Читать книгу: «Blutspur in Locronan», страница 4

Шрифт:

Kapitel 6

Das Wetter war wie aus dem Bilderbuch. Azilis Gwenn spazierte an der Chapelle ar Sonj vorbei und betrachtete das große, steinerne Kreuz mit dem Kreisbogen und die dahinter liegende Kapelle. Azilis liebte diesen Weg, auf dem sie immer wieder etwas Neues fand, dass sie genau betrachten konnte, um es für immer in ihrem Gedächtnis zu bewahren. Am meisten liebte sie aber den herrlichen Blick, den sie von der Kapelle aus auf das nahegelegene Meer werfen konnte. Die Aussicht ließ bei Azilis ein Gefühl von Weite, von Offenheit, von unerfüllter Sehnsucht nach Ferne aufkommen. Eine Ferne, die sie gerne erkundet hätte, für die sie aber weder die Mittel noch den Mut hatte.

Azilis war eine einfache aber nicht ganz unkomplizierte Frau. Sie war einfach, was ihr Leben, ihre Kleidung, ihre Ausdrucksweise betraf. Aber im Umgang mit ihren Nachbarn, den Neuerungen im Ort oder Veränderungen im Ablauf des täglichen Lebens war sie alles andere, nur nicht einfach zu nennen. Vehement wehrte sie sich gegen alles und jeden, wenn es darum ging, Veränderungen herbeizuführen.

Die da oben, wie sie zu sagen pflegte wenn sie vom Stadtrat sprach, wollen alles zerstören, was wir uns aufgebaut haben.

Sie hatte heute ihr kleines Refugium, wie sie ihr Haus und den umfriedeten Garten nannte, verlassen, um sich abzulenken von den, in ihren Augen unsäglichen, ja ungeheuerlichen Ansinnen, die der Verein, der die Pardons organisierte, vorgebracht, und die die da oben abgesegnet hatten. Sie war keine Anhängerin der Pardons. Ganz im Gegenteil, sie ärgerte sich über die Maßen, dass sie den ganzen Trubel vor der Haustüre hatte wenn die Wallfahrt begann. Ihr kleines Refugium lag am Weg, den die Prozession nahm. Sie konnte sich mit der Eintägigen noch arrangieren, aber wenn alle sechs Jahre die große Troménie vorbeikam, hatte sie eine Woche lang den Lärm und die Menschen vor der Haustür. Alles nur wegen eines angeblich Heiligen, an den sie nicht recht glaubte. Alles Humbug, pflegte sie zu sagen, wenn man ihr versuchte, die Hintergründe zu erklären und sie um Verständnis bat. Jetzt hatte der Stadtrat auch noch den Änderungen des Organisationskomitees zugestimmt, und genau vor ihrem Eingang wollte man eine Bude für Getränke aufbauen. Damit hätte sie noch mehr Lärm und Unruhe.

Ihr war der Gedanke gekommen, eine Bürgerinitiative gegen die große Troménie zu gründen. Spontan erhielt sie 20 Unterstützer, die sich auch gegen dieses Spektakel wenden wollten. Leider stammten die meisten nicht aus Locronan, sondern waren Besitzer von Zweitwohnungen, die ihren Urlaub genau in der Zeit der Wallfahrt in Locronan verbrachten. Auch sie fühlten sich von dem Trubel, der eine ganze Woche lang anhielt, gestört. Azilis Gwenn wurde beauftragt, die Vorwände vorzutragen, was sie auch vehement bei jeder Gelegenheit machte.

Es war nicht das erste Mal, dass Azilis sich über eine Entscheidung der Gemeindeverwaltung ärgern musste. In der Stadt wurde sie als notorische Nörglerin bezeichnet, die sich mit jedem anlegte. Nicht umsonst galt sie als eine Kébén, eine böse Frau. Wie die ursprüngliche Kébén, so sprach auch sie in ihren Äußerungen eher gegen den Heiligen Ronan als für ihn. Sie kannte den Schimpfnamen, den man ihr gegeben hatte, was ihr herzlich wenig ausmachte.

„Kümmert euch um eure Angelegenheiten und nicht um die meinigen“, pflegte sie zu antworten. Freunde hatte sie nur wenige im Ort. Ein alter, eigenbrötlerischer Mann, als Druide bekannt, und den alten keltischen Rieten und Bräuchen absolut zugetan, gehörte zu ihren Freunden. Er führte ein beinahe so einsiedlerisches Leben wie der Heilige Ronan, ohne jedoch dem christlichen Glauben verbunden zu sein.

