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UNTER ULTRAS

JAMES MONTAGUE

UNTER ULTRAS

EINE REISE ZU DEN EXTREMSTEN FANS DER WELT

Übersetzt aus dem Englischen von Sven Scheer

COPRESS

IMPRESSUM

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Copress Verlag erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1269-4).

Copyright © James Montague, 2020

Titel der Originalausgabe: 13:12: AMONG THE ULTRAS by Ebury Press, an imprint of Ebury Publishing. Ebury Publishing is part of the Penguin Random House group of companies.

Umschlagfoto: imago images (www.imago-images.de)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 der deutschen Ausgabe

Copress Verlag in der Stiebner Verlag GmbH, Grünwald

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.

Übersetzung aus dem Englischen: Sven Scheer

Satz und Redaktion der deutschen Printausgabe:

Stiebner Verlag, Grünwald

ISBN 978-3-7679-2094-1

www.copress.de

Für Mila und Mitra, jederzeit

»In einem Universum, das sich ausdehnt, gehört die Zeit den Verstoßenen. Jene, die einst die Vorstädte menschlicher Ächtung bewohnten, finden sich schließlich in der Metropole wieder, ohne dass sie die Adresse gewechselt hätten.«

Quentin Crisp, Aus dem Leben eines englischen Exzentrikers

INHALT

Zu diesem Buch

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Kroatien

Teil eins: Los Primeros Hinchas

Uruguay

Argentinien

Brasilien

Teil zwei: Kein Gesicht, kein Name

Italien

Serbien

Griechenland und Mazedonien

Albanien und Kosovo

Teil drei: Gegen den modernen Fussball

Ukraine

Deutschland

Schweden

Teil vier: Die neue alte Welt

Türkei

Vereinigte Staaten

Indonesien

Danksagung

Zu diesem Buch

Um den Teil des Spiels, der mich stets am meisten interessiert hat, ranken sich zugleich die meisten Missverständnisse: die Fans, oder genauer, die Ultras, die Hooligans, die barras bravas, die torcidas, die Fanatiker oder wie auch immer die leidenschaftlichsten und extremsten unter den Anhängern in ihrer jeweiligen Heimat auch genannt werden. Schon in jungen Jahren wurde ich von der Gefahr und dem Rätsel angezogen. Es war eine verführerische und extreme Kultur. Der Blick auf jenen Bereich hinter dem Tor und die unwiderstehliche von ihm ausgehende Anziehungskraft war, als würde man ein Magic-Eye-Bild betrachten. Entweder man sah das, was darin verborgen war, oder nicht.

Allerdings ist das eine Welt, die mich niemals wirklich als einen der ihren akzeptieren wird. Journalisten sind für sie genauso sehr ihr Feind wie die Polizei. Organisierte Fangruppen begegnen jedem, der über sie schreiben will, mit Misstrauen. Das entschied in gewissen Ausmaß darüber, welche Szenen und welche Orte in diesem Buch vorkommen. Den Szenen, zu denen ich keinen Zugang bekam, habe ich kein eigenes Kapitel gewidmet. Viele Versuche blieben vergeblich, aus dem Grund findet man in diesem Buch nicht mehr über Russland, Polen und Ägypten. Wenn der problematische Zugang selbst von Interesse war, wie in Marokko, habe ich das aufgenommen.

Doch nach und nach haben die einzelnen Akteure und Gruppen mir Zutritt zu ihrer Welt gewährt. Das führte zu einer Reihe moralischer Fragen. Häufig hatte ich es mit Menschen zu tun, mit deren Ansichten ich nicht übereinstimme und deren Aussagen manchem Leser bei der Lektüre Bauchschmerzen bereiten werden. Ich habe Geschichten von Gewalt und Rassismus gehört und sie oft selbst erlebt. Gebe ich dem Rechtsextremismus und dem organisierten Verbrechen eine Plattform, indem ich über sie schreibe? Rechtfertige ich die Ansichten dieser Menschen, indem ich wiedergebe, was sie mir erzählt haben? Doch um die Welt zu verstehen, müssen wir wissen, wie sie ist, nicht wie wir sie uns wünschen, auch wenn manche Menschen zusammenzucken werden. In meinen Augen ist das die einzige Möglichkeit, um zu begreifen, wie diese riesige Subkultur entstanden ist und wieso sie agiert, wie sie agiert.

