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Und schenk meinem Herzen Freude,

Ich bitte dich nur um eines: siege heute!

Die Copa Libertadores ist meine

Leidenschaft Gib dein Herz und deine Seele,

Du wirst sehen,

Wir sind nicht wie die Feiglinge von River Plate.

Die Spieler hatten mit dem aufgeweichten, ramponierten Rasen zu kämpfen. Nur Carlo Tevez nicht. Auch wenn der Nationalmannschaftsstürmer bei Anpfiff auf der Ersatzbank gesessen hatte, war er Bocas unbestrittener Star und der Held der Bombonera. Tevez war in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsen und hatte sich aus dem barrio bis in Bocas erste Mannschaft hochgekämpft. Nach dem Gewinn der Copa Libertadores und der argentinischen Liga hatte sein Weg ihn zunächst nach Brasilien zu Corinthians und dann über den Atlantik nach Europa geführt, wo er sich bei West Ham, Manchester United, Manchester City und Juventus einen Namen gemacht hatte. Unterbrochen von einem kurzen und lukrativen, wenn auch peinlichen, Abstecher nach China, stand er nun zum dritten Mal bei Boca unter Vertrag. Als Kind des barrio galt er zugleich als Spieler der barra. Wenige Wochen nach seiner Rückkehr zum Verein war ein Foto geschossen worden, das Tevez beim Abendessen mit Rafa und Mauro zeigte. Niemand konnte bei Boca reüssieren, ohne zunächst La Doce die Reverenz zu erweisen.

Nach Tevez’ Einwechslung kippte das Spiel. Er schien sich schneller durch den Acker zu wühlen, als seine Mitspieler auf dem Geläuf rennen konnten. Kurz nach dem Rückstand glich Boca aus, und tief in der Nachspielzeit gelang Tevez in der 96. Minute der Siegtreffer. Ein infernalischer Lärm brach aus, als würden gleichzeitig tausend Instrumente tausend Treppen hinuntergeworfen. Der ekstatische Jubelausbruch mündete erneut in Gesänge, und endlich ertönte der Schlusspfiff. Die Zuschauer sangen immer weiter, indessen sie sich wie eine Welle in alle Himmelsrichtungen in die Straßen von La Boca ergossen und sie verstopften. In dem Gedränge konnte ich kaum mein vibrierendes Handy hervorkramen. Mikael erwartete mich draußen. Wir mussten uns beeilen. Rafa di Zeo hatte sich zu einem Treffen bereiterklärt. Wir mussten sofort los.

Wir stürmten durch das Gewirr dunkler, feuchter Gassen, die La Bombonera umgaben, vorbei an Reihen von Polizisten und jubelnden Fan-Pulks. Vorbei an Wandgemälden von Bocas unbestrittenem Helden Diego Maradona. Vorbei an einem Bild des Union Jacks mit Totenkopf und gekreuzten Knochen in der Mitte und der Aufschrift: »Wir werden mit der Hand Lateinamerikas auf die Malvinas zurückkehren.« Mehrmals bogen wir falsch ab, bis wir schließlich zum angegebenen Treffpunkt gelangten. Eine Tankstelle. Kurz dachte ich, wir hätten uns in der Adresse geirrt, doch dann sah ich einen bewaffneten Polizisten, der vor dem Laden Wache schob. Er verschwand, kaum dass wir dort ankamen. Mehrere Bodyguard-Typen, einer mit La-Doce-Basecap auf dem Kopf, nahmen uns in Empfang und geleiteten uns in eine finstere, unbeleuchtete Seitengasse.

Von hier aus also wurden die La-Doce-Geschäfte geführt, einem Parkplatz hinter einer Tankstelle. Etwa 30 bis 40 Männer hatten sich versammelt, alle im Alter zwischen 30 und 50 Jahren: Rafa di Zeos Leibgarde, die Getreuesten der Getreuen. Beäugt von den Männern, warteten wir im Zentrum des Parkplatzes. Schließlich trat Juan vor und legte uns die Regeln dar. Fotos waren nicht gestattet. Keine Filmaufnahmen. Kein Tonmitschnitt. Unter keinen Umständen durfte ich Rafa gegenüber erwähnen, dass ich Brite war. Der Falklandkrieg war unvergessen. Eines der älteren Mitglieder von La Doce, Mono (»Affe«), hatte noch dort gekämpft. Ich sollte mich unbedingt als Schwede wie Mikael ausgeben und sagen, dass ich über die Verbindung von Verein und schwedischer Flagge schreiben wolle. Angeblich soll das Blau und Gold von Boca auf ein schwedisches Schiff zurückzuführen sein, das gerade im Hafen lag, als man die Vereinsfarben auswählte. Auf gar keinen Fall sollte ich Fragen zum Krieg zwischen Rafa und Mauro stellen. Auch Mikael hatte mich bereits davor gewarnt, das Zerwürfnis der beiden anzusprechen. Falls doch, würde er gar nicht erst auf eine Antwort warten, sondern sofort abhauen und mich meinem Schicksal überlassen. Er war überzeugt, dass das nur ein böses Ende würde nehmen können.