Azilis Gwenn war katholisch getauft, aber das letzte Mal, dass man sie in der Kirche gesehen hatte, lag bestimmt 30 Jahre zurück.

Für die Bewohner passte das alles zusammen. Ungläubig, bösartig, mürrisch, unverheiratet und bestimmt mit dem Teufel im Bunde, eben eine Kébén.

Azilis stand vor der Kapelle und betrachtete das kleine Gotteshaus. Sollten die Menschen über sie denken was sie wollten, sie erfreute sich an den Kapellen und den Calvaires der Region. Sie brauchte nicht jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, um allen zu zeigen, dass sie eine Christin war. Sie besuchte die Gotteshäuser lieber im Stillen und alleine. Sie betrat die kleine Kapelle und ging bis an den Altar vor, faltete ihre knöchrigen Hände und sprach ein stilles Gebet. Ihre langen, grauen, teilweise schon weißen Haare hingen ihr bis zur Schulter und rahmten das faltige, sonnengegerbte Gesicht ein. Ihre blauen Augen strahlten in diesen Momenten eine Zufriedenheit aus, die sicherlich nur wenige bis jetzt an ihr kennengelernt hatten.

Nach einigen Minuten der Andacht verließ sie die Kapelle und trat wieder in das gleißende Sonnenlicht. Sie wollte sich langsam auf den Rückweg machen. Von Weitem sah sie den Druiden kommen, wie sie ihren Freund, Gérard Tydou, liebevoll nannte. Sie blieb stehen und wartete, bis er die Kapelle erreicht hatte.

„Bonjour Gérard, brauchst du auch ein wenig Bewegung?“

„Bonjour Azilis, es geht weniger um Bewegung. Ich bin auf der Suche nach einigen Kräutern, die mir ausgegangen sind. Du weißt, für meinen Zaubertrank!“

Azilis musste lachen. Gérard mixte sich seit Jahrzehnten eine Kräutermischung für seine allabendliche Tisane. Eine Mischung, die er in seiner mehr als zwanzigjährigen Ausbildungszeit zum Druiden von seinem Lehrer mitgeteilt bekommen hatte. Genau wie Azilis, so pflegte auch er vor dem Schlaf eine Tasse Kräutertee zu trinken, was den Schlaf vertiefen und die Erholung verbessern sollte.

„Ich mache mich bereits wieder auf den Weg zurück. Ich wünsche dir noch gutes Gelingen, mein Freund“, sagte Azilis, verabschiedete sich von Gérard Tydou und folgte der Straße hinunter ins Ortszentrum, während Gérard Tydou im Wald hinter der Kapelle verschwand.

Azilis Gwenn war noch keine zehn Minuten von der Kapelle entfernt, als sie ein Geräusch hinter sich vernahm. Sie hatte niemanden gesehen, seitdem sie von der Kapelle weggegangen war. Azilis blieb stehen und wollte sich umdrehen, um einen Blick auf die Stelle zu werfen, von der das Geräusch gekommen sein musste. Sie kam nicht mehr dazu. Sie spürte nur noch, dass sich ein scharfer Gegenstand in ihren Rücken bohrte und ein stechender Schmerz in ihrer Lunge das Atmen verhinderte. Dann blitzte ein weißer, einzigartiger Lichtpunkt vor ihrem inneren Auge auf. Azilis ging in die Knie und sackte auf den Boden. Ihren Aufprall spürte sie nicht mehr. Blut rann aus der Öffnung in ihrem Rücken und verfärbte ihre weiße, leichte Leinenbluse rot.

Kapitel 7

Ewen notierte die Aussagen der Befragten stichwortartig an seiner Pinnwand, als sie im Kommissariat eingetroffen waren. Viel hatten sie noch nicht erfahren, aber es gab einige Ungereimtheiten in den Aussagen, denen sie nachgehen mussten. Alles deutete im Augenblick daraufhin, dass der Mord mit den geplanten Änderungen der Wallfahrt im Zusammenhang stand. Da gab es die Aussage von Kerelle, der angeblich keinerlei Differenzen mit Kerduc gehabt haben wollte. Dem widersprach Yann Morgat, seiner Aussage nach hatte es sehr wohl ein Problem gegeben, gerade wegen der geplanten Neuerungen. Dann das Alibi von Morgat, der behauptete, das Tourismusbüro nicht verlassen zu haben, während seine Angestellte ausgesagt hatte, dass er für eine Zeit außer Haus gewesen war. Wieso diese unterschiedlichen Aussagen, wenn sie nicht in den Mord verwickelt waren? Ewen überdachte seine nächsten Schritte. Er brauchte mehr Informationen über das Verhältnis von Kerduc zu den jeweiligen Personen. Hatte es schon früher Differenzen gegeben? Gab es früher schon Streit im Vorstand des Troménie-Vereins? Wie war es zur Wahl von Kerduc gekommen? Wer hatte ihn vorgeschlagen? Gab es weitere Kandidaten? Gab es Gerüchte in der Stadt über jemanden aus dem Vorstand?

