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Im Jahr 1968 stattete Königin Elizabeth II. dem Land einen Staatsbesuch ab. Am vorletzten Tag ihres Aufenthalts besuchte sie eine All-Star-Partie zwischen Rio und São Paolo mit Pelé in seinen Reihen. Unter der beeindruckenden Menge der 200.000 Zuschauer im Maracanã befanden sich auch, an ihren angestammten Plätzen, die torcidas von Botafago, Vasco da Gama, Fluminese und Flamengo.52 Auch Cláudio war dort. »Völlig unvermittelt ertönte ein Werbejingle für die Kekse von São Luiz, so in etwa …« Er räusperte sich und begann zu singen: »Pausenzeit, schöne Zeit, gebt uns São-Luiz-Kekse.« Die Menge griff den Jingle im Handumdrehen auf, doch mit einer entscheidenden Abwandlung. »Alle begannen zu singen …«, er räusperte sich erneut, »Pausenzeit, schöne Zeit, gebt uns den Arsch der Queen.« Eine linksgerichtete Tageszeitung berichtete später, die Queen habe, bevor sie Pelé den Siegerpokal überreichte, ihren Gastgebern versichert, wie schön die Gesänge gewesen seien. Der beschämte Dolmetscher hatte notgedrungen zu einer Lüge gegriffen und behauptet, die Menschen würden ihr zu Ehren singen.

Raça entwickelte sich über eine reine Fangruppierung hinaus zu einem Treffpunkt der multikulturellen Jugend Rios, einer Oase, wo man frei seine Ansichten äußern konnte, auch wenn diese hin und wieder ausgesprochen anstößig waren. Immer mehr torcidas lösten sich von den Vereinen und wurden unabhängig, indessen die althergebrachten torcidas der vorherigen Generation, wie die Charanga, an Bedeutung verloren. Cláudio war mit der Entwicklung der brasilianischen torcidas und ihrer Verwicklung in das organisierte Verbrechen alles andere als einverstanden. Ihm zufolge scheffelten die Anführer haufenweise Geld durch den Fanartikelhandel und Schmiergelder der Vereine, hauptsächlich in der Form von Tickets, die weiterverkauft wurden. »Die Wertvorstellungen haben sich gewandelt«, erklärte er und machte ein unerwartetes Geständnis: »Ich zum Beispiel mag den Fußball nicht.« Er liebte Flamengo, nicht die jeweilige Mannschaft dieses Namens. Für Cláudio zählte nur Rot und Schwarz.

Cláudio stieg 1987 aus und fing bei der Polizei an, ohne deswegen jedoch zahmer zu werden. Stolz berichtete er: »Bei der Polizei schimpfte man mich einen Kommunisten, weil ich die Streiks organisierte. Drei Mal hat man mich wegen Militanz verhaftet.« Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst zehn Jahre zuvor hatte er die Vaca Atolada erworben, wo sich die progressiven Aktivisten der Stadt trafen. Die antifaschistischen Mitglieder der torcidas aller Vereine Rios fanden sich dort ebenso ein wie Künstler und Politiker. Die 2018 ermordete Regionalpolitikerin Marielle Franco, die sich einen Namen gemacht hatte, als sie die Polizeigewalt aufgedeckt hatte, war eine Freundin Cláudios und Stammgast in der Vaca Atolada gewesen. Zwei Ex-Polizisten waren wegen des Mordes an ihr festgenommen und angeklagt worden, doch zu den Hintermännern der Tat gab es nach wie vor kaum Erkenntnisse.53 Die veränderten politischen Verhältnisse hatten Cláudio zu einer drastischen Maßnahme greifen lassen: Er war aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Der vorherige Boss der Raça war verhaftet worden, weil er einen gegnerischen Fan umgebracht haben sollte, und die Gruppierung war wegen der Gewalt für fünf Jahre aus dem Maracanã verbannt worden. Daraufhin hatte der Vereinspräsident Cláudio gebeten, wieder einzusteigen und als eine Art beratender capo das Chaos zu beseitigen.