Wir harrten eine halbe Stunde auf dem Parkplatz aus, bis Rafa sich schließlich aus dem Heck eines Wagens schälte, wo er noch etwas Geschäftliches erledigt hatte. Er trat zu uns und reichte mir die Hand. Rafa sah nicht wie einer der gefährlichsten Männer Buenos Aires’ aus. Er war Ende Fünfzig, großgewachsen, graue Mittelscheitelfrisur. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug der Boca Juniors und glich eher dem Sänger einer Nu-Metal-Band aus der Mitte der 1990er-Jahre, die für ein letztes Comeback-Konzert zurückgekommen war. Seine engsten Vertrauten schlossen sich zu einem Ring um uns, doch Rafa war vom ersten Augenblick an äußerst charmant und willigte ein, dass ich unser Gespräch mitschnitt.

»Was ist La Doce?«, fragte ich ihn.

»Das lässt sich kaum in wenigen Worten sagen«, erklärte er und gab uns in der Folge einen porentief reingewaschenen Abriss der letzten vier Jahrzehnte. »Ich bin seit meinem 16. Lebensjahr bei La Doce dabei, seit knapp 40 Jahren also. Eine lange Zeit. Damals gab es noch einen anderen Boss [den Schlachter]. Nachdem ich Mitglied geworden war, blieb der Boss noch zwei Jahre, dann kam ein anderer und blieb eine ganze Weile. Er [der Großvater] war mein Lehrmeister. Als es dann Probleme in der Gruppe gab, habe ich den Posten übernommen. Seit Ende 1994 bin ich für die barra verantwortlich.«

»Was ist Ihre Aufgabe bei La Doce?«

»Als Anführer hat man den größten Einfluss, in jederlei Hinsicht«, sagte er. »Durch den technischen Fortschritt ist heute alles ein bisschen anders. Früher musste man als Boss mit den anderen hinchadas kämpfen. Es gab viel mehr Gewalt. Heute ist es ruhiger. Der Staat geht viel härter gegen uns vor. Als ich anfing, musste man sich prügeln, um sich seinen Platz zu verdienen. Immer dabei sein, in vorderster Front … Das ist heute nicht mehr so.«

Das harte Vorgehen des Staates hatte dazu geführt, dass Rafa nicht bei dem Spiel hatte sein können. Gegen ihn war zunächst ein zweijähriges Stadionverbot verhängt worden, das eigentlich wenige Wochen vor dem heutigen Spiel ausgelaufen wäre. Doch kurz bevor es so weit war, wurde ein neues, nunmehr vierjähriges Stadionverbot gegen Rafa, Mauro und 126 weitere La-Doce-Mitglieder verhängt.40 Also hatte er die Partie im Fernsehen verfolgen müssen. Die barra, sagte er, »ist gegen die Autoritäten, vor allem gegen die Polizei. Sie ist gegen jegliche Autoritäten. Daher darf niemand, der Verbindungen irgendwelcher Art zu den Autoritäten unterhält, bei uns Mitglied sein. Wenn doch, schmeißen wir ihn raus und schlagen ihn zusammen.« Ich fragte ihn nach der Bedeutung der Gewalt für die barra und wieso La Doce von den Autoritäten gefürchtet wurde. Ich spürte Mikael in meinem Rücken zusammenzucken, doch Rafa hatte kein Problem, darüber zu reden.