Ewen erhoffte sich, durch die Klärung dieser Fragen ein deutlicheres Bild von Kerduc zu erhalten. Vielleicht gab es ja doch eine Erpressung. Als Briefträger konnte Didier Kerduc über etwas gestolpert sein, dass er benutzt hatte, um seine Wahl zu sichern oder um jemanden zu erpressen.

Ewen ging zum Schreibtisch und griff zum Telefonhörer, um den Kollegen, Dustin Goarant, von der Spurensicherung, und Yannick Detru, ihren Pathologen, anzurufen. Die ersten Ergebnisse vom Tatort, beziehungsweise von der Autopsie, mussten inzwischen vorliegen.

„Bonjour Ewen, ich habe mich schon gewundert, dass du dich noch nicht gemeldet hast. Normalerweise fragst du an einem Montagmorgen sofort nach.“

„Stimmt schon Dustin, du kennst mich, ja. Heute Morgen bin ich sofort mit Paul nach Locronan gefahren, um erste Befragungen durchzuführen. Wir sind gerade vorhin zurückgekommen. Hast du etwas Brauchbares für mich?“

„Habe ich! Auch wenn es nicht sehr viel ist. Da ist zuerst einmal ein Eichenblatt. Das Blatt hat unmittelbar neben der Leiche gelegen, aber es gibt dort keine Eiche im Umkreis von 400 Metern. Dann habe ich noch einen Kordelstopper von einem Rucksack gefunden. Sicherlich kennst du die kleinen Vorrichtungen, mit denen man eine Kordel nach dem Zuziehen arretiert. Dieser Kordelstopper muss von einem Rucksack verloren worden sein. Mehr haben wir leider nicht gefunden. Schuhabdrücke oder DNA-Spuren sind leider nicht zu finden gewesen.“

„Ist ja nicht so viel. Mit einem Eichenblatt können wir nichts anfangen.“

„Sag das nicht, ich sage dir doch, dass in der Umgebung keine Eiche steht. Wenn du die passende Eiche findest, dann kann sie dich zum Mörder führen.“

„Wie soll mich eine Eiche zum Mörder führen? Die Blätter sehen doch alle gleich aus.“

„Ihr Aussehen ist identisch, aber auch eine Eiche hat eine unverwechselbare DNA. Man kann die DNA von jeder Pflanze bestimmen, so wie bei einem Menschen.“

„Das könnt ihr machen?“

„Wir nicht, aber beim Bundeskriminalamt in Deutschland geht das. Dort sitzt ein Experte, der ist weltweit führend in dem Bereich. Wir können ihm eine Probe schicken und ihn um einen Abgleich bitten. Natürlich müssen wir die Kosten dafür übernehmen. Nourilly wird zwar nicht begeistert sein, aber wenn es dich weiterbringt, sollten wir es dennoch in Erwägung ziehen.“

„Das ist natürlich etwas völlig Anderes. Dann haben wir ja doch eine Spur. Was ist das mit diesem Kordelstopper?“

„Wie ich schon gesagt habe, der fehlt bei einem Rucksack. Wenn du mir einen Rucksack bringst, sage ich dir, ob der Stopper dazugehört. Der Stopper hat eine Kennzeichnung eingeprägt. Er muss an dem Rucksack fehlen.“

„Das heißt, Dustin, du brauchst nur den richtigen Rucksack und den richtigen Eichenbaum, und dann haben wir den Mörder?“

„So ungefähr Ewen.“

„Ich danke dir.“ Ewen legte den Hörer auf. Er ging zur Pinnwand und notierte sich diese Informationen. Eichenblatt und Kordelstopper. Er rief jetzt noch Yannick an, um von ihm das Ergebnis der Autopsie zu erfahren.

Yannick Detru konnte Ewen nur sagen, dass der Mann vermutlich mit einem Jagdmesser erstochen worden ist, dessen Klinge ungefähr 18 cm lang gewesen sein muss. Die Einstichstelle ist etwas ausgefranst gewesen, sodass davon auszugehen ist, dass das Messer auf einer Klingenseite einen Wellenschliff gehabt hat. Ansonsten hat es keinerlei andere Befunde gegeben. Didier Kerduc ist ein kerngesunder Mann gewesen, soweit das postmortal festzustellen ist.

