, dass er immer noch weinte, weil seine schmalen Schultern zwar eingeklappt waren, aber noch bebten, wie die Flügel eines Vogels, der gerade gelandet ist; doch er gab immer noch keinen Laut von sich. Wenn die Nachtwachen vor den Barackentüren eine Pause machen, dann kann einem zwölfjährigen Jungen im Dunkeln alles Mögliche zustoßen, wenn er eine Heulsuse ist.

Als er im Dunkel des nächsten Morgens aufwachte, war sein Gesicht getrocknet. Er folgte mir zu den Latrinen und zum Frühstück und setzte sich neben mich auf die Erde.

»Ganz schön jung für einen Ort wie diesen. Wie alt biste? Acht?«, fragte ich ihn.

Er sah gekränkt aus. Runzelte die Stirn und sperrte den Mund auf.

»Wie könn’ Biscuits so eklig schmecken?«, fragte er und verbarg seinen Mund hinter seiner Hand. Ich dachte, er würde das Brot ausspucken, aber er schluckte und sagte: »Ich bin zwölf.«

»Immer noch reichlich jung, um hier zu sein.«

»Ich hab geklaut.« Er zuckte die Achseln. »Ich war gut. Ich klau schon, seit ich acht bin. Hab neun kleine Geschwister, die ständig nach Essen schrei’n. Und weinen, weil sie krank sind. Ihr Rücken tut weh, sagen sie, und ihr Mund ist ganz wund. Überall ham sie Ausschlag, an Händen und Füßen. Im Gesicht so dick, dass man kaum noch die Haut sieht.«

Ich kannte die Krankheit, von der er sprach. Wir nannten sie »rotes Feuer«. Hab mal gehört, wie ein Doktor gesagt hat, die meisten, die das haben, sind arm und essen nur Fleisch, Mehl und Rübensirup. Ich hätte ihm sagen können, dass sie noch gut dran waren, wenn sie so aßen: Im Delta hab ich von Leuten gehört, die sich Lehmplätzchen gebraten haben. Er war stolz auf sich, als er mir erzählte, was er getan hatte, trotzdem er erwischt wurde; ich merkte das an der Art, wie er sich vorbeugte, wie er mich ansah, als er ausgeredet hatte, so als wollte er ein Lob von mir hören. Da wusste ich, dass ich ihn nicht mehr loswerden würde, vor allem, weil er mir überall hin folgte und auf der Pritsche neben mir schlief. Weil er mich so ansah, als könnte ich ihm was geben, was ihm sonst keiner geben konnte. Die Sonne kam zwischen den Bäumen hoch, brachte den Himmel zum Leuchten wie ein frisch entfachtes Feuer, und ich spürte sie schon in den Schultern, im Rücken, in den Armen. Ich biss auf etwas, das im Brot eingebacken war und knirschte. Schnell runterschlucken – lieber nicht drüber nachdenken.

»Wie heißt du, Junge?«

»Richard. Aber alle nenn’n mich Richie. Als Witz.« Er schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und lächelte ein bisschen, so vage, dass sein Mund nur ganz leicht aufging und seine weißen, schiefen Zähne kurz zu sehen waren. Ich verstand den Witz nicht, deshalb ließ er den Kopf wieder sinken und erklärte ihn mir mit seinem Löffel. »Weil ich geklaut hab. Also bin ich reich?«

Ich schaute auf meine Hände hinab. Kein Krümel mehr drin, und trotzdem hatte ich das Gefühl, noch nicht gegessen zu haben.

»Soll ein Witz sein«, sagte er. Also gab ich Richie das, worauf er aus gewesen war. Er war ja noch ein Kind. Ich lachte.

Manchmal glaube ich, dass ich alles andere besser verstehe, als ich je Leonie verstehen werde. Sie steht vor der Haustür, kaum zu sehen hinter den Papiertüten mit den Einkäufen, hakt das Fliegengitter auf, stößt mit dem Fuß dagegen und zwängt sich dann mühsam durch die Tür. Als die Tür zuschlägt, flitzt Kayla auf mich zu; sie greift nach ihrem Saftbecher und saugt daran, ehe sie anfängt, mein Ohr zu kneten. Das rollende Kneifen ihrer kleinen Finger tut ein bisschen weh, aber es ist eine Angewohnheit von ihr, daher hebe ich sie hoch, nehme sie auf den Arm und lasse sie kneten. Mam sagt, sie macht das, um sich zu beruhigen, weil sie nicht gestillt wurde. Arme Kayla, hat Mam immer seufzend gesagt. Leonie war sauer, als Mam und Pop auch anfingen, sie Kayla zu nennen, so wie ich. Sie hat einen Namen, sagte Leonie, und zwar den Namen ihres Daddys. Sie sieht aus wie eine Kayla, sagte Mam, aber Leonie nannte sie nie so.