»Sie haben Angst vor unserer Macht und unserer Gewalttätigkeit«, sagte er. »Wenn sie [die Polizisten] einmal bei einem Kampf gewonnen haben, dann nur, weil sie auf uns geschossen haben. Ohne Munition hätten sie keine Chance. Wenn sie hier wie in Europa nur Schlagstöcke [keine Pistolen] einsetzen würden, wären sie alle längst tot. Einen Cop zu töten ist hier im Land etwas ›wert‹. Damit will ich sagen, dass man im Knast etwas ›zählt‹, wenn man wegen Polizistenmords einsitzt.«

Selbst vor dem entscheidenden Punkt scheute er nicht zurück. Dass Gewalt Spaß bringt. »Ich weiß noch eine Partie gegen Lanus und wie wir auf der Tribüne mit der Polizei gekämpft haben«, erinnerte er sich an sein Lieblingsspiel. »Wir haben sie nach draußen geprügelt, die ganze Treppe hinunter bis auf die Straße. Und wir haben zwei Polizeipistolen erbeutet. Ich sehe das alles noch genau vor mir. Oder wie wir in einem Stadion in Mar del Plata in den River-Block eingedrungen sind und ihre Fahne geklaut haben. Ihre wichtigste und kostbarste Fahne, das Symbol ihrer Identität.«

»Lieben Sie den Fußball nach wie vor?«, wollte ich wissen.

»Ja, natürlich«, gab er prompt zurück. »Ich würde allerdings sagen, dass ich Boca noch mehr liebe als den Fußball an sich. Ich bin verrückt nach Boca. Ich weiß nicht, was ohne Boca aus mir geworden wäre.« Er lachte. »Ich wäre zum Tennis gegangen!« Trotz Stadionverbots war er nicht weit weg vom Geschehen. Die Spieler waren weiterhin seine Kumpel, insbesondere Carlos Tevez. »Wir verstehen uns wirklich hervorragend und sind befreundet. Ich habe ihn schon gekannt, als er noch kein Profi war.«

Bei dem nach Madrid verlegten super-superclásico zwischen Boca und River war Rafa in Buenos Aires geblieben. Es war ohnehin zweifelhaft gewesen, ob man ihn ins Stadion gelassen hätte. Doch bei der Abfahrt des Mannschaftsbusses zum Flughafen hatten Zehntausende hinchas die Spieler mit Raketen und Trommeln verabschiedet. Der Trainer hatte sich mühsam durch die Menge kämpfen müssen. Rafa und Mauro hatten ihm den Weg gebahnt.

Rafa erwartete nicht, dass sein Stadionverbot noch lange Bestand haben würde. Er war inzwischen eine bekannte öffentliche Persönlichkeit, und das komplizierte alles. »Die Sache hat Vor- und Nachteile«, sagte er. »Nehmen wir die Politiker, Richter, Polizeichefs. Einerseits verdammen sie mich [öffentlich]. Andererseits wollen sie sich mit dir unterhalten, dich kennenlernen, etwas mit dir ausmachen.«

Die Politiker hatten ihn immer gebraucht. Macri hatte ihn gebraucht. Nach Ansicht von La Doce wäre Macri ohne ihre Hilfe nicht Präsident geworden. Später im Jahr standen erneut Präsidentschaftswahlen an, und es zeichnete sich bereits ab, dass Macri verlieren könnte. Rafa war überzeugt, dass es einen neuen Präsidenten und einen neuen Sicherheitsminister geben würde. »Mein Fall ist kein juristisches Problem, er ist ein politisches Problem«, erklärte er. »Am Ende des Jahres, nach dem politischen Umschwung, werde ich wieder im Stadion sein.« Politiker kamen und gingen. Doch Rafa di Zeo und La Doce blieben.

Meine Zeit war um. Das Gespräch hatte eine halbe Stunde gedauert, doch es hatte sich wie eine halbe Minute angefühlt. Auch von Mikael würde ich mich verabschieden. Er wollte noch in Argentinien bleiben und sich ein paar Spiele anschauen, während ich nach Brasilien weiterreisen wollte. »Ich dachte echt, du würdest auf den Krieg zu sprechen kommen«, verriet er mir nach dem Treffen erleichtert. Wir würden uns in Schweden wiedersehen, sagte er, dort würde ich mit eigenen Augen sehen können, dass in Schweden eine der besten Ultra-Szenen der Welt entstanden sei. Und natürlich würde Mikael mein Fremdenführer sein. Als das Interview hinter der Tankstelle offiziell vorbei war, rief Rafa di Zeo einen seiner Männer zu sich und befahl ihm, uns zu unserer Wohnung zurückzufahren. »Um diese Zeit ist es hier in der Gegend gefährlich«, erklärte er beinahe schon väterlich. Unser designierter Chauffeur witzelte, dass er hinten im Wagen genügend Waffen habe, um Las Malvinas im Alleingang zurückzuerobern.