Eine andere moralische Frage war die Identifizierbarkeit meiner Gesprächspartner. Die meisten von ihnen haben gebeten, nur unter Pseudonym zitiert zu werden, da ihre Auskünfte mir gegenüber sie in Gefahr bringen könnten. Dieser Bitte bin ich nachgekommen. Eine Ausnahme bilden diejenigen meiner Gesprächspartner, die derart öffentlich auftreten, dass sie in ihren Heimatländern beinahe schon so etwas wie Berühmtheiten sind. Moralische Erwägungen standen für mich bei der Arbeit stets im Vordergrund. Diese innere Stimme hat es mir, so hoffe ich, ermöglicht, getreu alles wiederzugeben, was ich gesehen und gehört habe, und es zugleich in den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontext einzubetten. Meiner Ansicht nach sollten Sie, die Leser, sich selbst eine Meinung bilden können zu dem, was ich erlebt und hier festgehalten habe.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Im vergangenen Jahr, als der Sommer vom Herbst abgelöst wurde und sich die Arbeit an Unter Ultras dem Ende zuneigte, beschäftigte mich vor allem eine Frage: Wie sieht die Zukunft der Ultras aus? Wie sieht die Zukunft einer Subkultur aus, die sich in einer Zeit der Konformität und des Überwachungskapitalismus ihres Widerspruchsgeists und ihrer Anonymität rühmt? Letzten Endes war ich optimistisch. Bei allen Problemen, auf die ich gestoßen war – insbesondere die Nähe der Ultras zur rechtsextremen Szene und zum organisierten Verbrechen in manchen Teilen der Welt –,gab die Bewegung Hunderttausenden, wenn nicht sogar Millionen Menschen auf allen Kontinenten ein Gefühl der Heimat und der Identität. Die Szene besaß politische Macht und sorgte im Idealfall für Veränderungen zum Guten. Natürlich passt die anarchische Freiheit der Ultras nicht zu dem Geschäftsmodell des globalisierten Fußballs, der ein keimfreies Unterhaltungsprodukt erschaffen und verkaufen will. Doch wie mir ein deutscher Ultra bei den Recherchen zu dem Buch erzählte, hat die Szene für sich selbst und ihr Überleben »zu Kämpfen gelernt«.

Und dann kam Corona.

Die letzten Spiele vor dem Lockdown sah ich in England. Ich war für ein Wochenende nach Hause geflogen, wo ich mit drei befreundeten Fans von Roter Stern Belgrad – zwei von ihnen Mitglieder der Delije – bei empfindlicher Kälte einem trostlosen 0:0 zwischen Millwall und Birmingham beiwohnte. In Serbien ist die britische Sitcom »Only Fools and Horses«, die in Südostlondon unweit der Heimstätte von Millwall spielt, äußerst populär, und so hatten die drei unbedingt fahren wollen und sich auch nicht von meinem Einwand beirren lassen, dass überhaupt nicht klar sei, ob Del Boy nun eigentlich für Millwall oder für Charlton Athletic war. Tags darauf machten wir uns in den Londoner Norden auf, wo Arsenal in der Europa League gegen Olympiakos spielte. Die Ultras von Roter Stern und Olympiakos verbindet eine innige Freundschaft, die vor allem auf dem gemeinsamen christlich-orthodoxen Glauben gründet. Die zahlreich anwesenden Gate-7-Ultras empfingen ihre serbischen Gäste mit offenen Armen, mir dagegen begegneten sie eher misstrauisch.

Das Spiel endete auf spektakuläre Weise mit dem Siegtreffer durch Youssef El-Arabi in der letzten Minute der Verlängerung. Doch im Rückblick ist nicht das der erinnerungswürdigste Moment des Abends. Stattdessen geht mir nun nicht mehr das Bild des rundlichen Olympiakos-Eigners Evangelos Marinakis aus dem Sinn, wie er über das Spielfeld watschelte und die Fans seiner Mannschaft abklatschte. Zehn Tage darauf wurde bei ihm das neuartige Coronavirus festgestellt. Für mich war das der Moment, in dem eine weit entfernt scheinende globale Pandemie vor meiner Haustür ankam.