»Hey, Michaela, Süße«, sagt Leonie.

Erst als ich in der Küchentür stehe und zugucke, wie Leonie eine kleine weiße Schachtel aus einer ihrer Einkaufstüten zieht, kapiere ich, dass dies das erste Jahr ist, in dem Mam mir keinen Kuchen zum Geburtstag backen wird, und ich kriege ein schlechtes Gewissen, weil es mir erst so spät am Tag klar geworden ist. Pop wird das Essen kochen, aber ich hätte wissen sollen, dass Mam nicht backen kann. Sie ist zu krank von dem Krebs, der gekommen und wieder gegangen und dann wiedergekommen ist, genauso unaufhaltsam wie das Sumpfwasser in den Bayous, das mit dem Mond steigt und fällt.

»Ich hab dir einen Kuchen besorgt«, sagt Leonie, als wär ich zu blöd, um zu wissen, was in der Schachtel ist. Sie weiß, dass ich nicht dumm bin. Das hat sie selbst mal gesagt, als eine Lehrerin sie in die Schule bestellt hatte, um über mein Verhalten zu sprechen, um Leonie zu sagen: Er sagt im Unterricht kein Wort, aber trotzdem passt er nicht auf. Die Lehrerin sagte das vor allen anderen Kindern, die noch auf ihren Stühlen saßen und darauf warteten, entlassen zu werden und zu ihren Bussen gehen zu dürfen. Sie hatte mich an den vordersten Tisch im Klassenzimmer gesetzt, dem, der am nächsten am Lehrertisch stand, und alle fünf Minuten fragte sie mich, Passt du auch auf?, sodass ich andauernd beim Lernen unterbrochen wurde und mich überhaupt nicht konzentrieren konnte. Da war ich zehn und hatte schon angefangen, Sachen zu sehen, die andere Kinder nicht sahen, zum Beispiel, dass meine Lehrerin ihre Fingernägel bis aufs Fleisch abkaute, dass sie manchmal besonders viel Make-up trug, um die Spuren von Schlägen zu vertuschen; ich wusste, wie das aussah, weil die Gesichter von Michael und von Leonie manchmal auch so aussahen, wenn sie sich gestritten hatten. Ich fragte mich, ob meine Lehrerin wohl auch einen Michael zu Hause hatte. Am Tag dieses Gesprächs zischte Leonie: Er’s nich dumm. Los, Jojo, wir gehn. Ich zuckte zusammen wegen ihrer schlampigen Aussprache und weil sie sich, ohne es überhaupt zu merken, viel zu dicht zu der Lehrerin hinbeugte, sodass die blinzelnd zurückwich vor der latenten Gewalt in Leonies Arm, die sich von der Schulter durch den Ellbogen bis in ihre Faust schlängelte.

Mam hat mir zum Geburtstag immer Red Velvet Cake gemacht. Sie fing damit an, als ich eins wurde. Als ich vier war, kannte ich den Kuchen schon gut genug, um darum zu bitten: Ich sagte roter Kuchen und zeigte im Laden auf die Packung im Regal. Der Kuchen, den Leonie gekauft hat, ist klein, ungefähr so groß wie meine beiden Fäuste zusammen. Obendrauf sind hellblaue und hellrosa Streusel verteilt und an der Seite zwei kleine blaue Schuhe. Leonie schnieft, hustet in ihren knochigen Unterarm und zieht dann eine Packung der billigsten Eiscreme aus der Tüte, die Sorte, die wie kaltes Kaugummi schmeckt.

»Geburtstagskuchen warn ausverkauft. Die Schuhe sind blau, das passt doch.«

Erst als sie es sagt, wird mir klar, dass Leonie ihrem dreizehnjährigen Sohn einen Babyparty-Kuchen gekauft hat. Ich lache, aber es fühlt sich kein bisschen warm an, in mir ist dabei überhaupt keine Freude. Ein Lachen, das kein Lachen ist und so rau klingt, dass Kayla sich im Zimmer umschaut und mich dann anguckt, als hätte ich sie verraten. Sie fängt an zu weinen.