Er sagte: »Nach 30 Jahren bin ich zurückgekehrt, um Raça neu zu organisieren. Ich habe ihnen gesagt: ›Wir erneuern Raça von Grund auf, misten völlig aus. Wir schmeißen die Idioten raus. Und sollten am Ende nur 20 Prozent übrigbleiben, können wir neu anfangen.‹«

Er wollte der Gruppe eine neue Organisationsstruktur verpassen, mit einer Art Parlament und Wahlen jeweils zu Jahresbeginn, damit die Macht nicht länger in den Händen eines Einzelnen liegen würde. Außerdem strebte er eine Rückkehr der torcida in die Zeiten eines Jayme de Carvalhos an, als in den Stadien noch brasilianische Musik erklang. »Heute singen sogar die brasilianischen Fans argentinische Songs«, erklärte er sarkastisch. »In meinen Ohren ein furchtbarer Scheiß … Wir bringen die Samba zurück. Die Raça hat als erste torcida die Samba ins Stadion gebracht. Weil sie pure Lebensfreude ist.«

Inzwischen war die Band bereit für ihren Auftritt. Während wir uns unterhalten hatten, hatte die Vaca Atolada sich zum Bersten gefüllt. Die Musiker saßen um einen großen Tisch mitten in der Bar, um sie herum drängten sich die Menschen. Cláudio musste arbeiten. Doch bevor er nach drinnen verschwand, sagte er noch: »Wer die Gesänge kontrolliert, hat die Macht.«

Rafael wartete um Punkt neun Uhr morgens mit einem rot-schwarzen Flamengo-Trikot in der Hand vor meinem Hotel. Er reichte es mir und sagte: »Du solltest es anziehen. Es würde seltsam wirken, wenn du dort ohne auftauchst.« Rafael war ein junger Filmemacher, der mich in der Vaca Atolada eingeführt und Cláudio vorgestellt hatte. Auch er war doente por Flamengo. Es war ein Sonntag, und im Maracanã stand das Spiel gegen Chapecoense an, jenen Verein, der ein Jahr zuvor auf tragische Weise nahezu die gesamte Mannschaft bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte. Kein Verein aus Rio, also auch kein Derby, dennoch wurde mit einem ausverkauften Stadion gerechnet. Das war eine Seltenheit im brasilianischen Fußball. Seit einigen Jahren gab es zwar kaum noch Gewalt in den Stadien, doch der Weg zu den Spielen war mittlerweile derart gefährlich, dass der Zuschauerschnitt in der brasilianischen Série A bei lediglich 15.000 lag. Entgegen der herkömmlichen Fußballlogik kamen insbesondere zu den großen Derbys die wenigsten Zuschauer. Tags zuvor bei Fluminese gegen Botafogo war das Maracanã nur halb voll gewesen. Doch die Liga hatte sich eine neue Lösung einfallen lassen und den Anstoß auf 11 Uhr am Sonntagmorgen verlegt. »Ich denke, so ist es besser«, sagte Rafael auf dem Weg durch merkwürdig leere Straßen zum Maracanã. »Die Leute wollen den torcidas den schwarzen Peter zuschieben. Sie sagen, dass sie gewalttätig seien. In Brasilien haben die Leute Angst, ins Stadion zu gehen, daher der niedrige Zuschauerschnitt. Aber das Lustige ist, dass es in einem Stadion schon lange keine schlimmen Krawalle mehr gegeben hat. So etwas kommt kaum noch vor.«

Raça war aus dem Maracanã verbannt worden, doch Rafael hoffte, dass Cláudio für eine Wende und die Aufhebung des Stadionverbots sorgen und den ursprünglichen Geist der torcida wiederbeleben würde. »Jetzt, mit Bolsonaro an der Macht, versucht Cláudio, den Leuten bewusst zu machen, wie wichtig die torcidas sind, und ihnen vor Augen zu führen, was gerade in Brasilien abläuft«, sagte Rafael. Cláudio war aufrichtig überzeugt, dass die torcida erneut zum Bollwerk gegen den Faschismus werden könne, wie einst zu seiner Zeit. Auch die torcidas anderer Vereine begannen sich zu organisieren, und zu Jahresende sollte ein antifaschistisches torcida-Treffen stattfinden.