Vor unserem Aufbruch kam es zu einer angespannten Pause, als würde Rafa noch etwas erwarten. Einen Moment lang fürchtete ich, ihn irgendwie beleidigt zu haben. Ich schaute zu Mikael und ließ dann den Blick über den uns umgebenden Ring muskelbepackter hinchas schweifen. Mikael schien unbesorgt. »Wenn ihr noch Fotos machen wollt, nur zu!«, sagte Rafa schließlich vergnügt. Ich kramte nach meinem Handy. Das Angebot kam völlig überraschend. »Als Erinnerung an diesen Moment«, sagte er, als wir unbeholfen nebeneinander posierten und ich ein Selfie knipste. Jeder ließ sich zusammen mit Rafa di Zeo fotografieren: Spieler, Trainer, Weltmeister, korrupte Politiker, Rockstars und Soap-Sternchen. Wieso also nicht auch ich?

3
Brasilien
RIO DE JANEIRO

Ich wartete auf Cláudio Cruz, den Gründer von Raça Rubro-Negro, der größten torcida organizada Brasiliens. Seit einigen Jahren gehörte Cláudio eigentlich nicht mehr zur Szene. Er besaß eine Bar in Lapa, die bereits seit einer Stunde geöffnet hatte, doch von Cláudio keine Spur. Die übrigen Geschäfte und Bars hatten ihre Metallgitter bereits heruntergelassen und verriegelt. Die einzige Ausnahme bildete Vaca Atolada, die »Feststeckende Kuh«.41 So war es an jedem glühend heißen Samstagnachmittag. Lapa lag zwar im Zentrum von Rios Zona Norte, doch in Brasilien funktionierte die sozioökonomische Geografie anders als an anderen Orten. Das Geld versammelte sich an den weißen Sandstränden von Ipanema und Leblon. Das Zentrum war am Wochenende tagsüber wie ausgestorben, was an der Stadtflucht und der hohen Kriminalitätsrate lag. Doch immerhin nachts erwachte Lapa zum Leben. Der Stadtteil hatte einen Ruf als Rios Ausgehviertel, doch 17 Uhr war noch ein bisschen zu früh für die meisten Cariocas. Außer in der Vaca Atolada. Die Angestellten bereiteten alles für die Sambaband am späteren Abend vor und räumten die zu Tischen und Stühlen zweckentfremdeten Bierkästen auf den Gehsteig. Ein Barmann meinte, ich könne warten, stellte eine eisgekühlte Literflasche Brahma-Bier vor mich auf den Tisch und öffnete sie einhändig in einer fließenden Bewegung. Cláudio komme immer zu spät, erklärte er.

Die Vaca Atolada war ein Überbleibsel von Rios aussterbender Bohème-Szene. Drinnen an den Wänden hingen überall alte Konzertflyer. Die Toiletten waren mit altmodischen, pornografisch angehauchten Graffiti verziert, die irgendjemand einmal abzuschrubben versucht hatte. Die Partytouristen steuerten gewöhnlich die schickeren Cocktailbars einige Blocks die Straße herunter an. Doch wer Lapa kannte, kannte die Vaca Atolada – und Cláudio. Ihm gefiel seine Rolle: ein sperriges Relikt, das beharrlich seinen Platz verteidigte.

Wenn Cláudio eintrifft, gleicht das mehr einem Überfall als einer Begrüßung. Energisch schüttelte er mir die Hand, während es schon aus ihm heraussprudelte: »Als ich noch Polizist war, habe ich von einer Bar geträumt, wo man für wenig Geld trinken gehen kann.«. Er ließ sich nieder und ruckelte seinen Bierkasten zurecht, bis er mir gegenübersaß. Er habe nicht viel Zeit, sagte er. Die Musiker würden gleich zum Soundcheck kommen. Doch schließlich blieb er zweieinhalb Stunden und redete beinahe ununterbrochen. Er platzierte sich genau eine Armlänge vor mir, und während er die Worte im Maschinengewehrtempo ausstieß, kam es mir beinahe so vor, als würde er gleichzeitig mit mir Schattenboxen. Wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, pochte er im Takt mit den Knöcheln auf den Tisch oder stieß mir gegen die Brust. Er bekannte, er sei doente por Flamengo: »verrückt« nach dem Clube de Regatos do Flamengo, einen von Rios größten Vereinen. Mit demselben Begriff – doente – bezeichnete er immer wieder auch andere Fans. Als wäre es ein Ehrenzeichen für eine außergewöhnliche Flamengo-Leidenschaft.