Normalerweise mag ich an meinem Geburtstag das Singen am liebsten, weil die Kerzen alles in goldenes Licht tauchen und auf Mams und Pops Gesichter scheinen, sodass sie genauso jung aussehen wie Leonie und Michael. Wenn sie für mich singen, lächeln sie immer. Ich glaube, Kayla findet das Singen auch am schönsten, denn sie singt abgehackt mit. Kayla will unbedingt auf meinem Arm sein; sie hat so lange geweint und sich von Leonies Schulter abgestoßen und die Arme nach mir ausgestreckt, bis Leonie sie mir genervt hingehalten und »Hier« gesagt hat. Doch dieses Jahr ist das Lied für mich nicht das Schönste am Geburtstag, denn statt in der Küche sind wir alle dicht gedrängt in Mams Zimmer versammelt, und Leonie hält den Kuchen so, wie sie vorher Kayla gehalten hat, weit von sich, als wollte sie ihn gleich fallen lassen. Mam ist wach, sieht aber irgendwie nicht wach aus, ihre Augen sind nur halb offen und schauen einfach durch mich und Leonie und Kayla und Pop hindurch. Obwohl Mam schwitzt, wirkt ihre Haut blass und trocken, wie eine Schlammpfütze, die im Sommer nach mehreren Wochen ohne Regen zu einem Nichts getrocknet ist. Und eine Mücke sirrt um meinen Kopf, steuert auf mein Ohr zu, dreht wieder ab, droht mich zu stechen.

Als das Happy-Birthday-Lied losgeht, hört man nur Leonie. Sie hat eine hübsche Stimme, eine, die an den tiefen Stellen sehr schön klingt, sich bei den hohen Tönen aber überschlägt. Pop singt nicht mit; er singt nie. Als ich kleiner war, hab ich das nicht gemerkt, weil da noch die ganze Familie für mich gesungen hat: Mam, Leonie und Michael. Aber dieses Jahr, wo Mam nicht singen kann, weil sie zu krank ist, und Kayla zur Melodie einen Text erfindet und Michael weg ist, merke ich gleich, dass Pop nicht mitsingt, denn er bewegt nur die Lippen, ohne dass ein Ton herauskommt. Leonies Stimme überschlägt sich bei »lieber Joseph«, und das Licht der dreizehn Kerzen ist orangefarben. Niemand außer Kayla sieht jung aus. Pop steht zu weit vom Licht weg. Mams Augen in ihrem kalkbleichen Gesicht sind jetzt zu Schlitzen geschlossen, und Leonies Zähne sehen an den Rändern schwarz aus. Hier ist von Glück keine Spur.

»Herzlichen Glückwunsch, Jojo«, sagt Pop, aber er schaut mich dabei nicht an. Er schaut Mam an, ihre Hände, die schlapp und offen neben ihrem Körper liegen. Die Handflächen zeigen nach oben, wie tot. Ich beuge mich nach vorne, um meine Kerzen auszupusten, aber da klingelt das Telefon, und Leonie macht einen Satz; also macht auch der Kuchen einen Satz. Die Flammen flackern unter meinem Kinn und werden heißer. Wachsperlen tropfen auf die Babyschuhe. Leonie wendet sich mitsamt dem Kuchen von mir ab und schaut in die Küche, auf das Telefon, das auf der Anrichte steht.

»Lässt du jetzt den Jungen seine Kerzen ausblasen, Leonie?«, fragt Pop.

»Könnte Michael sein«, sagt Leonie, und dann ist der Kuchen nicht mehr da, weil Leonie ihn mit in die Küche genommen und neben dem Telefon mit der schwarzen Schnur abgestellt hat. Die Kerzenflammen fressen das Wachs auf. Kayla kreischt und wirft den Kopf zurück. Also folge ich Leonie in die Küche, zu meinem Kuchen, und Kayla lächelt. Sie greift nach dem Feuer. Die Mücke aus Mams Zimmer ist uns gefolgt und fliegt sirrend um meinen Kopf, spricht über mich, als wäre ich eine Kerze oder ein Kuchen. Mhm, schön warm und köstlich. Ich schlage sie weg.

»Hallo?«, sagt Leonie.

Ich halte Kaylas Arm fest und beuge mich zu den Flammen hinunter. Sie wehrt sich, sie ist fasziniert.

»Ja.«

Ich puste.

»Baby.«

Die Hälfte der Kerzen geht aus.

»Diese Woche?«

Die andere Hälfte zehrt das Wachs fast bis unten auf.

»Ganz sicher?«

Ich puste noch einmal, und der Kuchen wird dunkel. Die Mücke landet auf meinem Kopf. So lecker, sagt sie und sticht. Ich schlage zu, und dann ist meine Handfläche blutverschmiert. Kayla streckt einen Arm aus.

»Wir kommen natürlich.«

Kayla hat eine Handvoll Glasur erwischt, und ihre Nase läuft. Ihre blonden Afrolocken stehen hoch. Sie steckt die Finger in den Mund, und ich wische ihr das Gesicht ab.

»Schon gut, Baby, schon gut.«

Michael ist ein Tier am anderen Ende der Telefonleitung, hinter einer Festung aus Beton und Gitterstäben, seine Stimme reist kilometerweit durch Kabel und über sonnengebleichte Strommasten. Ich weiß, was er sagt, genau wie bei den Vögeln, die ich im Winter auf dem Weg nach Süden schreien höre, genau wie bei jedem anderen Tier. Ich komme nach Hause.

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