»Viele Polizisten unterstützen ihn [Bolsonaro]«, erklärte Rafael. »Letzten Monat wollte jemand mit einem antifaschistischen Flamengo-T-Shirt ins Maracanã. Er wurde nicht reingelassen. Im Grunde leben wir bereits wieder in einer Diktatur, vor allem, wenn man an die Polizei denkt.«

Vor den Eingängen des Maracanã geriet der Strom der 60.000 Zuschauer ins Stocken. Eine buntgemischte Menge drängte in das ausverkaufte Stadion. Im Vorfeld der WM 2014 war ich wegen der damaligen Proteste nach Rio gekommen und hatte auf den Straßen das wahre Brasilien in all seiner Vielfalt kennengelernt. Doch die hohen Eintrittspreise bei der WM und dem vorhergehenden Confederations Cup hatten sich nur die Privilegierten leisten können. Bei den Spielen hatte man ausschließlich weiße Gesichter gesehen. Dagegen bot das bevorstehende Spiel ein weitaus getreueres Abbild von Rio. Nach Nationalhymne und Anpfiff stimmten die Zuschauer ihre Gesänge an. Rafael sagte: »Viele unserer Fans sind arm, darum haben die anderen uns immer angepöbelt: ›Ach, die Favelas, die Favelas!‹ Wir haben ihren Sprechchor übernommen und ins Gegenteil verkehrt: ›Favela, Favela, Party in der Favela‹.«

Flamengo ging rasch mit 1:0 in Führung. Der ausgelassene Jubel der Zuschauer brachte das Stadion zum Beben. Noch vor der Pause bekam die Mannschaft einen Elfmeter zugesprochen, verschoss allerdings. Zur Halbzeit wurde das Team ausgepfiffen. Rafael meinte: »Es reicht nie. Wenn sie drei Tore machen, verlangen die Zuschauer vier.« Doch etwas fehlte: die Musikbands, die Charanga-Klänge, die Pyrotechnik und die Fahnen. Nach der Gewalt und dem anschließenden harten Durchgreifen der Polizei ließen sich der Stil und die Atmosphäre der alten torcida nicht einfach wiederbeleben. Laut Rafael hatten die Verantwortlichen es sich »leicht gemacht«. Sie hatten einfach das Vorgehen der englischen Autoritäten gegen die Hooligans kopiert und die Fangemeinde als Ganzes abgestraft, nicht etwa den einzelnen Gewalttäter.

Flamengo siegte 2:1, und die Pfiffe zur Halbzeit waren vergessen. Unmittelbar nach Spielende begann irgendwo unterhalb von uns eine Blaskapelle zu spielen. Wir stürmten hinab und kämpften uns durch die Menge, bis wir sie gefunden hatten – die Charanga do Flamengo: eine Trompete, zwei Hörner, eine Basstrommel und eine Snaredrum. Sie durfte nicht mehr auf die Tribüne, doch sie war noch am Leben und spielte ihre Stücke, allerdings nur, wenn Flamengo gewann. Seu Gigi, der Präsident der Charanga, erklärte: »Wir waren die erste torcida der Welt!« Gigi war weit über 70, hatte einen buschigen weißen Schnurrbart und spielte die Snaredrum. Seit 40 Jahren war er der Präsident, einer von bislang nur dreien: Jayme, dessen Frau Laura, die nach Jaymes Tod 1976 kurzzeitig das Amt übernommen hatte, und Gigi. »Wir führen [Jaymes] Tradition fort und machen immer weiter.«

Genau das war die Charanga heute: eine Kapelle und eine Tradition, die schon lange von der inzwischen im brasilianischen Fußball herrschenden torcida-Kultur überholt worden war. Doch die Charanga hatte nicht nur den Klang in den brasilianischen Stadien verändert. Sie hatte zudem die Optik und die Musik des brasilianischen Karnevals in der Welt verbreitet. Mittlerweile mochte sie ein historisches Relikt sein, doch sobald sie zu spielen begann, wusste jeder instinktiv, was zu tun war. Eine vieltausendköpfige Prozession folgte der Charanga hinaus in die gleißende Mittagssonne. Betrunkene junge torcedores, alte Frauen und Kinder, die auf den Schultern ihrer tanzenden Eltern auf und ab hüpften. Alle sangen Flamengos Hymne:

Einmal Flamengo,

Immer Flamengo,

Ich stehe für immer hinter Flamengo,

Keine Freude so groß, wie wenn ich es glänzen sehe,

Ob zu Land oder zur See,

Einmal Flamengo,

Flamengo bis zum Tod.