Die Anfänge der brasilianischen torcidas gehen auf die organisierten Fanclubs zurück, die sich um 1940 rund um die Vereine aus Rio und São Paolo bildeten. Sie gewannen rasch an Beliebtheit und begannen ihre Mannschaften auf bis dahin unbekannte Weise zu unterstützen, zumeist angeführt von einer Sambaband, doch auch mit Bannern, Feuerwerkskörpern und Gesängen. Wie bei den argentinischen barras bravas nahm auch bei den brasilianischen torcidas die Gewalt mit der Zeit immer extremere Ausmaße an. Seit den 1980er-Jahren starben Hunderte Fans bei Schlägereien und internen Kämpfen. Allein 2013 wurden 30 torcedores umgebracht.42 Die Mordrate in Brasilien zählt ohnehin zu den höchsten weltweit; so wurden 2018 rund 50.000 Mordopfer gezählt.43 Kaum irgendwo sonst ist es so gefährlich, ins Stadion zu gehen. Cláudios Zeit hatte vor dieser Entwicklung gelegen. Er war inzwischen über sechzig, doch nach wie vor gut in Form, von kleiner Statur, die dunklen Haare kurzgeschoren. Auf seinem weitgeschnittenen Shirt prangte ein großer Button mit der Aufschrift »Lula Livre!« – »Freiheit für Lula!« – eine Solidaritätsbekundung für den linksgerichteten brasilianischen Ex-Präsidenten Lula da Silva, der nach seinem Amtsantritt kurz nach der Jahrtausendwende Brasilien umgekrempelt und Millionen Menschen aus der Armut geholt hatte. Doch inzwischen saß er wegen Korruption im Gefängnis, auch wenn seine – nach wie vor zahlreichen – Unterstützer (Cláudio inbegriffen) seine Inhaftierung für einen Skandal hielten. Mit gefälschten Beweisen habe verhindert werden sollen, dass er bei den Präsidentschaftswahlen gegen Jair Bolsonaro antreten würde, den rechten Ex-Offizier, der die von 1964 bis 1985 herrschende Militärjunta entschieden verteidigte und die Diktatur als »ruhmreiche Ära« bezeichnete.44 Bolsonaro hasst augenscheinlich alle und jeden: Frauen, Homosexuelle, Indios und sogar den Amazonas. Da Lula im Gefängnis saß, entschied Bolsonaro die Präsidentschaftswahl 2018 für sich und regierte seither. Cláudio war nicht entgangen, dass ich seinen Button bemerkt hatte. Als er Raça Rubro-Negro 1977 gegründet habe, so sagte er, hätten sie in einer »Zeit der Diktatur« gelebt. Auf Deutsch bedeutet raça in etwa »unbedingtes Verlangen« oder »starker Wille« kann aber auch mit »Bande« übersetzt werden. Rubro-negro (Rot und Schwarz) wiederum steht für die Farben von Flamengos Trikot. Die torcida war im Stadion an ihren roten Shirts zu erkennen, die allerdings nicht mit den Vereinsfarben zusammenhingen. »Raça trug als erste torcida nicht das Trikot des Klubs. Unser Shirt war rot für die Liebe zu Flamengo und den mühseligen Kampf für die linke Sache«, erklärte Cláudio.

Der Fußball wurde bekanntlich 1894 von dem Schotten Charles Miller in Brasilien eingeführt, war dort allerdings zunächst ausschließlich der Oberschicht vorbehalten, sodass die riesige afrikanischstämmige und indigene Bevölkerung außen vor bleiben musste. Brasilien hatte erst wenige Jahre zuvor, 1888, als letztes Industrieland weltweit die Sklaverei abgeschafft. Es wird geschätzt, dass bis dahin in knapp 400 Jahren rund fünf Millionen Sklaven nach Brasilien verschleppt worden waren. Zum Vergleich: In den Vereinigten Staaten betrug die Zahl lediglich acht Prozent davon.45 Flamengo war ursprünglich als reiner Ruderklub gegründet worden und hatte erst eine Fußballabteilung eröffnet, als verärgerte Mitglieder des großen Rivalen Fluminese ihrem Verein den Rücken kehrten. Flamengo gelang es als erstem Klub, eine landesweite Fanbasis aufzubauen, nicht allein wegen seiner Erfolge in der damaligen Hauptstadt Rio, sondern insbesondere auch dank der Fortschritte in der Radiotechnik, die es ermöglichten, Partien in ganz Brasilien auszustrahlen. Cláudio wird wie jeder andere Flamengo-Fan nicht müde zu erzählen, dass der Verein zwischen 30 und 40 Millionen Anhänger habe. Mehr, als die meisten Länder Einwohner haben, wie er stolz hinzufügte. Auch Cláudio war durch das Radio infiziert worden. Mit fünf Jahren hatte er 1963 vor dem Empfänger verfolgt, wie Flamengo Meister wurde. »Mir kamen die Tränen, dabei wusste ich noch nicht einmal, was Meister eigentlich heißt. Der Reporter brüllte ›MEISTER!‹, und ich bekam Gänsehaut.« Seiner Ansicht nach lag seiner Begeisterung noch etwas anderes, Tiefgehendes zugrunde, möglicherweise ausgelöst durch die Farben Rot und Schwarz. »Das sind die beiden wirkmächtigsten Farben, die es gibt!«, sagte er. »Die Fahne der Sandinista war schwarz und rot. Hitlers Hakenkreuzfahne war schwarz und rot. Wo auch immer Rot und Schwarz sind, ist der Fanatismus nicht weit.«