Ewen bedankte sich bei Yannick und notierte auch diese Ergebnisse sofort an der Pinnwand.

Inzwischen war es Nachmittag geworden und die Sonne schien wieder, nachdem der Morgen ausgesehen hatte, als ob es Regen geben würde. Ewen stand vor der Wand und betrachtete die Eintragungen. Sie mussten unbedingt noch einmal mit Kerelle und Morgat sprechen und beide mit ihren widersprüchlichen Aussagen konfrontieren. Er wollte gerade zu Paul gehen, um mit ihm das weitere Vorgehen zu besprechen, als Paul auch schon in der Tür stand und Ewen mit düsterem Blick ansah.

Ewen kannte diese Miene, sie bedeutete nichts Gutes.

„Was ist passiert?“

„Ein weiterer Mord in Locronan, Ewen, ich hoffe nicht, dass das so weitergeht.“

„Was! Ein weiterer Mord? Wer ist ermordet worden?“

„Eine Frau, ein Freund der Frau, so hat mir die Gendarmerie von Locronan erklärt, hat sie gefunden. Einiges deutet daraufhin, dass es derselbe Täter sein könnte. Die Frau ist wohl auch erstochen worden.“

„Auf was warten wir noch? Los geht’s!“ Ewen schnappte sich sein Jackett vom Besucherstuhl und eilte aus dem Büro.“

Der Fundort der Leiche lag in derselben Straße, in der auch die Leiche von Didier Kerduc gelegen hatte. Die Entfernung zum Ort Locronan war etwas größer, keine 200 Meter von der Chapelle ar Sonj entfernt. Die Kollegen vom Freitag hatten den Fundort wieder großräumig abgesperrt. Paul hatte noch im Büro Yannick und Dustin informiert, so dass beide bereits kurz vor ihnen eingetroffen waren.

Den Dienstwagen ließen sie in einer angemessenen Entfernung stehen, um keinerlei Spuren zu zerstören und gingen zu Fuß bis zum Tatort.

„Was kannst du uns sagen Yannick?“, fragte Ewen, als sie bei ihrem Pathologen eintrafen.

„Mein erster Eindruck ist, dass die Frau mit demselben Messer erstochen worden ist wie der Tote, Kerduc. Aber Genaueres natürlich erst nach der Obduktion. Was mir aber aufgefallen ist, der Einstich ist nicht ganz gerade erfolgt. Vermutlich hat das Opfer sich umdrehen wollen. Der Täter ist allerdings schon dabeigewesen zuzustechen. So ist es zu einem schiefen Einstich gekommen.“

„Verrückt! Haben wir es jetzt mit einem Serienmörder zu tun?“

„Das herauszufinden, mein lieber Ewen, ist eure Aufgabe!“

„Ist ja keine wirkliche Frage gewesen, ich habe nur laut gedacht.“

„Wie lange ist die Tat her?“

„Noch nicht sehr lange, ich würde meinen, maximal eine Stunde. Der Mordanschlag muss so gegen 14 Uhr passiert sein.“

„Danke Yannick“, sagte Ewen und sah sich nach Dustin um.

Dustin Goarant war mit seinen Leuten dabei, wieder einmal nach möglichen Spuren zu suchen, als Ewen auf ihn zukam und nach neuen Funden fragte.

„Bis jetzt habe ich noch nichts von Bedeutung entdeckt, Ewen. Wir haben bei der Leiche den Ausweis der Frau gefunden, ihr Portemonnaie, einen Hausschlüssel und eine kleine Goldkette, die sie um den Hals getragen hat. Interessanter dürfte aber dieser Abdruck sein.“ Dustin zeigte auf den Abdruck eines Schuhes, der unmittelbar neben der Leiche auf dem Asphalt zu sehen war. Der Täter musste zuvor in feuchtem Boden gestanden haben.

„Ich kann mir vorstellen, dass der Abdruck von unserem Mörder stammt. Wir haben ein Foto davon aufgenommen. Ich habe neben dem Weg eine Stelle gefunden an der Gras fehlt, und auf dem feuchten Boden ist der selbe Abdruck zu sehen. Von der Spur werden wir einen Gipsabdruck anfertigen. Ich vermute, dass der Täter sich im Gras versteckt hat, bis die Frau hier vorbeigekommen ist. Dann ist er wohl rasch aufgestanden, hat zwei oder drei Schritte auf dem Gras des Seitenstreifens zurückgelegt und die Frau von hinten erstochen.“

„Hmmm, das würde zu der Feststellung von Yannick passen. Er hat mir gerade gesagt, dass die Frau ihren Mörder wohl gehört haben muss und sich umgedreht hat. Der Einstichwinkel lässt darauf schließen.“

„Den Spuren nach würde ich es auch so sehen.“

„Sobald du hier fertig bist, Dustin, solltest du dir das Haus der Toten ansehen. Ich will zwar auch einen Blick reinwerfen, aber du bist viel akribischer.“

„Alter Schmeichler“, meinte Dustin und ging seiner Arbeit weiter nach.