TEIL ZWEI: KEIN GESICHT, KEIN NAME

»Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird die Wahrheit sagen.«

Oscar Wilde, Der Künstler als Kritiker

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Italien

Was oder wer sind die Ultras? Häufig wird der Begriff Ultra synonym mit Hooligan verwendet. Doch das ist falsch. Die Bezeichnung geht auf das lateinische ultra zurück, das so viel wie »jenseits«, »darüber hinaus« bedeutet und für ein Extrem steht. Seinen modernen Sinn erhielt der Begriff im Frankreich des 19. Jahrhunderts, als für das die Bourbonenmonarchie unterstützende Lager die Bezeichnung »Ultraroyalisten« geprägt wurde. Sie galten als Fanatiker, sogar in den Augen von Louis XVIII., der nach dem endgültigen Sturz Napoleon Bonapartes auf den Thron zurückkehrte.54 In den italienischen Fußball hielt der Begriff in den späten 1960er-Jahren, einer Epoche des Umbruchs, Einzug. Die europaweite Studentenbewegung erfasste Italien, als die alte soziale und religiöse Ordnung ins Wanken geraten war. Anhänger der extremen Linken und Rechten versammelten sich auf den Plätzen der italienischen Städte. Es war eine Epoche heftiger politisch motivierter Gewalt, die als »anni di piombo« (»bleierne Jahre«) in die Geschichte einging.

Die erste italienische Ultra-Gruppe, die Fossa dei Leoni beim AC Milan, wurde 1968 gegründet. Ein Jahr später taten sich Sampdoria-Fans zu den Ultras Tito Cucchiaroni zusammen, benannt nach einem erfolgreichen argentinischen Stürmer des Vereins. Noch im selben Jahr formierten sich beim FC Torino die Ultras Granata (auch wenn die Turiner sich rühmen, bei ihnen habe es bereits 1951 die erste organisierte Fanvereinigung gegeben). Bis Ende der 1970er-Jahre hatte die Bewegung in ganz Italien Fuß gefasst. Viele der Gruppen gaben sich Namen, die die politisch aufgewühlte Zeit widerspiegeln. So benannten sich Romas linksgerichtete Fedayn nach der arabischen Bezeichnung für die Untergrundkämpfer, die durch den seit den 1960-Jahren ein Lieblingsanliegen der europäischen Linken darstellenden palästinensischen Befreiungskampf bekannt geworden war.55

Die Ultras versammelten sich im billigsten Stadionbereich, der curva hinter dem Tor, und führten dort die Farbenpracht und den politischen Pomp der Straßen ein. Riesige Banner mit politischen Botschaften wurden zum Teil der sogenannten coreografie der italienischen Fans oder tifosi. Der Begriff tifosi geht auf die Krankheit Typhus zurück, bei der sich Starre und Lethargie mit fiebrigen Ausbrüchen abwechseln. Die hervorragend organisierten Gruppen verfügten über Fahnen, Trommeln, Gesänge und Leuchtfeuer, die sogenannten Bengalos. Letztere kamen zunächst bei den Fans aus Hafenstädten wie etwa Genua auf.

Viele der Gruppen griffen Figuren aus populären Filmen und Comics auf, mit denen sie sich identifizierten, zumeist Außenseiter und Antihelden wie den Joker, die Droogs aus A Clockwork Orange oder, wie an Mikaels Tattoo zu sehen, die britische Cartoonfigur Andy Capp. Lazios offen faschistische Ultra-Gruppe Irriducibili hatte Mr Enrich, einen Cartoonhelden mit Bowlerhut, zu ihrem Symbol erkoren. Die Ultras sind streng hierarchisch organisiert, mit dem sogenannten capo als Anführer, der sein Orchester aus der ersten Reihe dirigiert und dabei zumeist dem Spielfeld den Rücken zukehrt. Die Rivalitäten unter den Mannschaften färbten unweigerlich auch auf die Ultras ab, und die tifosi verteidigten entschlossen ihre curva und ihre Fahne. Die Gruppenfahne musste um jeden Preis gegen Versuche der anderen Gruppen, das Feldzeichen zu stehlen, beschützt werden. Das Engagement ging weit darüber hinaus, lediglich am Spieltag seine Mannschaft zu unterstützen. Man musste sieben Tage die Woche mit Herz und Seele dabei sein, als Jünger, als Leibwache, als Soldat. Man musste bereit sein, über das Gewohnte hinauszugehen.