Er gründete Raça als Teenager gemeinsam mit seinem Bruder, und am Beginn ihrer torcida stand eine Mischung aus besessenem Fantum und Aktivismus. Wenn sie ihre Graffiti kritzelten und Poster klebten, mussten sie immer wieder »vor den Soldaten mit ihren Maschinenpistolen fliehen«. Stand an einem Sonntag ein Spiel an, brachten sie am Freitagabend mit einem Transporter Tausende Rollen Toilettenpapier zum Maracanã. Sie sprangen vom Transporter über den Zaun und versteckten das Toilettenpapier – das sie beim Spiel auf den Rasen werfen würden – sowie ihre Feuerwerkskörper und Banner zwischen den Dachsparren der Tribüne. Das Problem war, dass vier der großen Mannschaften aus Rio sich das Maracanã teilten und sie nicht riskieren durften, dass eine gegnerische torcida ihre Vorräte fand. »Wenn die Wachleute uns entdeckten, feuerten sie auf uns«, berichtete er. Mit dem mitgebrachten Wasser und Brot hielten sie sich die kommenden zwei Tage verborgen. »Wir blieben dort, ohne scheißen gehen zu können«, berichtete er. Bis am Sonntag die Tore geöffnet wurden und sie sich »mit Bauchschmerzen« rauswagten.

Gewalt spielte seinerzeit bei den torcidas noch keine maßgebliche Rolle. »Das war noch ein anderes Rio, verstehst du? Wir mussten vor den Cops abhauen, die die Stadien bewachten. Nicht vor der Gewalt auf den Straßen, so etwas gab es nicht. Und die Prügeleien unter den torcidas, da kämpften wir mit den Fäusten. Allerhöchstens mit den Trommelstöcken unserer Basstrommeln.« Als Raça sich etabliert hatte, sorgte Cláudio für einen Vervielfältigungsapparat im Stadion. »Wir hatten ein … Wie heißt das noch? Ein soziales Netzwerk!« Cláudio bezeichnete es als »ein prähistorisches WhatsApp. Das war unser Instagram.« Noch während das Spiel lief, arbeitete ein Raça-Team bereits an einem Fanzine zu der Partie. In Handarbeit hauten sie die Seiten mit ihren Gedanken zum Spiel und zu anderen Themen wie etwa den hohen Eintrittspreisen heraus und verteilten die Hefte im Stadion.

Für Cláudio bedeutete Fan von Flamengo sein mehr als nur Liebe. Doente ist das passende Wort dafür. Etwas, das einen überkommt und über das man im Grunde keine Kontrolle hat. Doch bei Raça ging es um mehr, nämlich darum, den Autoritäten die Stirn zu bieten und den Menschen zu zeigen, dass man Widerstand leisten konnte, indem man die Dinge selbst in die Hand nahm. Cláudio blieb zehn Jahre dabei, dann beschlich ihn das Gefühl, zu alt zu sein und keinen Draht mehr zu den Jüngeren zu finden, etwas, das auf sämtlichen Tribünen der Welt passiert. Eine neue Generation löst die alte ab.