Während Ewen sich mit Yannick Detru und Dustin Goarant unterhalten hatte, war Paul zu dem Gendarmen gegangen und hatte sich danach erkundigt, wer die Tote gefunden hat, und wie die Frau heißt.

„Monsieur le Commissaire, gefunden hat sie der ältere Mann dort drüben. Er ist ein wenig…, wie soll ich sagen, seltsam. Im Ort gilt er als Druide, und ich glaube, er hat auch eine entsprechende Ausbildung absolviert. Wir hier in der Bretagne glauben zwar nicht an Zauberei, aber die alten Überlieferungen werden von vielen respektiert. Angeblich hat er schon mehreren Frauen im Ort geholfen. Er ist mit Madame Azilis Gwenn befreundet gewesen. Die Frau hat hier nicht sehr viele Freunde gehabt aber jede Menge Feinde. Sie ist als notorische Nörglerin bekannt gewesen. Man hat sie eine Kébén genannt. Sie hat zu jenen gehört, die sich vehement gegen die Wallfahrt ausgesprochen haben. Eigentlich nicht gegen die Pardons an sich, sondern mehr gegen den Weg, den sie traditionell eingeschlagen haben, und der an ihrem Haus vorbeigeführt hat.“

„Eine Kébén, das ist doch ein Schimpfname für eine bösartige Frau.“

„Stimmt genau, Monsieur le Commissaire. Hier in Locronan hat der Name sogar eine ganz besondere Bedeutung. In der Sage vom Heiligen Ronan wird die Kébén erwähnt und daher stammt der Begriff. Locronan, die letzte Ruhestätte des Heiligen, ist mit der Sage natürlich besonders verbunden.“

„Ich kenne die Geschichte gut, die haben wir in der Schule lesen müssen. Aber Ronan hat der bösen Kébén doch verziehen und sie vor dem sicheren Tod bewahrt. Also nur weil sie gegen die Wallfahrt gewesen ist, ist sie wohl nicht umgebracht worden.“

„Das wollte ich so auch nicht sagen, es war ja nur eine Überlegung.“

„Ich werde mich mit dem Druiden unterhalten. Wie heißt der Mann?“

„Erwenn Torc´h, ein ganz ruhiger und besonnener Mensch. Allerdings eben…, ein wenig seltsam.“

Paul bedankte sich bei dem Gendarmen und ging zu dem etwas abseits stehenden älteren Herrn. Schon sein Äußeres unterschied sich beträchtlich von den Menschen der Region. Er trug eine weiße Kutte, die um die Hüfte mit einer dicken Kordel zusammengezogen und verknotet war. Seine nackten Füße steckten in schwarzen Sandalen, um den Hals trug er eine Kette aus verschiedenen kleinen, durchlöcherten Steinen, die auf einem, vermutlich aus Nylon bestehenden, Faden aufgezogen waren. Sein grauer Bart hatte eine beachtliche Länge. Auf dem Rücken hing eine Art Sack, der vom einen Ende mit einer dickeren Schnur verschlossen wurde, während das andere Ende zu einer großen Schlaufe geformt und an der unteren Seite des Sacks befestigt war. Durch diese Schlaufe hatte er seinen Arm geschoben und den Sack über die Schulter gelegt.

„Bonjour Monsieur Torc´h, mein Name ist Paul Chevrier von der police judiciaire in Quimper. Sie haben die Tote gefunden“?

„Ja, ich habe Madame Gwenn hier auf der Straße gefunden. Wir sind uns zuvor noch bei der Kapelle Sonj begegnet und haben ein paar Worte ausgetauscht.“

„Kannten Sie Madame Gwenn gut?“

„Sehr gut, schon seit mehr als 30 Jahren. Sie war eine sehr nette Frau.“

„Ich habe allerdings gehört, dass man sie als eine Kébén beschimpft hat. Das passt nicht so richtig zu einer netten Frau.“