Die italienische Ultra-Kultur war eine mächtige Bewegung mit weltweiter Strahlkraft. Das wusste Lorenzo Contucci nur zu gut. Von seinem Krankenzimmer im dritten Stock genoss er einen wunderbaren Blick auf das römische Umland, dennoch war er alles andere als glücklich über seine vorübergehende Immobilität. In einem weißen Krankenhemd lag er auf seinem Bett in einem Privatinstitut, das sich auf dem am Stadtrand gelegenen Trainingsgelände der AS Roma, Trigoria, befand. Ungeachtet seiner Verletzung nahm er auf dem Handy die Anrufe von Klienten entgegen. Sein eingegipstes linkes Bein, das Ergebnis eines Rollerunfalls tags zuvor, war hochgelagert. »Ein Auto hat mich über den Haufen gefahren«, erklärte er und rutschte unbeholfen auf dem Bett hin und her. Sein Telefon klingelte erneut. Während er am Handy noch über die anstehende Gerichtsverhandlung eines Klienten sprach, klingelte das Zimmertelefon neben dem Bett. Ein weiterer Klient, der in Schwierigkeiten steckte und Rat brauchte. Von einem gebrochenen Bein ließ sich niemand aufhalten, Contucci nicht und ganz gewiss nicht seine Klienten.

Dass er so gefragt war, war wenig verwunderlich angesichts des außergewöhnlichen, doch lukrativen Gebiets, auf das er sich als Anwalt verlegt hatte. Er vertrat die italienischen Ultras, wenn sie unweigerlich in die Patsche gerieten. Die Liste der Straftaten und Vergehen, wegen denen der Staat sie belangen konnte, war lang: das Abbrennen von Pyros und Rauchbomben, das Abschießen von Raketen oder die unvermeidlichen Schlägereien. Doch das Hauptproblem der Ultras – und Contuccis besondere Spezialität – waren die verhassten diffide, also die Stadionverbote, oder wie sie offiziell heißen: Divieto di Accedere alle manifestazioni SPOrtive (DASPO).

Die DASPO-Verordnung gibt es seit Mitte der 1990er-Jahre, doch erst seit 2007 ist die Zahl der Fälle in die Höhe geschnellt. Die Verordnung ist zu dem größten Hassobjekt der italienischen Ultras geworden. Die Fangruppierungen beschuldigen die Polizei, wie mit Konfetti damit um sich zu werfen, aus oftmals nichtigen, wenn nicht sogar lächerlichen Anlässen. Contucci war zum Meister des erfolgreichen Widerspruchs gegen die Verbote geworden, doch die Ultras rannten ihm nicht allein wegen seiner Erfolgsquote die Türen ein. Obwohl Contucci mit seiner polierten Glatze bereits über 50 war, verstand er die Ultras besser als die meisten anderen. Er war einer von ihnen. Oder zumindest war er es gewesen. Als Mitglied der Ultras der AS Roma hatte er im Stadio Olimpico reichlich Erfahrungen gesammelt und in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren selbst in der curva sud gestanden. Und er hatte die Willkür der DASPO-Verordnung auf dieselbe Weise kennengelernt wie jeder andere Ultra: indem er verhaftet und mit Stadionverbot belegt worden war.

In der Saison 2000/2001, als die Roma letztmals den Scudetto gewann, wurde Contucci im Stadion festgenommen. Als zugelassener Anwalt war er derart außer sich über das Verfahren, das zu seinem Stadionverbot führte – das von der Polizei, nicht einem Richter, und ohne jeglichen Beweis ausgesprochen wurde –, dass er den Gesetzestext genauestens unter die Lupe nahm. Anschließend legte er Widerspruch ein und bekam Recht. Ihm zufolge war sein Fall einer der ersten, den die Polizei verlor. Er bekannte, dass ihn daraufhin »die Rachsucht« gepackt und er Fälle in ganz Italien übernommen habe. Das Gesetz war hastig zusammengeschustert worden und wenig effektiv. Contucci gewann so gut wie jeden seiner Fälle.

Inzwischen war er die erste Anlaufstelle für Ultras, wenn sie in Schwierigkeiten steckten, vom einfachen Fußsoldaten bis zum capo. Er genoss einen derart hervorragenden Ruf, dass sich auch die Ultras von Milan, Napoli und sogar von Romas Erzfeind Lazio an ihn wendeten. Mittlerweile machten die Ultra-Verfahren 50 Prozent der Fälle seiner Kanzlei aus. Er stellte ausschließlich Anwälte an, die selbst Ultras gewesen waren. »Wir bemühen uns, stets Anwälte aus Ultra-Gruppierungen zu rekrutieren. Sie verstehen manche Dinge, die andere Anwälte nicht verstehen können«, sagte er.