Die Band war da, und Cláudio musste zum Soundcheck. »Raça war nicht einfach nur eine torcida organizada«, sagte er. »Sie veränderte die Menschen und ihr Verhalten. Sie begannen, die Gemeinschaft in den Vordergrund zu stellen, und entwickelten einen politischen Blick auf ihre Umgebung.«

Die Gründung von La Doce und der anderen barras bravas war ein Ausfluss der argentinischen Leidenschaft für das Spiel, der Ursprung der brasilianischen torcidas dagegen war eher künstlerischer Natur. Der Begriff torcida ist von dem portugiesischen torcer – verdrehen oder wringen – abgeleitet. Immer wieder wurde mir erzählt, dass das auf die vornehmlich weiblichen Fans zurückginge, die in den Anfangstagen des brasilianischen Fußballs bei Spielen ihre Schals oder Blusen nervös in den Händen verdrehten oder verwrangen. Andere behaupteten, der Begriff leite sich von den Fans her, die ihre verdrehten T-Shirts über den Köpfen rotieren ließen. Doch organisierte Gruppen tauchten erst Ende der 1930er-, zu Beginn der 1940er-Jahre auf. Und wie kein anderer war Jayme de Carvalho daran beteiligt. Carvalho war 1927 als 16-Jähriger mit dem Schiff aus dem Bundesstaat Bahia im Nordosten des Landes auf der Suche nach Arbeit nach Rio gekommen. Zunächst verkaufte er in einem Bus Süßigkeiten, anschließend arbeitete er in einem Kleidungsgeschäft, bis er schließlich im Justizministerium eine Stelle als einfacher Beamter fand. Er entdeckte Flamengo für sich und begann so etwas wie ein Doppelleben zu führen. Unter der Woche war er ein unauffälliger staatlicher funcionario, doch am Wochenende war er doente por Flamengo. 1942 gründete er die Karnevalskapelle Charanga, die das gesamte Spiel über für ein Spektakel sorgte, wie er es von den Straßenbands seiner Kindheit im heimischen Bahia kannte. Als die Kapelle das erste Mal aufmarschierte, beschwerte sich der gegnerische Torwart beim Schiedsrichter und der ließ die Spieler den Platz verlassen.46

Ihren Namen verdankte die Gruppe dem berühmten und äußerst produktiven brasilianischen Komponisten und Textautor Ary Barroso, der als Filmkomponist 1945 für einen Oscar nominiert wurde. Seine berühmteste Komposition ist »Aquarela do Brasil«, international einer der bekanntesten Songs aus der Feder eines Brasilianers. Auch Barroso war doente por Flamengo und betätigte sich nebenbei als Fußballkommentator für Radio Tupi, wobei er gelegentlich auch zu Triller- und anderen Pfeifen griff. Als er bei einem Flamengo-Spiel das unbeholfene Spiel der Kapelle vernahm, bemerkte er spöttisch: »Freunde, das ist keine Musikband. Das ist eine charanga47 Der Begriff charanga bezeichnet in Brasilien eine schief spielende Amateurband. Doch Jayme gefiel der Name, die Charanga do Flamengo war geboren, und Ary und Jayme wurden Freunde.

Gemeinsam mit seiner Frau Laura nähte und färbte Jayme riesige Transparente für das Stadion. Außerdem trugen sie dieselben rot-schwarzen Trikots wie die Spieler auf dem Feld, allerdings hatten sie ihre selbst hergestellt. Für das Fla-Flu-Derby gegen Fluminese im Oktober 1942 entwarf Jayme ein Spruchband mit der Aufschrift »AVANTE FLAMENGO«.48 Nach Flamengos Ausgleichstreffer kletterten Jayme und ein Freund über den Zaun und rannten auf das Spielfeld, was unter den 30.000 Fans beinahe einen Aufstand ausgelöst hätte. Polizisten zerrten sie vom Rasen, verhafteten sie jedoch nicht. Der legendäre Sportjournalist Mário Filho aus Rio – nach dem das Maracanã seit 1966 offiziell benannt ist – beschrieb in einem kurzen Artikel die Anfänge der Flamengo-Fankultur. In dem Text »Karneval im Frühling« schildert er, wie ein Polizist sich beim 1944er-Finale der Meisterschaft des Staates Rio wegen einer gewaltigen Explosion zu Boden warf. Jayme de Carvalho hatte eine »Dynamitbombe« aufs Feld geschmissen. »Er zündete eine Bombe. Sie ging hoch und erfüllte das Stadion mit ihrem Rauch. An der Seitenlinie, wo sie gelandet war, hatte sie den Rasen versengt. Nach dem von Flamengo gewonnenen Spiel führte Jayme eine spontane Prozession tanzender und singender Fans durch Rios Straßen.«49