„Das waren die Ignoranten, die nicht verstanden, dass Azilis lediglich eine andere Vorstellung vom Leben hatte. Sie war eher mit der Natur verbunden als mit den Menschen. Sie liebte es in der Natur zu sein und sich an den Wundern der Natur zu erfreuen. Wir waren oft, sehr oft, gemeinsam hier oben. Schauen Sie sich doch nur um, was für einen grandiosen Blick man von hier hat. Unsere kleine Stadt, die Hügel, die Wiesen, das Meer, den blauen Himmel und die weißen Wolken. Für sie gab es nichts Schöneres. Für kein Geld der Welt hätte sie auf das alles verzichtet.“

„Haben Sie etwas gesehen oder bemerkt, als Sie von der Kapelle gekommen sind?“

„Nein, ich habe niemanden hier oben gesehen. Ganz unten, schon beinahe am Ortseingang, spazierte gemächlich ein Mann. Es schien, als komme er von hier oben. Vielleicht ist er aber auch aus einer anderen Richtung gekommen, vielleicht von dem Campingplatz oder aus einer der anderen Seitenstraßen.“

„Können Sie den Mann genauer beschreiben?“

„Dafür war er einfach zu weit weg. Ich konnte nur sehen, dass er einen Hut trug und einen Rucksack mitführte.“

„Wie viel Zeit war denn vergangen, zwischen der Auffindung von Madame Gwenn und ihrem Gespräch an der Kapelle?“

„So genau kann ich das nicht sagen, ich besitze keine Uhr. Vielleicht eine Stunde. Ich bin noch im Wald gewesen und habe einige Kräuter gesucht, für meine Tisanemischung.“

„Können Sie mir noch etwas über Madame Gwenn erzählen? Ist sie verheiratet gewesen? Hat Sie Kinder oder andere Verwandte?“

„Nein, Madame Gwenn ist nicht verheiratet gewesen, sie hat auch keine Verwandtschaft, soweit ich das weiß. Ihre Eltern sind bereits vor vielen Jahren gestorben und haben ihr das kleine Häuschen vermacht, in dem sie gelebt hat. Sie hat ein ganz bescheidenes Leben geführt. Sie ist eine Künstlerin gewesen. Sie hat magische Hände gehabt, sobald sie ein Stück Ton in ihren Händen hatte. Ihre kleinen tönernen Kunstwerke sind einzigartig gewesen. Sie hat keine vollständige Ausrüstung für ihre Keramikkunst besessen, sodass sie ihre Erzeugnisse bei einer anderen Künstlerin brennen ließ. Die hat auch ihre Objekte für sie verkauft. Im Sommer sind die Sachen ganz gut weggegangen. Die Touristen haben ihre Schalen, Tassen, Teller und Töpfchen gekauft. Das Geld hat ihr dann bis zum nächsten Sommer gereicht. Sie wissen bestimmt, dass im Herbst und Winter in Locronan nicht sehr viel los ist.“

„Und was tun Sie für Ihren Lebensunterhalt?“

„Junger Mann, ich bin Druide! Ich fertige meine Tees und meine Heilkräutermischungen an und verkaufe sie. Weiterhin bin ich Astrologe, erstelle Baumhoroskope und kenne mich mit der Naturheilkunde bestens aus. Es gibt genügend Menschen, die meine Dienste gerne in Anspruch nehmen. Ich werde damit bestimmt nicht reich, aber das ist auch nicht mein Ziel. Ich möchte im Einklang mit der Natur leben, so wie das unsere keltischen, druidischen Vorfahren gemacht haben.“

„Haben Sie vielen Dank für diese Auskünfte. Wenn Sie mir noch Ihre Adresse und Telefonnummer geben, falls wir noch Fragen haben.“ Paul, der die Informationen von Monsieur Erwenn Torc´h in sein schwarzes Büchlein notierte, wartete auf die Antwort.

„Mit einer Telefonnummer kann ich leider nicht dienen, Monsieur le Commissaire, ich besitze kein Telefon. Ich wohne in Coat Beuliec, mein Haus ist nicht zu verfehlen. Ein kleines Granithaus, mit einem Menhir vor dem Eingang.“

Paul notierte sich die Adresse, verabschiedete sich von dem Mann und ging zurück zu Ewen, der immer noch bei der Leiche stand, die aber gerade eingeladen wurde, um sie in die Pathologie zu bringen. Yannick hatte sich schon auf den Heimweg begeben.