»Zum Beispiel?«, fragte ich.

»In erster Linie das Verhalten der Polizei«, sagte er. Er erklärte, dass manche Anwälte eher auf Seiten der Polizei stünden als auf Seiten ihrer Klienten. »Etwa im Fall Gabriele Sandri.«

Der Tod des 2007 von einem Polizisten erschossenen Lazio-Fans Gabriele Sandri war ein Schlüsselmoment für die Ultras und den Staat gleichermaßen gewesen. Der Fall hatte zu einem harten Durchgreifen gegen die Ultras geführt und den Fangruppierungen einmal mehr als Beleg gedient, dass der Polizei nicht zu trauen war.

Contuccis Kanzlei wurde inzwischen selbst mit den heikelsten Fällen betraut, und aktuell saß sie an einem der bislang größten. Hunderte Ultras hatten die Roma zum Halbfinale der Champions League 2018 nach Liverpool an die Anfield Road begleitet. Vor dem Stadion war der Liverpool-Fan Sean Cox brutal zusammengeschlagen worden und hatte in ein künstliches Koma versetzt werden müssen. Als er nach mehreren Monaten daraus erwacht war, hatte er kaum sprechen oder gehen können. Die Verletzungen hatten sein Leben für immer auf den Kopf gestellt.56

Nach dem Vorfall waren drei Mitglieder der Roma-Ultra-Gruppe Fedayn verhaftet worden. Einer von ihnen hatte sich der Gewalt schuldig bekannt, allerdings hatte der Richter festgestellt, dass ihm der entscheidende Schlag nicht anzulasten sei. Für den zweiten Ultra stand die Verhandlung unmittelbar bevor, daher auch die Anrufe bei Contucci. Der dritte war erst kurz zuvor in Rom verhaftet worden. Ihm drohte die Auslieferung nach Großbritannien. Contucci war an der Merseyside vorübergehend zum Buhmann geworden, nachdem er der Liverpooler Polizei eine Mitschuld gegeben hatte.

»Die Polizei ist vor dem Stadion ihrer Aufgabe der Wahrung der öffentlichen Ordnung nicht gerecht geworden«, äußerte er kurz nach der Inhaftierung der ersten beiden Roma-Fans. »Sollte die UEFA die Roma bestrafen, sollte sie ihren Blick auch auf Liverpool und das unbedachte Vorgehen der Ordnungskräfte richten.«57 Contucci setzte sich bedingungslos für die Rechte der italienischen Ultras ein, auch – und vielleicht besonders – in unpopulären Fällen. Natürlich war das sein Job, doch sein Verständnis der Ultras und seinen moralischen Kompass hatte er in der curva sud ausgebildet.

Contucci war 1980 mit 13 Jahren zum ersten Mal in der curva sud gewesen. Bereits zuvor war er jahrelang mit seinem Vater ins Stadio Olimpico gegangen und vom ersten Moment an von der Farbenpracht und den Gesängen der Südkurve fasziniert gewesen. In dem Stadion tragen die beiden großen – erbittert verfeindeten – Vereine der Stadt ihre Heimspiele aus. Die curva nord war das Revier der Lazio-Ultras und damit der berüchtigten und offen faschistischen Irriducibili. Die curva sud dagegen war die Heimstätte der Roma-Ultras. Contucci schloss sich der seinerzeit größten Organisation an, dem Commando Ultra Curva Sud, kurz CUCS, eine Art Allianz der seinerzeit mächtigsten Ultra-Gruppen der curva, die für ihre innovativen, einflussreichen und gigantischen Choreografien bekannt wurde. Die neue Allianz war am 9. Januar 1977, vor einem 3:0-Sieg über Sampdoria, durch ein 42 Meter breites Banner mit der Aufschrift »Commando Ultra Curva Sud« verkündet worden. Es war das bis dahin größte Banner in einem italienischen Stadion.58

Contucci sagte: »Das war in der Tat einer der härtesten Haufen in der curva sud.« Gewalt war bei den curva-sud-Ultras auf der Tagesordnung, ob bei einem Heim- oder einem Auswärtsspiel. Ebenso Diebstähle. »Weil die Menschen so arm waren … In der curva hatte man immer wieder eine Hand am Hals, die auf Goldsuche ging.« Die Ultras sahen sich laut Contucci als »Verteidiger der Stadt Rom« – so wie sich auch alle anderen Ultra-Gruppen als Verteidiger ihrer Stadt gegen Auswärtige und Invasoren sahen.

