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Montag, 06. Oktober 2014 11:02 Uhr

Jack brauchte vom Yard mit seinem Wagen knapp fünfundzwanzig Minuten bis nach Islington. Dort wohnte Felix mit seiner Lebensgefährtin Alice in einem schmalen Reihenhaus. Es war schon eine ganze Weile her, dass Jack zum letzten Mal dort gewesen war. Meistens hatte er sich mit seinem Freund direkt in dessen Werkstatt getroffen, die sich praktischerweise in unmittelbarer Nähe, in einem kleinen Industrieareal zwischen einer Tankstelle und einem Gebrauchtwagenhändler, befand. Von dort aus waren sie dann um die Häuser gezogen oder hatten gemeinsame Ausflüge mit den Motorrädern unternommen. Außerdem wäre Jack bei Felix Zuhause immer Gefahr gelaufen, auf Alice zu treffen, was er allen Beteiligten gerne hatte ersparen wollen.

Heute jedoch würde er sich freiwillig in die Höhle der Löwin begeben, denn er wollte unbedingt so viele Informationen wie möglich über Felix‘ Reise in die Highlands sammeln, bevor er in wenigen Stunden selbst dorthin aufbrach. Er hatte sich ausgerechnet, dass es klüger war, Alice unangekündigt zu überfallen, anstatt von ihr am Telefon eine Korb zu kassieren. Er hoffte nur, sie auch tatsächlich anzutreffen. Durch Felix wusste er zumindest, dass sie als Fitnesstrainerin oft an den Wochenenden arbeitete und montags frei hatte, um dann lange auszuschlafen.

Als er die fünf Stufen zur Haustür erklomm, fiel Jacks Blick direkt auf ein eingeschweißtes Motorradmagazin, das auf der Fußmatte lag. Er hob die Zeitschrift auf und klingelte.

Während er wartete, betrachtete er sich das Cover des Magazins, das er selbst auch abonnierte, sich aber immer in die Redaktion beim Loughton Courier schicken ließ. Darauf räkelte sich, wie eigentlich in jeder Ausgabe, eine spärlich bekleidete junge Frau auf einem chromglänzenden Zweirad.

Nach einigen Sekunden erschien eine Gestalt hinter der Milchglasscheibe der Tür, die daraufhin einen Spalt geöffnet wurde.

»Oh, Scheiße! Du!«, raunte Alice ihm entgegen.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, entgegnete Jack betont freundlich und lächelte sie an. »Darf ich reinkommen?«

Sie nahm zu seiner Erleichterung direkt die Sicherheitskette ab, trat stumm zur Seite und ließ ihn in die Wohnung.

Alice war Mitte dreißig, einen halben Kopf kleiner als er und von betont sportlicher Figur. Sie trug einen schwarz getönten Kurzhaarschnitt, den er noch nicht kannte. In ihrem pinkfarbenen Hausanzug und mit den weißen Tennissocken machte sie auf ihn den Eindruck, als hätte er sie gerade vom Sofa aufgescheucht. Er drückte ihr die Zeitschrift in die Hand, die sie, ohne sie anzusehen, auf die Garderobenablage warf.

»Was willst du denn hier, zum Teufel? Als hätte ich nicht schon genug Probleme«, grummelte sie, während sie träge ins Wohnzimmer schlurfte.

Jack folgte ihr und sah sich schnell in seiner Vermutung, bestätigt, dass sie den Tag langsam anging: Eine Wolldecke lag halb auf dem abgewetzten, braunen Ledersofa und halb auf dem Boden. Auf der niedrigen Holztruhe, die als Couchtisch diente, standen eine Tasse und eine Schachtel mit Taschentüchern. Daneben Telefon und Handy. Der Fernseher lief mit leisem Ton.

Im Vergleich zum recht milden Wetter war es in der Wohnung ziemlich warm, die Heizkörper unter den beiden schmalen Fenstern glühten. Felix‘ Freundin schien ebenso chronisch unterkühlt zu sein, wie Grace.