Feuerwerkskörper und Fahnen waren durchaus nichts Ungewöhnliches in brasilianischen Stadien, die Musikband dagegen schon, und binnen kurzer Zeit fand die Charanga landesweit Nachahmer. Die Lieder der Straßen und des Karnevals wanderten in die Stadien, und Jayme wurde Brasiliens erster Super-Fan. Der Verein stellte ihn an und schickte ihn auf Auslandsreisen. Er hatte sogar einen Ausrüstervertrag mit einem Kleidungsunternehmen. Er war annähernd so berühmt wie die Spieler, so berühmt, dass er vor der WM 1950 zum Chefe dos Chefes de Torcida Brasileira ernannt wurde. Das soeben fertiggestellte Maracanã bildete den würdigen Rahmen für eine Mannschaft, von der erwartet wurde, dass sie den Titel holte. Jayme sollte die Charanga auf internationaler Bühne präsentieren und zugleich dazu beitragen, die gewaltbereiten Impulse der Menge in Zaum zu halten. Bernardo Buarque de Hollanda stellte hierzu in einem Aufsatz in Football and the Boundaries of History fest: »Man wollte unbedingt das Bild eines vernünftigen Staates abgeben, daher übertrugen die Offiziellen die Aufgabe, die Fans und ihr Verhalten zu lenken, weitgehend an Jaime [sic!] de Carvalho. Den Organisatoren war bewusst, wie wichtig ein Wortführer unter den Fans sein würde, um die Polizeichefs bei der Durchsetzung eines wohlgefälligen Verhaltens zu unterstützen.« Und das tat Jayme. Mit seiner Torcida Brasileira begleitete er jedes Spiel der brasilianischen Mannschaft. Bei Brasiliens 6:1-Erfolg über Spanien begannen die Zuschauer »Bullfights in Brazil« von João de Barros zu singen. Barros »war ganz gerührt und ihm kamen die Tränen, als er hörte, wie sein Lied von einer Menge von geschätzt 200.000 Menschen gesungen wurde«.50

Doch dann verlor Brasilien das Finale gegen Uruguay durch den berühmt-berüchtigten Maracanazo (»Schock von Maracanã«), der nicht nur bei den Spielern, sondern im gesamten Land tiefe Spuren hinterließ. Das einzig Erfreuliche war, mit welch erstaunlicher Fairness die Fans die Niederlage hinnahmen. Doch die wohl folgenreichste Wirkung hatte Jaymes Engagement bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Turniers erzielt, und zwar bei Brasiliens 2:0-Sieg über Jugoslawien. Die Filmaufnahmen des Spiels sind von recht bescheidener Qualität – die FIFA begann erst 1954, die WM-Endrunden vernünftig aufzuzeichnen –, doch in den existierenden Ausschnitten erkennt man explodierende Feuerwerkskörper, Spruchbänder und die Band im Vordergrund. Der Lärm der von der Charanga angeführten 142.000 Zuschauer hinterließ bei den Gästen bleibenden Eindruck. Ohne Jayme de Carvalho und seine Charanga wäre Hajduk Splits Torcida nie gegründet worden.

Jayme de Carvalho war Cláudios großer Held. Gemeinsam mit seiner Frau Laura führte Carvalho die Charanga und die Torcida Brasileira auch zu den WM-Endrunden in der Schweiz, Schweden, Mexiko und der Bundesrepublik Deutschland und machte so bis zu seinem Tod 1976 ein internationales Publikum mit dem Charanga-Sound bekannt. Cláudio stürmte in die Bar und kehrte mit einem Buch zurück. »Jayme war der allererste Fan, der im Vereinstrikot auf der Tribüne auftauchte«, sagte er und reichte mir das Werk, das er Jayme gewidmet hatte, ein Bildband mit Geschichten und Fotos aus Jaymes Leben. »Verstehst du, wie wichtig die Charanga do Flamengo war?«

Mitte der 1960er-Jahre erlebte Brasilien einen Wandel mit einer rasanten Urbanisierung. Der Putsch von 1964 war der Beginn einer jahrzehntelangen Militärdiktatur. Die neue Fangeneration war jung und arm und lechzte nach Veränderungen. Die bestehenden torcidas waren letztlich ein Produkt ihres Vereins. Ihre Anführer, auch wenn sie wie Jayme nur das Beste wollten, galten als Angestellte des Vereins, dagegen wollten die jüngeren Fans sich von jeglichen Autoritäten befreien. Neue Gruppierungen wie die Torcida Jovem do Flamengo entstanden und schreckten nicht davor zurück, das eigene Team auszupfeifen. In Leserbriefen an Rios Zeitungen beklagte der vom Krebs befallene Jayme de Carvalho am Ende seines Lebens die neue Einstellung. »Flamengo lehrt uns, vor allem Brasilien zu lieben.«51

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