Die politische Stimmung der Zeit erfasste sämtliche Städte, ob groß oder klein. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde Italien – und insbesondere Rom – von einer Welle der politischen Gewalt heimgesucht. Mitglieder der linksextremen und rechtsextremen paramilitärischen Gruppen brachten einander in endlosen Rachefeldzügen gegenseitig um. Hunderte Menschen starben in den »bleiernen Jahren«, teils durch gezielte Mordanschläge auf Aktivisten, Anwälte, Politiker und Unternehmer, teils durch Terrorattentate, denen zahllose Unschuldige zum Opfer fielen. Als Auftakt der bleiernen Jahre gilt der Bombenanschlag an der Piazza Fontana in Mailand 1969.59 Die wohl berühmteste Gräueltat war 1978 die brutale Entführung des italienischen Ex-Ministerpräsidenten Aldo Moro durch die linksradikalen Brigate Rosse (»Rote Brigaden«) in Rom. Seine fünf Leibwächter wurden erschossen, er selbst wurde verschleppt. Die Sicherheitsbehörden versagten bei der Suche nach ihm, und nach 55 Tagen wurde er »hingerichtet«. Sein zusammengekrümmter Leichnam wurde schließlich im Kofferraum eines verlassenen roten Renault 4 unweit des römischen Palazzo Mattei gefunden.60 Der grausamste Terrorakt in dieser Ära blutiger Unruhen war 1980 der Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna, für den höchstwahrscheinlich eine Gruppe von Neofaschisten verantwortlich war und der mehr als 80 Todesopfer forderte. Zugleich läutete er das Ende der bleiernen Jahre ein. Unzählige der Verantwortlichen für die Hunderte Terroraktionen wurden nie gefasst. Jene, die bestraft wurden, stellten sich als Opfer von Verschwörungen dar. Bei so gut wie jedem der Fälle war die Wahrheit eine Frage der Interpretation und letztlich nicht eindeutig zu klären. Jedes politische Lager vertrat seine eigene Auffassung von dem, was in den bleiernen Jahren tatsächlich geschehen ist.

In jener Zeit wurden die italienischen curve zum Zufluchtsort vor den Blutbädern in den Städten, doch zugleich waren sie auch ein Abbild des herrschenden gesellschaftlichen Klimas. »Die curva sud war immer ein Spiegel der Stadt«, sagte Contucci. In den 1970er-Jahren galt Rom als überwiegend links – also war auch die curva sud links. In der innerstädtischen Rivalität beim Fußball manifestierten sich bestehende politische und geografische Unterschiede. Rom ist die Hauptstadt der Region Latium, und bei Lazio fanden sich vorwiegend die Menschen aus den städtischen Randbezirken ein. Die Fans und die damalige Ultra-Gruppe Eagles waren politisch überwiegend am rechten Rand zu Hause. Von den Roma-Fans werden die Laziali als burini geschmäht, ursprünglich eine Bezeichnung für die Bauern, die vom Land nach Rom kamen, um ihre Butter zu verkaufen.61 Dagegen ist die Roma traditionell der Verein der innerstädtischen Arbeiterschaft, in der in den 1960er- und 1970er-Jahren die Kommunistische Partei tonangebend war. Viele Ultra-Gruppen linken Bewegungen nahe, etwa die Fedayn, die Fossa dei Leoni und die Pantere. Doch auch bei der Roma existierten rechtsextreme Ultra-Gruppen wie die Boys.

Die Gründung des CUCS fiel in eine Zeit, da auch englische Einflüsse ins Land schwappten. Im Jahr 1977 fand im Stadio Olimpico das Endspiel im Europapokal der Landesmeister zwischen Liverpool und Mönchengladbach statt (das Liverpool mit 3:1 gewann). In den darauffolgenden Monaten konnte man in der curva sud erstmals Schals, Doppelhalter (an zwei Stöcken befestigte Banner) und langsamere, eher rhythmische Anfeuerungsrufe sehen und vernehmen. Im Jahr 1984 entfaltete dann ein aus England mitgebrachtes Video eines Spiels von Chelsea gegen Millwall eine große Wirkung. Contucci sagte: »Ich habe das in die curva sud mitgebracht und den anderen gesagt, dass sie genau hinhören sollten. Das Video habe ich immer noch. Ein paar unserer heutigen Sprechchöre kommen von dem Band.«