Jack schaute sich um: Der Raum hatte sich, zu dem, wie er ihn noch in Erinnerung hatte, nicht sehr verändert. Es strahlte eine Mischung aus Chaos und Gemütlichkeit aus. mit bunt zusammen gewürfelten Möbeln, die sie, wie er wusste, teilweise auf Trödelmärkten erstanden hatten, einem schweren Perserteppich über dem ausgetretenen und nahezu blinden Parkett und hunderten von Bildern, die fast jeden Quadratzentimeter der Wände bedeckten. Sie zeigten überwiegend Aufnahmen von Natur, Landschaften und Städten aus aller Welt, die Felix im Laufe der Zeit mit dem Motorrad bereist hatte; in seiner ›Selbstfindungsphase‹, wie er es einmal bezeichnet hatte. In dieser Zeit war er, neben seinem eigenen Ich, auch Alice begegnet.

»Du weißt, warum ich hier bin«, antwortete Jack auf ihre Frage. »Ich hatte dir versprochen, nach Felix zu suchen.«

Sie ließ sich erschöpft auf das Sofa sinken, zog ihre Beine nahe an den Körper und wickelte sich die Decke um; ebenso, wie es Grace gestern getan hatte.

»Also hier ist er nicht, so viel kann ich dir sagen!«, ätzte sie. Ein kurzes Schniefen folgte.

»Nicht, dass ich Dankbarkeit erwarten würde...«, begann Jack leicht gereizt, wurde aber sofort von ihr unterbrochen.

»Die wirst du auch nicht bekommen! Es sei denn, du bringst ihn mir heil wieder.«

Jack entfuhr ein erschöpftes Stöhnen. Sie hatte sich kein bisschen verändert; selbst jetzt, wo er nur da war, um zu helfen. Andererseits war sie sicher krank vor Sorge um Felix und Jack würde ihr daher ihr barsches Verhalten nachsehen. Er setzte sich neben sie, woraufhin sie sofort demonstrativ etwas von ihm weg rutschte.

»Hör zu«, begann er und atmete kräftig durch. »Wir haben nicht den besten Start gehabt. Du hegst einen offenen Hass gegen mich und ich weiß, dass der nicht ganz unberechtigt ist. Die Sache mit Tamara damals war sicher nicht meine beste Leistung, was Beziehungen angeht.«

Alice verdrehte die Augen und lachte trocken. »Du hast dich wie das größte Arschloch auf Erden aufgeführt!«

Er nickte, während sein Blick, gespielt reumütig, ins Leere fiel. »Da hast du wohl Recht.«

Die Beziehung zwischen Tamara und ihm währte gerade einmal sieben Monate. So lange hatte er gebraucht, um zu realisieren, dass ihre makellose Schönheit und ihr durchtrainierter Körper nicht ausreichten, ihn zu befriedigen. Gut, der Sex mit ihr war toll gewesen, aber intellektuell hatte Tamara nie etwas dafür getan, ihren Fitnessclub-Empfangsdamen-Horizont zu erweitern. Eine Konversation, die über die Gestaltung der nächsten Freizeitaktivität oder ihre Lieblingsfernsehserien hinausging, war mit ihr nur schwer möglich gewesen. Schönheit, Sport und Shopping, das waren die Dinge, die für sie wichtig gewesen waren und denen sie mit Jacks Kreditkarte ausgiebig gefrönt hatte. Und fast immer hatte sie ihre Touren mit ihrer Clique, zu der auch ihre beste Freundin Alice gehörte, unternommen. Da war es natürlich kein Wunder, dass Alice giftig reagiert hatte, als er die Beziehung zu Tamara abrupt per SMS gelöst hatte. Noch heute war er froh über sein damaliges Zögern, mit ihr zusammen zu ziehen.

»Übrigens komme ich gerade von Scotland Yard«, sagte er nach einer kurzen Pause, wie beiläufig, um das Thema zu wechseln. »Ich hatte eine Handyortung veranlasst.«

Alice wurde sofort hellhörig und setzte sich aufrecht hin. »Und? Wo ist es?«

Er verzog das Gesicht. »Hat leider nicht funktioniert, sie konnten es nicht finden.«

»Hm.« Sie ließ ihre Schultern sinken und sah Jack, sichtlich enttäuscht, an. Dabei rang sie sich ein kurzes Lächeln ab. »Aber danke für deine Mühe. Das war wirklich… nett.« Es hatte sie merklich viel Überwindung gekostet, das zu sagen.