Innerhalb weniger Wochen verschwand der Fußball. Weltweit wurde der Spielbetrieb der Ligen eingestellt. Bei der Rückkehr nach einigen Monate wurde hinter verschlossenen Toren gespielt. Allerdings gab es mehrere bemerkenswerte Ausnahmen. Belarus machte weiter, als wäre nichts geschehen. In Bulgarien kehrten die Ultras zu den Spielen zurück. Im Juni ließ Serbien beim Pokal-Halbfinale zwischen Roter Stern und Partizan 16.000 Zuschauer zu, allerdings wurden auch dort die Fans wieder ausgeschlossen, als die Infektionszahlen durch die Decke schossen. Doch der überwiegende Teil der Stadien blieb leer. Ein verbreiteter, ursprünglich dem legendären Celtics-Coach Jock Stein zugeschriebener Spruch unter Ultras und sonstigen organisierten Fangruppierungen lautet: »Ohne die Fans ist der Fußball nichts.« Diese Weisheit wurde nun einer ultimativen Prüfung unterzogen. Mehr als das: Das Ganze war eine existenzielle Krise. Stimmt es? Ist der Fußball ohne Fans tatsächlich nichts? Und falls der Sport auch ohne sie überleben sollte, würde dann bei einer Rückkehr der Fans in die Stadien die gesamte Subkultur strengen Regeln unterworfen, die sie schließlich zum Verschwinden bringen würden, wie es in den 1990er-Jahren in England geschehen ist?

Doch zunächst standen dringlichere Probleme an. Die Ultra-Kultur reicht weit über die Stadien hinaus und engagiert sich seit Langem in Krisenzeiten in den Gemeinden vor Ort. In Deutschland wurden die Ultra-Gruppen besonders aktiv. Laut dem Journalisten Felix Tamsut, der in seiner Twitter-Timeline (@ftamsut) die Ultra-Aktionen in der Corona-Krise zusammentrug, sammelte bei Borussia Dortmund The Unity (ebenso wie die Desperados und Jubos) Lebensmittel und verteilte sie an Bedürftige der Stadt. Bei Hansa Rostock organisierten die Suptras (ein Kofferwort aus »Supporters« und »Ultras«) eine Blutspendeaktion. Die Ultras Frankfurt sammelten Geld für die örtliche Tafel. Die Weekend Brothers beim VfL Wolfsburg gründeten eine eigene Tafel. Darüber hinaus gab es Solidaritätsaktionen für andere curve, etwa durch die Ultras Nürnberg, die knapp 16.000 Euro an die Curva Nord Brescia im europäischen Corona-Hotspot Lombardei spendeten. Die womöglich beeindruckendste Aktion starteten die Ultras von Brescias Erzrivalen Atalanta aus Bergamo, die halfen, ein Feldlazarett für die unzähligen Infizierten der Stadt zu errichten. In Kroatien, Marokko, Spanien, Frankreich, Israel und anderen Ländern gab es zahllose weitere Aktionen. Und die Liste wird bis heute länger.

Als der Fußball nach drei Monaten ohne Fans zurückkehrte, erschienen die Spiele derart leblos, dass Zuschauergeräusche eingespielt wurden, um die von den Ultras geschaffene Atmosphäre zu imitieren. Manche Vereine füllten die Tribünen mit Pappfiguren der Anhänger. Die Fernsehsender erkannten, dass ihr Produkt nunmehr weniger wert war, und so machten sie überall in Europa Abstriche an ihren TV-Deals mit den Ligen. Corona tötete nicht etwa die Fankultur, sondern demonstrierte die Bedeutung der Ultras für das Spiel und die lokale Gemeinschaft.

Doch selbstverständlich gab es auch weniger selbstlose Tendenzen. Die organisierte Kampfszene machte auch in der Krise anscheinend unverändert weiter. So fand etwa im August ein berühmt-berüchtigt gewordenes nächtliches Match 100 gegen 120 zwischen den Firms von Darmstadt 98 und Eintracht Frankfurt statt (zwei Minuten, 30 Sekunden, Sieg für Frankfurt).

Corona wird nicht so bald verschwinden. Bisher hat die globale Pandemie vor allem gezeigt, wie wichtig die organisierte Fankultur ist. Doch so kann es nicht auf ewig weitergehen. Die Bewegung muss wiederbelebt werden durch die Erfahrung, der sie ihre Lebenskraft verdankt: das kollektive Erlebnis, seine Mannschaft 90 Minuten im Stadion spielen zu sehen. Wie sieht also die Zukunft der Ultras aus? Wie die übrige Gesellschaft werden sie sich an die Situation anpassen müssen. Doch die Szene hat sich als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen. Sie weiß, um ihr eigenes Überleben zu kämpfen.

James Montague Istanbul, September 2020

»Ich bin dir nicht böse wegen dem, was du über mich geschrieben hast. Du musstest dich auf andere Geschichten verlassen, und ich weiß nicht, ob überhaupt irgendjemand irgendetwas Gutes über mich für wahr halten würde.«

Billy the Kid

Kroatien
SPLIT

Zuerst kam das Feuer, dann brach die Hölle los. Dichte, ätzende Rauchschwaden verschlangen uns, bissen in den Augen und brannten mit ihrem unverkennbaren metallischen Aroma auf der Zunge. Einige Momente lang sah man kaum die eigene Hand vor Augen, zugleich hallten ohrenbetäubende Schlachtrufe durch den Dunst. Tausende Fans brannten rote Bengalos ab, warfen Rauchbomben und hüpften im Gleichtakt auf und ab. Die Nordtribüne des Poljud-Stadions, Heimat der Torcida-Ultras bei Hajduk Split, bebte. Zu unseren Füßen trennte ein schmaler Spalt zwei mächtige Tribünenteile, und die Betonstufen schwangen wie bei einem Erdbeben.

Langsam zog die Dunstwolke von der Nordtribüne hinab auf das Spielfeld. Junge, mit Sturmhauben maskierte Männer enterten den Metallzaun und warfen ihre Bengalos Richtung Rasen. Die Fackeln zeichneten einen verblassenden Bogen an den dämmrigen Abendhimmel, um sodann am Rand des Spielfelds zu landen, auf dem das heißblütigste Derby des kroatischen Fußballs, das Ewige Duell zwischen Hajduk Split und Dinamo Zagreb, bereits in vollem Gange war. Mehrere Bengalos loderten auf den Sitzen der Nordtribüne weiter und entzündeten ein Feuer, ohne dass Panik ausgebrochen wäre. Die Menge wich lediglich ein paar Meter zurück, ohne die um sich greifenden Flammen und die schmelzenden Sitze weiter zu beachten. Ein Löschwagen jagte um den Platz, und zwei Feuerwehrleute kletterten mit einem Schlauch auf die Tribüne, um die Gefahr zu beseitigen.

Dem Schiedsrichter blieb nichts anderes übrig, als die Partie zu unterbrechen. Das Spiel war ohnehin nur Nebensache, und das nicht nur, weil Dinamo den Titel in der Saison 2018/19 bereits so gut wie in der Tasche hatte. Das Team hatte zehn der vorangegangenen elf Meisterschaften gewonnen, dagegen lag Hajduks letzter Titelgewinn bereits knapp 15 Jahre zurück. Nein, im Mittelpunkt standen allein die Show und die Botschaft. Die 1950 gegründete Torcida ist die älteste Fanorganisation Europas. Ihr Einfluss ist immens. Indessen die Spieler noch darauf warteten, dass der künstliche Nebel sich verzog, reckten die Mitglieder der Torcida auf der Nordtribüne und die Fans auf der Osttribüne einander den rechten Arm zum wechselweisen Gruß entgegen, begleitet von Gesängen zur Melodie des Triumphmarsches aus Verdis Oper Aida. Ganz vorn standen die Capos mit dem Gesicht zur Nordtribüne und dem Rücken zum Spielfeld, das Megafon in Händen, und dirigierten die Tausende Stimmen, die überwiegend wüste Schmähparolen auf die Rivalen aus der Hauptstadt schmetterten.

»Tötet, tötet, tötet die Purgera«, beleidigten die Torcidas die Gäste mit dem dalmatinischen Slang-Begriff für die Zagreber.

Dinamo, und Zagreb allgemein, wurde für die Torcida aus einer ganzen Reihe komplizierter historischer Gründe zum Erzrivalen. Zur Zeit des ehemaligen Jugoslawiens hatte die Rivalität einen weit verbreiteten, doch mehr oder weniger harmlosen Grund, nämlich den Neid und das Gefühl der Benachteiligung der Menschen fern der Hauptstadt ihrer Teilrepublik. Doch nach dem 1995 zu Ende gegangenen kroatischen Unabhängigkeitskrieg und der Auflösung Jugoslawiens avancierten Dinamo und Hajduk zu den beiden größten Mannschaften der neugegründeten unabhängigen Liga. Partien gegen die alten Belgrader Feinde – Roter Stern und Partizan – standen nicht länger auf dem Spielplan. Also gingen die beiden Lager aufeinander los.

Der kleine, nur wenige Hundert Mann starke schwarze Block der Dinamo-Ultras von den Bad Blue Boys war in einen abgelegenen Teil des Poljud-Stadions weit oben auf der Westtribüne verbannt worden, durch leere Sitzreihen weiträumig vom Rest der Arena isoliert. Die Show gehörte der Torcida. Fahnen wurden von den oberen Sitzreihen nach unten durchgereicht, und auf den Sitzen lagen kleine Plastikbögen in Rot oder Blau bereit für eine weit im Voraus geplante Zettel-Choreo. Niemand wusste, was sie zeigen würde, doch allein durch seine Anwesenheit erklärte man sich stillschweigend mit jeder Botschaft einverstanden. Ein riesiges Banner aus Kunststoff wurde von unten nach oben entrollt, und binnen weniger Augenblicke wurde es darunter heiß und stickig. Jedem Einzelnen war in diesem kollektiven Theaterstück eine Rolle zugedacht. Doch erst nach dem Spiel sah ich auf einer Fotografie, was die Choreografie eigentlich zeigte: das überlebensgroße Bild eines Fans mit nach vorn gereckten Armen, in den Händen einen Schal in Rot und Blauviolett, den Farben der Torcida. Darunter zog sich über die gesamte Breite der Nordtribüne ein einziges Wort in riesigen weißen Buchstaben: »ULTRAS«.

Was sehen Sie, wenn Sie ein Fußballspiel sehen? Sehen Sie ein Mannschaftsschauspiel vor sich ablaufen? Sehen Sie einzelne Spieler, die ihr einzigartiges Können vorführen? Sehen Sie ein Schachspiel, beherrscht von Zahlen, Taktiken und Mustern? Es gibt keine richtige oder falsche Antwort, und Millionen Menschen rund um den Globus werden das Spiel auf eine ganz andere Weise als Sie sehen. Unmittelbar hinter den Begrenzungen des Spielfelds jedoch, auf den Rängen hinter den Toren, herrscht noch einmal ein vollkommen anderes Verständnis vom Fußball für das eine Subkultur steht, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts das Antlitz und die Atmosphäre des Fußballs wesentlich prägt: die Ultras.

Dennoch wissen wir so gut wie nichts über diese Fangruppierungen, deren Rauchschwaden die Stadien einhüllen. Als eigenständige Kultur haben sie ihre eigenen Regeln und Normen entwickelt. Sie führen ein Leben außerhalb des Gesetzes oder geraten zumindest ständig in Konflikt damit. Sie kommunizieren mittels spektakulärer Inszenierungen: riesiger Banner, farbenfroher Choreografien, politischer Parolen, Rauchschwaden, Ehrenbezeugungen, Schmähungen, Gewaltausbrüchen und Gedenkbotschaften. Sie sind gegen die Autoritäten und hegen ein unversöhnliches Misstrauen gegen Polizei und Medien. Sie kämpfen gegen die Kommerzialisierung des Sports und die Kriminalisierung ihrer Brüder. Und sie verfügen über ein internationales Netz der Freundschaften und Feindschaften, einen eigenen Ehrencode und eine ausgeprägte Solidarität.

Der Fußball und das Fußballbusiness sind allgegenwärtig. Ein Milliardenpublikum verfolgt das Geschehen auf und neben dem Rasen und saugt noch die winzigsten Meldungen auf, die auch nur entfernt den Sport betreffen. Noch über das kleinste Detail auf dem Platz wird genauestens berichtet, genauso wie über das Leben der Spieler, die zu Stars eines globalen Entertainmentprodukts aufgebaut werden. Jede Regung von Klubbesitzern, Trainern, Managern und Verantwortlichen wird wie unter dem Mikroskop analysiert. Doch die Fans? Die Ultras? In einem Sport, in dem wir über jeden alles wissen, sind sie weitgehend ein Geheimnis geblieben. Gegeißelt als bedrohliche Fremde, verteidigen sie ihre hart errungene Anonymität und ihren Außenseiterstatus. Es gibt sie auf allen Kontinenten, auch wenn ihre Ansichten und Weltanschauungen unterschiedlich sind. Gibt es überhaupt die Definition, was oder wer »die Ultras« sind? So sichtbar sie sein mögen, sind die Ultras stets ein Rätsel geblieben.

Split ist eine alte Stadt an Kroatiens karstiger Küste, 400 Kilometer und rund fünf Stunden Fahrt von Zagreb entfernt. Im Lauf der Jahrhunderte sind viele Mächte durch die Stadt oder an ihr vorbei gezogen: Römer, Griechen, Byzantiner, Osmanen, Venezianer, Italiener, Faschisten und Kommunisten. Split pflegt seine dalmatinische und kroatische Identität und hat einen entschiedenen Widerstand gegen alle Auswärtigen entwickelt. Es gibt in der Stadt sogar einen eigenen Begriff dafür, dišpet, eine Haltung des Trotzes ungeachtet aller Konsequenzen. »Dišpet heißt, gegen alles und jeden zu sein«, erklärte mir ein Mitglied der Torcida. Split besitzt dišpet. Dalmatien besitzt dišpet. Und auch die Torcida und die Ultras besitzen dišpet. Als Hajduk 1911 gegründet wurde, bezogen sich die Gründer des Vereins mit dem Namen auf die Heiducken, christliche Aufständische in der Art Robin Hoods, die sich ab dem 16. Jahrhundert gegen die osmanische Herrschaft in Europa auflehnten.1 Im Zweiten Weltkrieg wurde das Königreich Jugoslawien 1941 besetzt, und Split geriet unter italienisches Kommando. Hajduk jedoch widersetzte sich lukrativen Angeboten zur Teilnahme an der Serie A, die 1926 vom faschistischen Regime des Diktators Benito Mussolini als nationale Liga etabliert worden war. Nachdem die Italiener Split an die Partisanen verloren hatten, besetzte kurz darauf die deutsche Wehrmacht die Stadt. Unter der Herrschaft der mit den Nationalsozialisten verbündeten Ustascha-Bewegung wurde der Unabhängige Staat Kroatien als deutscher Vasallenstaat gegründet und eine kroatische Fußballliga ins Leben gerufen. Doch Hajduk verweigerte abermals die Teilnahme. Stattdessen gingen die Mitglieder des Vereins geschlossen zu den kommunistischen Partisanen, die unter Josip Broz Titos Führung gegen die Faschisten kämpften. Die Mannschaft wurde zu einer Art Balkan-Propagandaversion der Harlem Globetrotters und trat in Kroatien, Italien und dem Mittleren Osten zu Freundschaftsspielen gegen Gegner aus Reihen der Alliierten an, um auf die Misere des Landes aufmerksam zu machen. Tito war beeindruckt und bot dem Verein an, als offizielle jugoslawische Armeemannschaft nach Belgrad umzuziehen. Doch auch Tito kassierte eine Abfuhr.2

Nach dem Krieg gründete Tito in Belgrad mit Partizan kurzerhand seine eigene Armeemannschaft. Hajduk wurde wieder in Split sesshaft und entwickelte sich zu einem bedeutenden Symbol der kroatischen Identität. Allerdings war der Begriff der nationalen Identität höchst umstritten. Als Tito Jugoslawien als sozialistischen Bundesstaat von sechs Teilrepubliken wiederauferstehen ließ, wollte er die regionalen Unterschiede in einem sozialistischen Ganzen aufgehen lassen. Dass ausgerechnet Fußballfans den schlafenden und gefährlichen Nationalismus wecken könnten, ahnten wohl nur wenige der Machthaber, als die Hajduk-Anhänger sich nach der WM 1950 in Brasilien, an der Jugoslawien teilgenommen hatte, anschickten, mit einer neuartigen Fanorganisation den Gesängen und der Leidenschaft der brasilianischen torcida-Fangruppierungen nachzueifern. Laut einer Gründungslegende erzählten Seeleute von der Insel Korčula nach ihrer Rückkehr von der WM nach Split unvorstellbar klingende Geschichten von den brasilianischen Fans, die mit Musikinstrumenten, Leuchtfeuern und Cleverness ihrer Mannschaft einen Vorteil verschafft hätten. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass die jugoslawischen Spieler selbst von ihren Eindrücken berichtet haben.

Der jugoslawischen Mannschaft, die zuvor, 1948, bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille gewonnen hatte, gehörten fünf Hajduk-Spieler an, darunter der junge Torhüter Vladimir Beara. Als Lew Jaschin 1963 den Ballon d’Or erhielt, erklärte er in seiner Dankrede, er sei überhaupt nicht der beste Spieler der Welt. Er sei noch nicht einmal der beste Torwart der Welt. Diese Ehre gebühre Beara.3 Auch wenn die enttäuschten Jugoslawen bei der WM 1950 von Brasilien aus dem Turnier geworfen wurden, waren sie von den Zuschauern tief beeindruckt. 142.000 Menschen waren zu dem Spiel ins Maracanã von Rio geströmt. In Europa war es bis dahin üblich, dass die kaum organisierten Fans ihre Mannschaft auf eher beschauliche Art unterstützten. Doch nun lieferten Beara und sein Hajduk-Teamkamerad Bernard Vukas einer Gruppe von in Zagreb studierenden Hajduk-Fans unfassbare Berichte von dem, was sie im Maracanã gesehen und gehört hatten. Beara beschrieb bildlich den fremdartigen Sound, für den die torcida in den Stadien sorgte: »Sie waren wie eine Maschine, die für ihr Heimatland und ihre Nationalmannschaft stampfte.«4

Die Hajduk-Fans beschlossen, genau dasselbe zu versuchen. »Den Ausschlag gegeben hat ganz sicher das, was wir ihnen erzählt haben. Das kann gar nicht anders sein, denn sie wussten nicht, dass es so etwas wie die torcida überhaupt geben konnte.«5

Hajduks Splits Torcida wurde just in dem Moment gegründet, da für ein ganz besonderes Spiel eine ganz besondere Atmosphäre vonnöten war, vier Monate nach Jugoslawiens Niederlage gegen Brasilien am anderen Ende der Welt. Am vorletzten Spieltag der ersten jugoslawischen Liga musste Hajduk gegen Roter Stern Belgrad antreten. Mit einem Sieg hätte der Verein seinen allerersten Titel so gut wie sicher gehabt. Die Torcida-Anführer rüsteten ihre Mitglieder mit »Schulglocken, Trompeten, Rasseln und Pfeifen [aus] und bestiegen mit ihnen den Zug nach Split«6. Am 28. Oktober 1950 wurde die Torcida offiziell gegründet. Unterstützt von lokalen Funktionären der Kommunistischen Partei suchten Hunderte Torcida-Mitglieder das Mannschaftshotel von Roter Stern auf und brachten den Spielern ein Ständchen, »ein mitreißendes Konzert, bei dem sie ihren Instrumenten schrille Töne entlockten und damit die Vorbereitung des Gegners störten«7. Rund 20.000 Fans quetschten sich am 29. Oktober in das Stadion Stari plac im Zentrum von Split, um das Spiel auf dem Ascheplatz zu verfolgen. Zunächst wurde der Torcida und ihren Instrumenten der Eintritt verweigert, doch dann schaltete sich Hajduks Präsident (ein hochrangiger Funktionär der Kommunistischen Partei) ein. In einer örtlichen Parteizeitung hieß es, das Stadion »glich einem Hexenkessel. Die Schlacht auf dem Spielfeld nahm begleitet von der frenetischen Unterstützung der Zuschauer ihren Lauf … Alle – die Spieler auf dem Feld und die Zuschauer auf den Tribünen – kämpften Seite an Seite.«8

Der Torcida gelang es tatsächlich, die fiebrige Atmosphäre Brasiliens zu kopieren. Doch die Sache lief aus dem Ruder. Mitten im Spiel schlug ein Hajduk-Spieler dem Kapitän von Roter Stern ins Gesicht, und als Hajduk kurz vor Schluss den 2:1-Siegtreffer erzielte – und damit den Titel so gut wie in der Tasche hatte –, stürmten die Zuschauer das Feld. (Letztlich sollte Hajduk als einzige Mannschaft der jugoslawischen Geschichte ungeschlagen Meister werden.) Am Abend feierte die Torcida in der Altstadt, und ein Mitglied verlas vor der Menge einen Nachruf auf Roter Stern Belgrad. In Belgrad wurde das Spektakel verurteilt, und eine Zeitung beklagte den »Höllenlärm« der Torcida und dass die Gruppe an »unzivilisierten und obszönen Vorfällen«9 beteiligt gewesen sei. Die Kommunistische Partei war erschrocken über das unverhüllt kroatische Gebaren der Torcida und fürchtete, dadurch könnten nationalistische Tendenzen geschürt werden, zumal die faschistische Ustascha erst fünf Jahre zuvor besiegt worden war. Sie griff zu rabiaten Maßnahmen. Drei der Torcida-Gründer wurden aus der Partei ausgeschlossen. Der Schiffsjunge Vjenceslav Žuvela von der Insel Korčula, der maßgeblich an der Gründung beteiligt gewesen war, wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, allerdings wurde die Strafe im Nachhinein auf drei Monate reduziert. Hajduk durfte 50 Jahre lang das rot-weiße Schachbrettmuster der kroatischen Flagge nicht in seinem Vereinswappen verwenden. Die Torcida erlebte nur dieses eine Spiel, dann wurde sie verboten. Doch so kurzlebig die Torcida auch war, als Europas erste organisierte Fanvereinigung entfaltete sie eine enorme Wirkung. Hajduk Split war seinem dišpet-Ruf wieder einmal gerecht geworden. Ein rebellischer Klub für eine rebellische Stadt.

Nach Titos Tod 1980 zerfiel Jugoslawien und steuerte in einer zehnjährigen Abwärtsspirale auf einen grausamen ethnisch-nationalistischen Krieg zu, derweil die Torcida als Stimme des Nationalismus in Split ein Comeback feierte. Auch in den anderen jugoslawischen Republiken entstanden neue Fanclubs, wesentlich beeinflusst von den italienischen Ultra-Gruppen, die jenseits der Adria ihre Hochzeit erlebten. Jede einzelne der neuen Gruppen kündigte bereits den zerstörerischen Nationalismus an, der am Horizont aufzog. Begegnungen von Dinamo oder Hajduk gegen Roter Stern Belgrad endeten oftmals mit Krawallen, bei denen die jeweiligen Ultras in vorderster Front standen.

Nach dem Unabhängigkeitskrieg trat Dinamo Zagreb an die Stelle von Roter Stern als Hajduks Erzrivale. Der neue, nationalistische Präsident des Landes, Franjo Tuđman, wollte Dinamo Zagreb zum nationalen Aushängeschild machen. Allerdings war ihm der Name »Dinamo« als zu kommunistisch verhasst, und so wurde der Klub kurzzeitig in Croatia Zagreb umbenannt.10 Im Februar 2000, zwei Monate nach Tuđmans Tod, kehrte der Verein zu seinem alten Namen Dinamo zurück. In den Nullerjahren leitete Zdravko Mamić die Geschicke des Vereins, ein korrupter Funktionär, der lange den kroatischen Fußball kontrollierte und sich bis heute in Bosnien-Herzegowina dem Zugriff der kroatischen Justiz entzieht, nachdem er in Abwesenheit wegen Veruntreuung und Steuerhinterziehung verurteilt wurde.11 Hajduks Ultras hatten die Proteste gegen ihn und seine Helfershelfer im kroatischen Fußball angeführt. Bei der EM 2016 hatten Torcida-Mitglieder aus Protest gegen den kroatischen Fußballverband HNS in St. Etienne Bengalos auf das Spielfeld geworfen, dabei hatte Kroatien in Führung gelegen. Nach der Partie war es unter den kroatischen Fans zu Schlägereien gekommen.12 Vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Italien 2015 war ein riesiges Hakenkreuz auf den Rasen des Poljud-Stadions gemalt worden, obwohl das Spiel aufgrund rassistischer Sprechchöre bei einem vorangegangenen Spiel ohnehin schon vor leeren Rängen stattfinden musste.13 Vermutlich hatte der Verband in Zagreb mit der Aktion noch stärker in Verlegenheit gebracht werden sollen. Mamić war sogar in die Adria gestoßen worden, als er auf der vor Split gelegenen Insel Brač aus einem schicken Restaurant gekommen war. Dass der Angreifer der Torcida angehört hatte, war nicht bewiesen worden, dennoch kritisierte Mamić die Gruppe kurz darauf in einem in den sozialen Medien veröffentlichten Brief. »Ihr könnt euch nur hinter dem Wort ›Torcida‹ verstecken und so tun, als ob ihr Helden wäret. Doch als Hajduk ausgenommen wurde, habt ihr kein Wort gesagt.«14

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