Der englische Einfluss ist eine mögliche Erklärung, weshalb in den ausgehenden 1970er- und den 1980er-Jahren in Contuccis Worten der »pure Hooliganismus« herrschte. Im Jahr 1979 ereignete sich vor dem Derby della Capitale der schreckliche Todesfall des Lazio-Fans Vincenzo Paparelli, einem 33-jährigen zweifachen Vater. Eine in der curva sud abgeschossene Signalrakete bohrte sich in Paparellis linkes Auge. Er verstarb noch an Ort und Stelle in den Armen seiner Frau. Bis heute ist das der einzige bekannte Todesfall in einem italienischen Stadion. Zu einem infamen Vorfall kam es beim Endspiel des Landesmeistercups 1984, zu dem Liverpool erneut im Stadio Olimpico antrat, diesmal jedoch gegen die Roma. Liverpool siegte, ihre Fans jedoch zahlten dafür einen hohen Blutzoll. Bei Übergriffen der curva sud erlitten mehr als ein Dutzend Gästefans Stichverletzungen, vornehmlich am Gesäß. Doch am gefährlichsten waren die allwöchentlichen Gewaltausbrüche. Jedes Auswärtsspiel glich in den Augen von Ultras und Staat dem Einmarsch einer feindlichen Armee.

Eine der schlimmsten Auswärtsreisen überhaupt erlebten die Roma-Fans einmal in dem unweit von Mailand gelegenen norditalienischen Bergamo. Da es in der mittelgroßen Industriestadt nur einen Profiverein gibt, ist jeder dort Atalanta-Fan. Der Tag war ein einziges Chaos. »Wir zogen in die curva ein, und die Atalanta-Fans waren schlimmer als jeder Ultra. Die waren wie Wikinger«, erzählte Contucci und schilderte, wie die CUCS sich ihren Weg aus dem Stadion buchstäblich freikämpfen musste. »In jeder Straße, in jeder Gasse warteten Hunderte dieser Langhaarigen darauf, dich abzumurksen.« Die Roma-Fans schafften es zu ihrem Bus, entkamen und planten umgehend ihren Vergeltungsschlag. »Man denkt an das Rückspiel und dass sie bluten müssen dafür, wie sie sich in Bergamo aufgeführt haben.« Und so setzte sich der Kreislauf der Gewalt fort. Über das Spiel und wie es ausging, verloren wir kein Wort.

Das CUCS zerfiel 1987. Schuld daran war nicht die italienische Politik und auch nicht, dass die Welt sich verändert hatte, sondern ein Transfer. Nachdem die Roma Kapitän Carlo Ancelotti an Milan verkauft hatte, holte sie den ehemaligen Lazio-Mittelfeldspieler Lionello Manfredonia von Juventus. Der stadtinterne Transfer über Bande brachte die curva sud auf. Manfredonia habe sie einmal mit einer Geste beleidigt, erklärten die Ultras, eine unverzeihliche Sünde. Bereits ehe das CUCS in eine Pro- und eine Contra-Manfredonia-Fraktion zerfiel, hatten sich die Boys abgespalten. Das CUCS sollte sich davon nie wieder erholen, und die curva sud rückte ein ganzes Stück weiter nach rechts. »In den 1990er-Jahren gab es in Italien Probleme wegen den Immigranten, woraufhin ein Teil der curva zu den Rechten abwanderte und auch [rechtsextreme] Symbole nutzte.«

Contucci war zu jener Zeit bereits in den Dreißigern, für Ultra-Verhältnisse ein Großvater. Dennoch fühlte er sich weiterhin als Ultra, auch wenn er nicht länger in gewohnter Form in der Szene mitmischen konnte. Die Frage lautete, was die Ultras eigentlich waren. Waren sie eine Gang? Hooligans? Aktivisten? Waren sie eine Bruderschaft von Fußballfans oder städtestaatliche Armeen? Ich fragte Contucci, ob er für sich je nach einer Definition gesucht habe. Er dachte einige Zeit nach und schaltete sein Telefon aus. »Kennst du The Smiths? Ihren Sänger Morrissey?«, erwiderte er schließlich. »Morrissey hat einmal gesagt, dass Hooligans die Patrioten ihrer Stadt seien. Und bei allen Unterschieden würde ich sagen, die Ultras sind die Patrioten ihrer Stadt.«

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