„Ich habe mich mit Monsieur Torc´h unterhalten. Er hat die Tote gefunden. Seiner Aussage nach, ist Madame Gwenn eine ganz ruhige und besonnene Frau gewesen. Der Gendarm hat mir allerdings genau das Gegenteil gesagt. Demnach ist sie eine Kébén gewesen, eine notorische Querulantin.“

„Da sieht man wieder einmal wie unterschiedlich unsere Umwelt uns sieht. Hat er etwas gesehen?“

„Nein, nicht wirklich. Er hat gesagt, dass er einen Mann mit Hut gesehen hat, der bereits am Dorfrand gewesen ist. Er hat aber nicht sagen können, ob der Mann von hier oben oder aus einer Seitenstraße gekommen ist. Eine genaue Beschreibung hat er sowieso nicht abgeben können, wegen der Entfernung.“

„Yannick hat gemeint, dass es sich um den Täter handeln könnte, der auch Didier Kerduc ermordet hat.“

„Das hilft und bei der Suche nach dem Motiv also nicht. Die Frau hat definitiv nichts mit der Wahl zum Vorstand des Troménie-Vereins zu tun.“

„Ich fürchte, dass du Recht hast. Es muss ein anderes Motiv geben.“

„Gehst du davon aus, dass es keiner aus dem Umfeld des Vereins gewesen ist?“

„Ich bin noch etwas vorsichtig, ich kann im Moment keine direkte Verbindung erkennen, Paul.“

„Hat Dustin etwas gefunden, was uns weiterhelfen könnte?“

„Jedenfalls mehr als am Freitag. Er hat einen Schuhabdruck sicherstellen können, der mit großer Wahrscheinlichkeit vom Täter stammt, und der eine auffällige Veränderung an der Sohle hat. Nach Meinung von Yannick und Dustin, könnte der Mörder sich an die Frau herangeschlichen haben. Wahrscheinlich hat er im Gras gelegen und auf sie gewartet. Entsprechende Spuren haben sie sichergestellt.“

„Das bedeutet, dass er ihr gefolgt ist, nachdem sie die Ortschaft verlassen hat. Wir können die Leute befragen, die an der Straße wohnen, vielleicht haben sie jemanden beobachtet, der Madame Gwenn gefolgt ist.“

„Unbedingt Paul, aber es werden eine Menge Leute sein, die wir befragen müssen. Wir sollten die beiden Gendarmen aus Locronan bitten, uns zu unterstützen.“

„Ich werde sofort mit den Kollegen sprechen, Ewen.“

Paul drehte sich um und ging zu dem Gendarmen, mit dem er noch vor einigen Minuten gesprochen hatte.

Ewen sah sich weiter am Tatort um. Die Stelle war frei und von allen Seiten einsehbar. Wie kann ein Mörder auf die Idee gekommen sein, eine solche Stelle am hellen Tag auszusuchen, um sein Opfer zu ermorden? An der Kapelle, nur wenige 100 Meter entfernt, wäre er wesentlich besser vor Blicken geschützt gewesen. Alles war seltsam an diesen beiden Fällen.

War Ewen beim Mord an Kerduc vor wenigen Stunden noch davon ausgegangen, dass der Mann mit seinem Wissen vielleicht eine Erpressung versucht hatte und deswegen umgebracht worden war, konnte er sich das bei dem zweiten Mord nicht vorstellen. Eine Erpressung war hier nicht im Vordergrund. Oder vielleicht doch? War es denkbar, dass beide, Kerduc und Madame Gwenn, die Erpresser waren? Er musste die Frage mit Paul besprechen, vielleicht hatte der ja schon etwas mehr in Erfahrung bringen können. Vor allem musste er mehr über Freunde und Feinde von Madame Gwenn herausfinden. Sollte es Schnittmengen zwischen den Freunden von Kerduc und der Frau geben, oder auch mit deren Feinden?

Paul kam in Begleitung des Gendarmen Yann Kerrac´h zurück. Sein Kollege, Mathieu Bollec, verblieb vorerst noch am Tatort. Ewen bedankte sich für die Unterstützung und informierte den Gendarmen Kerrac´h über seine Aufgabe, die Anwohner des Weges zu befragen. Er bat ihn auch nachzufragen, ob die Anwohner Näheres über das Verhältnis von Kerduc und Madame Gwenn wussten. Locronan war nicht so groß, sodass Geheimnisse nicht lange im Verborgenen blieben. Wenn erst einmal einer etwas erfahren hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis der ganze Ort die Neuigkeit verbreitete.

„Ich mache mich sofort auf den Weg, Monsieur le Commissaire. Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, melde ich mich bei Ihnen.“ Yann Kerrac´h ging die Straße hinunter.

Paul blieb zuerst noch bei Ewen stehen und wartete bis der Gendarm sich entfernt hatte.