Jack atmete tief aus. »Was hältst du davon, wenn wir unsere Differenzen zumindest so lange beilegen, bis ich Felix gefunden habe?«

Ein paar Sekunden lang sagte Alice nichts. Er glaubte, dass sie in diesem Moment mit sich selbst haderte und versuchte, über ihren eigenen Schatten zu springen. Sie war eine absolut sture Person, das wusste er. Also musste es ein ziemlich langer Schatten sein.

»Wieso denkst du, dass du ihn findest? Die Polizei sucht doch bereits nach ihm. Und der traue ich, ehrlich gesagt mehr zu, als einem Schreiber für ein Lokalblättchen.«

Jack schüttelte gespielt amüsiert den Kopf. »Du schaffst es wirklich, einem Mann Honig ums Maul zu schmieren. Autsch.«

Sie seufzte, drehte ihren Kopf und sah ihn nun mit einem fast schon entschuldigenden Blick an. Und tatsächlich sagte sie:

»Tut mir leid, das war hart. Ich weiß, du willst nur helfen. Ich bin im Moment wirklich ziemlich durch den Wind. Nicht nur, wegen der Sache mit Felix.« Sie atmete schwer. »Heute Nachmittag muss ich auch noch auf eine Beerdigung. Eine Arbeitskollegin von mir ist gestorben. Ich glaube du kennst sie sogar. Ricarda Hernandez?«

Jack überlegte kurz, dann fiel es ihm ein. »Ricky?«

Alice nickte.

Er kannte sie tatsächlich, war ihr aber nur ein paar Mal im Rahmen von Partys, auf denen er mit Tamara eingeladen war, begegnet.

»Oh, das tut mir leid. Was ist passiert?«

Alice zuckte mit den Schultern. »Häuslicher Unfall. Mehr weiß ich nicht.«

»Hm.«

Er schaute ihr direkt in die Augen und konnte jetzt auch sehen, dass sie leicht gerötet waren. »Also, was ist nun?«, fragte er. »Begraben wir das Kriegsbeil? Oder legen es zumindest mal beiseite, bis sich alles geklärt hat?«

Sie machte eine zustimmende Kopfbewegung und schniefte erneut. »Okay.«

Jack beugte sich zum Tisch vor, zog ein Papiertaschentuch aus der Box und reichte es ihr. Sie nahm es kommentarlos und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Und was hast du jetzt vor? Wo willst du nach ihm suchen?«, fragte sie nasal.

Jack griff in die Innentasche seiner Jacke und zog dann ein längliches Papier heraus. Er reichte es Alice.

»Ein Flugticket?«, fragte sie ungläubig.

»In knapp drei Stunden fliege ich über Edinburgh nach Wick in den Highlands«, erklärte er. »Von dort aus fahre ich mit dem Mietwagen bis nach Gleann Brònach.«

»Du willst ihm nachreisen?«

»Exakt. Ich hefte mich an seine Fährte.«

»Und wenn es keine gibt?«

»Genau deshalb bin ich hier. Ich würde mir gerne mal Felix` Arbeitsplatz anschauen, wenn du nichts dagegen hast.«

Alice lachte humorlos. »Arbeitsplatz? Du meinst den da?«

Sie nickte in Richtung der anderen Seite des Raums. Dort stand ein alter Sekretär, schätzungsweise aus den Sechzigern, eingebettet in ein die ganze Wand einnehmendes Bücherregal.

»Ich hab mir schon alles mehrfach angeschaut«, beteuerte sie. »Die Polizei hatte mich auch darum gebeten, ihr irgendwelche Hinweise zu geben. Aber da ist nichts, was dir weiterhelfen wird.«

»Hm, darf ich trotzdem…?« Jack deutete auf den Schreibschrank.

»Tu dir keinen Zwang an! Sieht sowieso aus wie ein Saustall. Felix kann einfach keine Ordnung halten. Naja, du kennst ja seine Werkstatt; sieht auch nicht viel besser aus.«

Jack stand auf und ging zu dem Arbeitsplatz herüber. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich davor.

»Vielleicht ist gerade das Chaos seine Ordnung?«, mutmaßte er, angesichts der Berge an losen Papieren und verschiedenfarbiger Mappen, die vor ihm lagen. Er würde Alice aber sicher nicht auf die Nase binden, dass sein privater Schreibtisch und auch sein Arbeitsplatz in der Redaktion des Loughton Courier nicht viel besser aussahen.

Sie winkte ab. »Quatsch. Er ist ständig was am Suchen. Und die Buchhaltung für die Werkstatt fliegt auch noch zwischen dem ganzen anderen Kram rum. Das hat wohl mit effizientem Arbeiten nicht viel zu tun, oder?«

Jack erinnerte sich in diesem Moment an die allseits bekannte Statistik, die aussagte, wie viel Zeit ihres Lebens Frauen damit verbrachten, etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Das weibliche Geschlecht war also ebenso nicht gänzlich fehlerfrei, wenn es um Ordnung ging, auch wenn Alice das gerade versuchte, zu propagieren.

Sie erhob sich vom Sofa und stellte sich mit verschränkten Armen hinter Jack. Mit ihrem neugierigen Blick im Nacken nahm er einen Stapel Papiere und blätterte sie durch. Sie betrafen jedoch tatsächlich seine hauptberufliche Arbeit: Es waren Lieferscheine für Motorradersatzteile, mehrere Kopien von Kundenrechnungen und sogar eine Auswertung für das Finanzamt darunter. Er seufzte.

»Verstehst du jetzt, was ich meine?«, wetterte sie und deutete auf eine durchsichtige Mappe. »Die Zettel da in der Hülle gehören zu seinen Nachforschungen für das neue Buch. Ältere Sachen sind alle in den Ordnern im Regal.«

Jack nahm die prall gefüllte Dokumentenmappe in Augenschein. Darin steckten zahlreiche Ausdrucke aus dem Internet sowie ein paar Zeitungsausschnitte und handschriftliche Notizen. Er nahm sie nacheinander heraus und sah sie sich an. Fast alle hatten eine Gemeinsamkeit: Sie betrafen die Ortschaft Gleann Brònach.

»Hat er mit dir über seine aktuellen Recherchen gesprochen?«, wollte er von Alice wissen.

Ein Schulterzucken. »Schon, aber nur oberflächlich. Er weiß, dass ich mich nicht so sehr für diesen Kram interessiere.«

Und Jack wusste es auch; Felix hatte oft genug darüber geklagt, wie wenig Alice von seinem Hobby und Nebenerwerb als Sachbuchautor hielt.

Nachdem er alles grob überflogen hatte, steckte Jack die Papiere wieder zurück in die Mappe und hielt sie in die Höhe.

»Darf ich mir die mal ausleihen?«

»Tu dir keinen Zwang an«, kam die phlegmatische Antwort. Dann schien Alice ein Gedanke zu kommen. »Meinst du, das hat vielleicht was mit seinem Verschwinden zu tun? Seine Nachforschungen, meine ich?«

Jacks Mundwinkel zuckten.

»Möglich ist alles. Zumindest kann ich mich während des Fluges jetzt ein bisschen in die Materie einlesen.« Er sah sich suchend um. »Hat Felix ein Notebook?«

»Hat er mitgenommen.«

»Klar, natürlich. Kennst du zufällig das Passwort für sein E-Mail Konto?«

Alice rollte mit den Augen. »Ja. Er nimmt für alles immer das gleiche. Hab ich ihm schon so oft gesagt, dass das Mist ist.«

»Verrätst du mir, wie es lautet?«

Sie stöhnte. »›aliceinwonderland‹, in einem geschrieben und alles klein. Aber da hab ich auch schon nachgesehen und nichts brauchbares gefunden.«

»Hm.« Jack holte sein Smartphone raus und notierte sich das Passwort in der Notizbuch-App. Dann stand er auf und legte Alice nach kurzem Zögern die Hand auf die Schulter.

»Ich finde Felix, das verspreche ich dir!«, beteuerte er nochmals. Dass er sich damit weit aus dem Fenster lehnte, wusste er. Aber er würde alles dafür tun; schon alleine, um seinen guten Freund und mit ihm den besten Motorradmechaniker wiederzubekommen, den er kannte.

Die Melodie von ›Rule Britannia‹ ertönte und er sah auf das Handydisplay: Es war das Büro von Steven Highsmith. Er machte Alice gegenüber eine entschuldigende Geste und drückte den Annahmeknopf.

»Hi. Was gibt’s neues?«

»Hi. Ich habe inzwischen mit dem zuständigen Beamten von der Police Scotland sprechen können«, erklärte Steve.

»Und?« Jack konnte aus der Stimme des Yard-Beamten diesmal nichts heraushören.

»Tja, also… die gehen davon aus, dass er sich nicht mehr in Gleann Brònach oder der Umgebung aufhält.«

Jacks Stirn legte sich in Falten. »Und wie kommen die zu dem Schluss?«

»Ganz einfach: Er hat seinen Mietwagen pünktlich am Tag seiner geplanten Abreise zur Filiale am Flughafen in Wick zurück gebracht.«

Donnerstag, 15. November 2000 22:47 Uhr

Evie saß mit angewinkelten Beinen in ihrer Bettnische, die Bettdecke bis unter das Kinn gezogen. Sie zitterte am ganzen Körper.

Über ein Jahr war ihre Mum nun tot und noch immer wachte sie nachts schreiend auf. Das Bild ihrer Mutter, die leblos in ihrem eigenen Blut in der Badewanne lag, hatte sich fest in ihr Gedächtnis gebrannt und es brach immer wieder hervor.

Die Zimmertür wurde leise geöffnet.

»Evie? Alles in Ordnung?«, fragte ihr Vater mit sanfter Stimme. Übermäßige Besorgnis konnte sie nicht in ihr wahrnehmen, eher ein wenig Resignation, denn die Situation war für ihn schon zur Routine geworden.

Das Licht im Kinderzimmer ging an und reflektierte auf dem glänzenden Winnie Pooh Luftballon, den sie vergangene Woche von Lynn zum Geburtstag bekommen hatte und der seit Tagen unter der Decke schwebte. Evies Vater kam herein und setzte sich auf die Bettkannte. Er streichelte ihr sanft über Stirn und Wange; sie waren schweißnass.

»Hey, alles gut«, flüsterte er. »Du hast nur wieder schlecht geträumt.«

Evie nahm seine Hand und presste sie gegen ihr Gesicht. Es war ihr wichtig, seine Nähe zu spüren; sie gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit.

»Ich habe Mum gesehen«, sagte sie leise.

Ihr Vater nickte und lächelte mitfühlend. »Ich weiß. Aber es ist alles gut. Es war nur ein Albtraum, nichts weiter. Ich bin da. Versuch jetzt, zu schlafen.«

»Ich hab Angst«, gestand sie und das entsprach der Wahrheit. Auch wenn sie sonst immer das erwachsen wirkende Mädchen war, das nach dem Tod seiner Mutter schnell Selbständigkeit und Verantwortung erlernt hatte, wollte sie jetzt in diesem Augenblick von ihrem liebenden Vater in den Arm genommen werden. Er war schließlich alles, was sie noch an Familie hatte; und auch er wäre ihr beinahe einmal genommen worden.

Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als diese Frau vom Jugendamt bei ihnen gewesen war. Sie hatte zunächst ein langes Gespräch mit ihrem Vater geführt. Dann hatte sie sich Evies Zimmer angeschaut und mit dem Mädchen gesprochen. Sie hatte sie allerlei Dinge gefragt: Ob sie sich wohlfühle bei ihrem Vater; ob er sich gut um sie kümmere. Evie hatte keine Ahnung gehabt, was das zu bedeuten hatte, aber sie hatte alle Fragen ehrlich beantwortet. Etwas später hatte ihr Vater ihr freudig erzählt, dass sie für immer bei ihm bleiben dürfe. Das hatte sie zunächst verwirrt, denn nichts anderes hatte sie angenommen; sie wollte natürlich bei ihrem Vater bleiben. Wie hätte irgendeine fremde Person auch etwas anderes bestimmen können?

»Möchtest du bei mir schlafen?«, fragte er.

Evie nickte stumm. Ihr Dad stand auf und sie kletterte aus ihrem Bett. Es war bereits das dritte Mal in dieser Woche, dass sie die halbe Nacht an der Seite ihres Vaters schlafen würde; dort, wo früher ihre Mutter gelegen hatte. Aber es war jetzt alles anders. Es war ein anderes Bett und auch eine andere Wohnung. Wenige Wochen nach dem Selbstmord ihrer Mutter waren sie, auf Anraten von Doktor Vincent, einem mit der Familie gut befreundeten Psychologen, umgezogen. Die neue Wohnung war viel kleiner und befand sich in einem nicht ganz so schönen Haus, wie es das alte gewesen war. Ihr Vater hatte Evie gesagt, dass sie sparen mussten und sie hatte Verständnis dafür gehabt.

Sie gingen ins Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch ihres Vaters lag eine Zeitschrift, die er nun hektisch in die Schublade räumte. Dann schlug er Evie das Bett neben sich auf. Sie legte sich hinein und war schon bald darauf eingeschlafen.

_____

In der darauffolgenden Nacht war es das gleiche Szenario: Wieder wachte sie aus einem schlimmen Albtraum auf und durfte sie zu ihrem Vater ins Bett. Er gab ihr auch wieder einen Gutenachtkuss. Aber diesmal war es anders.

Er küsste sie auf den Mund.

Er war ihr Dad, natürlich. Aber es war Evie unangenehm, von ihm so geküsst zu werden. Sie mochte das nicht. Und sie wusste, dass es nicht richtig war.

»Ich liebe dich«, hauchte er und sah sie mit dem mitfühlenden Blick eines fürsorglichen Vaters an. Dabei streichelte er ihr mit dem Handrücken sanft über das Gesicht.

»Ich liebe dich auch, Daddy«, antwortete Evie etwas unsicher.

»Wirklich? Wie sehr liebst du mich?«

Sie verstand die Frage nicht.

»Sehr«, antwortete sie nur knapp.

»Gibst du Dad noch einen Kuss?«

Evie wurde die Situation unangenehm. »Können wir jetzt schlafen? Ich bin müde.«

»Gleich, Evie«, entgegnete ihr Vater und begann erneut, ihr Gesicht zu liebkosen. Er beugte sich über sie und küsste sie. Auf die Stirn, auf den Hals.

Auf den Mund.

»Lass das, bitte!«

Sie versuchte, sanft, aber bestimmt, ihn von sich weg zu drücken. Doch er war stärker und ließ es nicht zu.

»Ich liebe dich so sehr. Du bist mein ein und alles«, hauchte er, wie in einem Rausch.

Evie nahm jetzt diesen unangenehmen Geruch wahr, der aus seinem Mund kam. Er hatte getrunken. Seine Augen glänzten fiebrig und sein Blick war ihr plötzlich so fremd. Er fuhr ihr mit den Fingern durch die Haare. Dann wanderte seine Hand weiter. Über ihr Schlafanzugoberteil. Er knetete ihre Brust.

»Daddy! Nein!«, rief Evie aufgebracht und rutsche unter ihm aus dem Bett. Sie stand jetzt aufrecht vor ihm und sah ihn vorwurfsvoll an. Eine Träne rann ihr über das Gesicht.

»Ich will das nicht, Daddy«, sagte sie mit weinerlichem Tonfall und schlang ihre Arme schützend um sich selbst. Ihr Körper zitterte; so etwas war ihr in seiner Gegenwart noch nie passiert.

Ihr Vater sah sie einem Moment ausdruckslos an. Dann stand er auf, ging zur Tür und drehte den Schlüssel um. Er steckte ihn in die Tasche seiner Pyjamahose.

»Ich liebe dich, Evie«, wiederholte er. »Und ich will, dass du mich auch liebst. So wie Mum früher.«

Sie begriff nicht, was er damit meinte. Evie wusste nur, dass sie jetzt, zum allerersten Mal in ihrem Leben, Angst vor ihrem eigenen Vater hatte. Dieser kam nun langsam auf sie zu.

»Daddy, ich will das nicht!«, wiederholte sie kopfschüttelnd. Doch er hörte nicht auf ihre Worte. Er packte sie unsanft und warf sie aufs Bett. Er legte sich über sie und drückte sie in die Laken. Sie wand sich wie ein Aal unter ihm, doch sie war nur ein achtjähriges, schmächtiges Mädchen und er ein starker, vierunddreißigjähriger Mann. Sie konnte nichts gegen das ausrichten, was nun folgen sollte.

399
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9783738036299
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