„Denkst du an ein Verhältnis zwischen Kerduc und unserer toten Frau?“

„Nicht unbedingt an ein Verhältnis, Paul, aber es könnte doch sein, dass sie gemeinsam eine Erpressung angezettelt haben. Eigentlich suche ich nur nach Schnittmengen zwischen den beiden Toten. Wenn wir davon ausgehen, dass der Mörder ein- und dieselbe Person ist, und davon müssen wir nach den Feststellungen von Yannick ausgehen, dann gibt es ein gemeinsames Motiv. Und wenn wir das Motiv gefunden haben, finden wir auch den Mörder.“

Am Tatort konnten sie jetzt nichts mehr ausrichten, sodass Ewen und Paul beschlossen, ihre Ermittlungen in Locronan fortzusetzen. Die weiteren Befragungen vor Ort erledigten die beiden Gendarmen aus Locronan.

„Hast du von dem Gendarmen noch etwas an Hintergrundinformationen über Madame Gwenn erfahren, oder über den Mann, der die Tote aufgefunden hat?“, fragte Ewen auf dem Weg zu ihrem Auto.

„Ja und nein, Monsieur Torc´h hat mir erzählt, dass die Frau sehr bescheiden gelebt hat. Sie hat getöpfert, ihre Ware jedoch über eine andere Keramikerin vertrieben. Der Gendarm hat weiterhin berichtet, dass sie keine Freundin der Wallfahrt gewesen ist. Es hat sie geärgert, dass der Weg an ihrem Haus vorbeigeführt hat, und sie daher immer mit dem entsprechenden Lärm konfrontiert worden ist.“

„Wir unterhalten uns einfach nochmal mit Monsieur Morgat. Vielleicht kann der uns etwas mehr über Madame Gwenn erzählen. Wir müssen sowieso mit dem Mann sprechen, er muss uns den Widerspruch in seinem Alibi erklären. Wir sollten gleich bei ihm vorbeifahren.“

„Meinst du, dass er über Madame Gwenn und ihrer Abneigung zum Weg der Wallfahrt Bescheid weiß?“

„Keine Ahnung, aber es ist doch möglich. Vielleicht kann er etwas beitragen.“

Ewen öffnete die Wagentür und stieg ein. Als auch Paul Platz genommen hatte, fuhr er los. Es war nur eine kurze Fahrt bis zum Ortskern. Sie stellten den Wagen vor dem Ti Kêr, dem Rathaus, ab und gingen die wenigen Schritte zum Office de Tourisme. Der Raum war jetzt nicht mehr so gefüllt wie am Morgen. Freundlich wurden die beiden Kommissare von der jungen Frau, die sie bereits am Vormittag zu Monsieur Yann Morgat geführt hatte, begrüßt.

„Möchten Sie noch einmal mit unserem Chef sprechen?“, fragte sie sofort und lächelte.

„Das ist unsere Absicht“, antwortete Ewen und lächelte zurück.

„Ich melde Sie gleich an.“ Sie stand auf und betrat das dahinter liegende Büro. Wenig später kam sie zurück und ließ die Tür offen stehen.

„Der Chef erwartet Sie.“

Ewen und Paul gingen an ihr vorbei und betraten das Büro von Monsieur Morgat.

„Wie kann ich der Polizei behilflich sein?“, fragte Morgat und kam mit ausgestreckter Hand auf die Kommissare zu.

Ewen und Paul reichten ihm die Hand und begannen sofort mit der Befragung.

„Monsieur Morgat, wir haben eine Ungereimtheit in Ihrer Aussage vom heutigen Vormittag festgestellt und bitten Sie um Aufklärung dazu. Sie haben ausgesagt, dass Sie den ganzen Freitagvormittag in ihrem Büro gewesen sind. Ihre Angestellte hat sich allerdings erinnern können, dass Sie das Büro verlassen haben, um zur Post zu gehen. Als Sie zurück gekommen sind haben Sie von einer Wartezeit gesprochen, die Sie aufgehalten hat.“

„Daran habe ich nicht mehr gedacht. Ja, es ist richtig, ich hab mir an der Post geholt Geld. Aber danach bin ich sofort wieder im Büro gewesen.“

„Also Monsieur Morgat, gesetzt dem Fall, dass Sie etwas mit der Ermordung von Monsieur Didier Kerduc zu tun haben, wäre es Ihnen doch möglich gewesen, in der Zeit Ihrer Abwesenheit den Weg bis zum Tatort zurückzulegen und anschließend wieder im Büro zu erscheinen. Ihre Angestellte hat sich nicht genau erinnern können wie lange Sie weggewesen sind.“

Бесплатный фрагмент закончился.

399
669,35 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
290 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783742785985
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают