Читать книгу: «Ort des Bösen», страница 2

Шрифт:

Jack war doch leicht erstaunt. »So? Und, gab es schon was?«

Alice lachte verächtlich. »Quatsch! Das sind doch alles Hinterwäldler da! Keiner hat was von ihm gehört oder gesehen. Keine Einlieferung ins Krankenhaus.« Nach einer Pause füget sie noch, wesentlich kleinlauter, hinzu: »Keine unbekannten Leichen.«

»Hey, ich bin mir sicher, dass sich bald alles aufklären wird. Wahrscheinlich steht er morgen schon wieder lachend vor uns und schwärmt von seinem verlängerten Highlands-Urlaub.« Jack glaubte selbst nicht an die Worte, die er sprach, und das konnte man hören.

»Blödsinn«, entgegnete Alice auch sofort. »So verantwortungslos wie du ist er nicht; jedenfalls nicht mehr, seit wir zusammen sind.«

Jack verzog die Mundwinkel. »Wieder die alte Leier.« Er wusste über die Vergangenheit seines Freundes Felix nicht allzu viel, außer, dass er ein ziemlicher Raufbold gewesen sein soll. Das hatte er selbst jedenfalls immer wieder behauptet und von diversen Jugendsünden gesprochen. Und auch Alice hatte in diesem Zusammenhang wiederholt und mit vor Stolz geschwellter Brust darauf hingewiesen, dass sie es gewesen war, die ihn schließlich geläutert hatte.

»Hast du denn mal bei der Unterkunft angerufen, die er dort hatte?«, fragte Jack.

»Nein. Er hat mir keine Adresse dagelassen, wo er übernachten wollte. Er wollte sich ja auch regelmäßig melden und sowieso nur drei Tage weg sein«, erklärte Alice. »Ich weiß nur, dass es ein kleines Bed and Breakfast war, das von einer älteren Frau betrieben wird.«

Jetzt war es Jack, der missgestimmt brummte. Hatte nicht einmal die Polizei es für nötig gehalten, Alice diese Information zu geben? Oder hatten sie gar nicht erst soweit gefahndet? Vielleicht war hier doch sein Spürsinn gefordert; dieser gut trainierte Muskel, der ihm schon so oft bei der Jagd nach Schlagzeilen geholfen hatte.

»Soll ich mich mal ein bisschen umhören?«, fragte er.

Grace hob, hellhörig geworden, den Kopf.

Ein paar Sekunden blieb es still am anderen Ende der Leitung. Aber Jack glaubte, erneut ein Schniefen vernommen zu haben.

»Ja, klar. Mach nur. Aber was soll das groß bringen? Die Polizei ist ja schon eingeschaltet.«

»Hörte sich aber nicht danach an, als ob sie wirklich eine Spur hätte. Alice, ich verspreche dir, ich werde mich darum kümmern. Ich versuche, Felix zu finden!« Er schielte zu seiner Frau, deren Augen immer größer wurden.

»Okay, Danke.«

Das ›Danke‹ hatte Alice deutlich Überwindung gekostet, was Jack mit einem innerlichen Schmunzeln zur Kenntnis nahm. Sie verabschiedeten sich und Jack legte das Telefon auf den Tisch. Wortlos starrte er für einen Moment, seinen Gedanken nachhängend, ins Leere. Dann sah er zu seiner Frau. Ihrem Blick konnte er entnehmen. dass sie genau wusste, was hier gerade vor sich ging. Er hatte dieses besondere Funkeln in den Augen, das er immer dann bekam, wenn er eine Witterung aufnahm; die Witterung nach einer Story. Sie hasste diesen Blick, denn er bedeutete für gewöhnlich, dass sie sich Sorgen machen musste. Nur diesmal würde Jack eben keiner brisanten Story nachjagen, sondern versuchen, Felix Byrne zu finden.

Wie gefährlich konnte das schon werden?

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Grace, fast schon ängstlich.

»Hast du doch gehört«, antwortete er nur knapp, denn er musste jetzt etwas Wichtiges erledigen, das keinen Aufschub duldete. Er nahm das Notebook auf seinen Schoß und ging ins Internet.

»Du bist weder Polizist noch Privatdetektiv«, stellte Grace zu Recht fest. »Also was soll der Blödsinn? Lass doch die Profis ihre Arbeit machen und misch dich nicht immer ein!« Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Gott, ich klinge wie meine Mutter!«

»Aber wenigstens siehst du nicht aus wie sie, das macht einen Vorteil von mindestens fünfzig Prozent für mich aus«, antwortete er trocken, den Blick konzentriert auf das Display seines Computers gerichtet.

Grace beugte sich in sein Sichtfeld und ihre blonden Haare fielen ihr vors Gesicht.

»Du bist ein sturer Vollidiot«, sagte sie, aber ein Hauch von Ironie schwang in ihrer Stimme mit. »Was machst du denn da jetzt?«

Eine Antwort erhielt sie nicht, Jack war gerade viel zu sehr beschäftigt. Allerdings verriet ihr ein Blick auf den Bildschirm, was er vorhatte, denn er war gerade dabei, die Flugverbindungen von Heathrow nach Schottland zu checken.

Montag, 06. Oktober 2014 09:40 Uhr

Der Hörer flog auf die Gabel und Detective Chief Inspector Hubert Macintosh kratzte sich mit unzufriedener Miene am Kopf.

»Tja«, war sein erster Kommentar, der nicht gerade von Enthusiasmus triefte.

Jack hatte dem für ihn einseitigen und recht kurzen Gespräch keinerlei hilfreiche Informationen entnehmen können. Ungeduldig rutsche er auf seinem Stuhl etwas weiter nach vorne.

»Und?«

»Also gesucht wird wohl nach ihm. Der zuständige Beamte ist allerdings gerade nicht da.«

Jacks Mundwinkel wanderten nach unten. »Klingt ja super professionell.«

»Ich habe vollstes Vertrauen in die Kollegen da oben«, erklärte Macintosh und hob besänftigend die Hand. »Sie befolgen ihre Vorschriften für die Suche nach vermissten Personen. Es ist schließlich ihre Pflicht.«

Er hielt kurz inne, als ginge ihm etwas durch den Kopf, das mit dem Telefonat zusammen hing. Jack bemerkte das.

»Was?«

Der Inspektor machte eine herunterspielende Handbewegung. »Nichts.« Er bedachte sein Gegenüber mit einem eindringlichen Blick.

»Diese Miss Spencer hat Ihnen wirklich keine weiteren Anhaltspunkte zu seinem Vorhaben geben können?«

»Nicht mehr, als er mir selbst gesagt und geschrieben hat. Er wollte drei Tage fort bleiben und sich bei Alice zwischendurch telefonisch melden.«

»Und das hat er nicht getan«, vervollständige der Macintosh den Satz nickend. Er fuhr sich mit den Fingern durch seinen ergrauten Schnauzbart. Dann sah er auf seine Armbanduhr und ließ angestrengt etwas Luft aus seinem Mund entweichen.

Jack kannte den Inspektor nun seit fast vier Jahren; seit sie sich bei den Ermittlungen im Mordfall des Industriellen Byron Moore zum ersten Mal begegnet waren. Der schlanke, hochgewachsene Mann war ein Kriminaler der alten Garde, der stets Anzug und Krawatte trug und, sehr zum Leidwesen seiner Frau, voll in seinem Beruf aufging. Er war ein oft mürrisch wirkender Charakter, insbesondere wenn es um die mit seiner Arbeit einhergehende Bürokratie ging, dafür aber umso geschärfter in seiner Ermittlungsarbeit.

Er hatte Jack einmal überredet, in einem mehr als waghalsigen Einsatz als Lockvogel zu fungieren, was dieser fast mit dem Leben bezahlt hätte. Seitdem gab es zwischen den beiden ein stilles Abkommen: Man half sich hier und da gegenseitig bei Ermittlungen, beziehungsweise Recherchen ein wenig auf die Sprünge – sofern es gesetzlich vertretbar war. Macintosh war an der Einhaltung der Vorschriften viel gelegen, so schien es zumindest. Aber Jack wusste, dass auch er diese hin und wieder zu seinen Gunsten auslegte, um ein Verbrechen aufzuklären. Dies hatte ihm und seinem Kollegen Steven Highsmith sogar einmal, wenn auch nur kurzzeitig, eine Suspendierung eingebracht. Jetzt stand der Inspektor, der schon jenseits der Sechzig war, kurz vor seiner Pensionierung.

Steve, den Jack ebenso lange kannte, war ihm inzwischen ein guter Freund und Vertrauter geworden. Auch er hatte ihm schon mehr als einmal wertvolle Informationen zu laufenden Ermittlungen zukommen lassen, was er aber aus rein freundschaftlichem Antrieb heraus tat. Es war ein Glücksfall für Jack, diesen ›Verbündeten‹ bei Scotland Yard zu haben.

Sie schwiegen einen Moment. Jacks Blick fiel auf die Wand mit den Informationen zu einem aktuellen Fall, der jüngst in London für Aufsehen gesorgt hatte.

»Wie kommen Sie mit der ›Behind the Door‹ Geschichte voran?«, fragte er im Plauderton. Er erntete sofort einen strafenden Blick des Kriminalen und machte daraufhin eine abwehrende Handbewegung. »Keine Angst, ich bin nicht an dem Fall interessiert!«

Macintosh sah zur Ermittlerwand und seufzte. »Vier Leichen, laut Videoüberwachung zwei Täter, wobei einer eindeutig eine Frau ist.«

»Eine Frau? Wow.«

Der Inspektor hob drohend den Finger. »Calhey, ich warne Sie! Wenn ich auch nur eine Zeile darüber in Ihrem Käseblatt lese…«

Detective Inspector Highsmith betrat den Raum, was für die beiden Wartenden einer Erlösung gleich kam. Jack konnte im Gesicht seines guten Freundes jedoch nicht das von ihm erhoffte, zufriedene Lächeln entdecken.

»So leid es mir tut, aber das Mobiltelefon ist nicht zu orten.«

»Okay«, sagte Macintosh direkt, als ob er mit diesem Ergebnis bereits gerechnet hätte. »Danke, Steve.«

»Er hat es also tatsächlich ausgeschaltet?«, fragte Jack zweifelnd und fügte sofort hinzu: »Das würde er nie tun, das weiß ich. Er kann nicht ohne das Ding sein, das hat er mir selbst mal gesagt. Er muss immer erreichbar sein und vor allem seine Mails abrufen können.«

»Eine Volkskrankheit«, murrte Macintosh, der selbst ein Smartphone besaß, von dem Jack aber wusste, dass er es fast ausschließlich als Ersatz für einen Notizblock benutze.

»Es muss es nicht zwangsläufig ausgeschaltet haben«, erklärte Highsmith. »Der Akku kann beispielsweise leer sein.«

»Was allerdings bedeuten würde, dass Felix nicht mehr in der Lage war, ihn zu laden oder zu wechseln«, brummte Jack grübelnd. An den Inspektor gewandt, der bereits den Mund zu einem Kommentar geöffnet hatte, sagte er: »Das Ladekabel hatte er eingepackt. Alice hat es selbst gesehen!«

»Zudem setzt eine erfolgreich Ortung auch voraus, dass das Gerät Satellitenkontakt hat und sich in keinem Funkloch befindet«, fuhr Highsmith fort. »In den Highlands kann das allerdings durchaus passieren.«

»Ach komm, Steve«, entgegnete Jack abwinkend. »Ihm muss etwas zugestoßen sein. Sonst hätte er auf irgendeine andere Art versucht, sich zu melden. Über ein Festnetztelefon zum Beispiel.«

»Das ist wohl wahr«, pflichtete Macintosh ihm überraschend bei. »Vierzehn Tage ohne ein Lebenszeichen sind eine lange Zeit.«

Unausgesprochen im Raum standen seine Worte, dass Felix etwas zugestoßen sein musste.

»Aber trotzdem müssen Sie den Kollegen da oben mehr Zeit geben«, fuhr er fort. »Ich kann nicht Scotland Yard in diese Angelegenheit einschalten, nur weil wir uns schon so lange kennen. Es fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Das verstehen Sie doch?«

Jack nickte widerstrebend. Natürlich verstand er das, ebenso wie die Tatsache, dass er jeden Monat Steuern zahlen musste. Die Frage war, ob ihm das auch gefiel. Und die Sache mit Felix gefiel ihm ganz und gar nicht. Er spürte immer deutlicher, dass er hier nur seine Zeit vergeudete. Die Handyortung war negativ verlaufen und von dem Inspektor konnte er wohl gerade nicht mehr erwarten.

Er sah auf seine Uhr und stand auf.

»Okay, dann mache ich mich mal wieder auf den Weg. Ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Mühe.« Er reichte Macintosh die Hand.

»Keine Ursache. Für jeden anderen hätten wir sicher noch weniger tun können.«

Beim Herausgehen klopfte Jack Steven Highsmith freundschaftlich auf die Schulter.

»Halt die Ohren steif!«, flüsterte dieser und lächelte aufmunternd.

Jack hatte ihn bereits darüber ins Bild gesetzt, was er als nächsten Schritt unternehmen wollte. Er war schon fast aus der Tür, als Macintosh fragte:

»Nur aus reiner Neugier, Calhey - was haben Sie jetzt vor?«

Ein hintergründiges Grinsen. »Na, was denken Sie?«

Mit einem verstehenden, aber missbilligenden Gesichtsausdruck, ließ sich der Inspektor wieder auf seinen Stuhl sinken. Er wusste genau, was das bei Jack Calhey für gewöhnlich bedeutete: Ärger.

Kurz, nachdem sein Kollege und er alleine waren, stand Macintosh wieder auf, trat vor das Fenster und starrte mit in die Hüften gestemmten Armen hinaus. Highsmith wollte gerade nach nebenan gehen, als der Inspektor sagte:

»Steve, bleiben Sie noch.«

Dieser machte kehrt und trat vor den Schreibtisch. Ein besorgter Blick traf ihn.

»Ist noch was?«, fragte er.

»Ich habe das vor Calhey nicht erwähnt, aber irgendetwas seltsames geht da oben vor.«

»Da oben?«

Macintosh seufzte. »In diesem Kaff. Gleann Sowieso. Der Kollege hat mir gesagt, dass dort vor kurzem zwei Menschen eines unnatürlichen Todes gestorben sind. Ein alter Mann und eine junge Frau.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und beides passierte, nachdem Mister Calheys Freund dort aufgetaucht war.«

Montag, 08. Oktober 1999 17:48 Uhr

Evie und ihre beste Freundin Lynn räumten das Spielbrett und die bunten Steine sorgsam wieder in die Schachtel.

»Wollen wir noch die Barbies neu frisieren?«, fragte Evie, während sie den flachen Karton, auf Zehenspitzen stehend, wieder an ihren Platz im Regal schob.

»Nein, es ist gleich sechs«, stellte Lynn mit einem Blick auf ihre rosafarbene Armbanduhr fest und stand vom Teppich auf. »Ich muss nach Hause. Wenn ich zu spät komme, gibt’s Ärger.«

Evie murrte enttäuscht. »Na, dann. Aber morgen nach der Schule machen wir wieder zusammen Hausaufgaben, oder?«

Ihre Freundin lächelte. »Klar. Bei dir oder bei mir?«

Evie zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal.«

»Okay, dann bei mir. Immer abwechselnd, das ist fair!«

»Das ist fair«, wiederholte Evie und öffnete die Zimmertür. Der Geruch des Abendessens, der von der Küche über den Flur kroch, stieg ihr in die Nase. Sie gingen zur Garderobe, wo Lynn sich ihre Sandalen und die Strickjacke überzog.

Der Kopf von Evies Mutter erschien in der Küchentür.

»Mach’s gut, Lynn!«, sagte sie freundlich und winkte dem Mädchen zu.

»Auf Wiedersehen, Mrs Marshall. Und danke für die Cookies, die waren echt lecker.«

»Mums Cookies sind die Besten!«, sagte Evie mit erhobenem Zeigefinger, woraufhin Lynn den Kopf schüttelte.

»Meine Mum macht mindestens genauso gute!«

Ihre beste Freundin zuckte mit den Schultern und öffnete Lynn die Wohnungstür.

»Bis morgen dann. Denk dran, wir haben die ersten zwei Stunden Sport!«

»Ja, ich weiß. Bis morgen!«

Evie schloss die Tür und hüpfte zur Küche. »Wann gibt’s Essen?«, fragte sie ihre Mutter, die inzwischen wieder am Herd stand und in einer dampfenden Pfanne rührte.

»Wenn dein Vater kommt. Also um sieben«. Sie sah über ihre Schulter. »Habt ihr Spaß gehabt heute?«

Evie nickte eifrig. »Ja, wir haben ein paar Sachen aus der Spielesammlung gespielt. Ich hab fast bei allem gewonnen. Nur im Pferderennen war Lynn besser.«

»Ich freue mich, dass ihr zwei euch so gut versteht. Und dass Lynn direkt im Nebenhaus wohnt, ist doch praktisch, oder?«

Evie nickte und rollte die Spitze der blauen Decke, die auf dem Esstisch lag, mit dem Finger auf.

»Das ist toll. Und in der Schule sitzen wir nebeneinander.«

»Ich hatte schon Angst, dass dir der Sprung vom Kindergarten in die Grundschule Probleme machen würde. Aber du gehst doch gerne hin, wie’s aussieht«, stellte ihre Mutter fest und probierte etwas Soße vom Kochlöffel.

»Naja, Schule geht so. Sport ist cool und Mathe. Aber sonst…«

»Naja, es kann ja nicht alles immer gleich super sein«, relativierte ihre Mutter.

»Ich geh dann noch lesen, bis es Essen gibt, okay?«

»Okay.«

Evie ging zurück in ihr Kinderzimmer und schloss die Tür. Sie schnappte sich das Buch über den kleinen Vampir, das sie gerade erst zu lesen begonnen hatte und warf sich auf ihr Bett. Nachdem sie in der Schule lesen gelernt hatte, war es eines der ersten Bücher überhaupt, das sie las, das fast ausschließlich aus Text und nur wenigen Bildern bestand. Es war spannend; das Lesen können an sich und natürlich die Geschichte über den kleinen Vampir, der sich mit einem Menschenjungen anfreundet.

Evie lag auf dem Rücken, den Kopf auf ihr Kissen gestützt, und las ein paar Seiten. Dann lies sie das Buch sinken und schaute aus dem Fenster. Es war bereits dunkel. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn tatsächlich plötzlich ein Vampir draußen auf dem Fenstersims säße. Ob sie Angst hätte? Nein, sicher nicht, wenn es so ein netter und witziger Vampir wäre, wie in dem Buch.

Ein Klopfen holte sie aus ihrem Tagtraum.

»Ja?« Sie schaute zur Tür. Diese ging einen Spalt auf. Ihr Vater lugte hindurch und grinste.

»Na, meine Hübsche?«

Evie lachte freudig, klappte das Buch zu, sprang vom Bett und fiel ihrem Dad in die Arme.

Sie liebte ihren Vater Andrew über alles. Er war gütig, führsorglich und immer gut aufgelegt. Sie spielten zusammen, gingen in die Stadt oder ins Schwimmbad oder schauten zusammen Evies Videos mit den Zeichentrickfilmen und machten lustige Kommentare dazu. In letzter Zeit allerdings, seit sie in die Schule ging und dort Lynn kennen gelernt hatte, verbrachte sie nicht mehr so viel Zeit mit ihm, wie früher. Evie empfand den Umgang mit einem Mädchen, das in ihrem Alter war, inzwischen als normaler. Und da ihr Dad keine Anzeichen von Enttäuschung oder Vernachlässigung zeigte, glaubte sie, dass ihm das auch nichts ausmachte.

Evies Verhältnis zu ihrer Mutter war da etwas schwieriger. Nicht, dass sie sie nicht ebenso sehr liebte. Aber ihre Mutter hatte Probleme, wie ihr Vater ihr einmal erklärt hatte; Probleme im Kopf. Er hatte auch ein Fremdwort gebraucht, das Evie nicht gekannt hatte: Depressionen. Was immer das war, es tat ihrer Mutter nicht gut, das wusste Evie und das merkte sie ihr auch an. Es hatte vor knapp zwei Jahren begonnen, eigentlich aus heiterem Himmel. Seit dieser Zeit wurde sie immer schnell müde, verlor leicht die Geduld und zog sich dann ins elterliche Schlafzimmer zurück. Manchmal, wenn ihr Vater nicht da war, hatte Evie an der Tür gelauscht und ihre Mutter weinen gehört. Bis ihr Dad sie über die Probleme ihrer Mutter aufgeklärt hatte, war sie noch in dem Glauben gewesen, dass sie selbst vielleicht etwas falsch gemacht hatte. Aber dem war nicht so gewesen. Mum war krank. Wie, wenn man Masern bekam; nur eben komplizierter. Und man brauchte, um gesund zu werden, viel mehr Medizin. In dem kleinen Arzneischrank im Badezimmer standen viele Döschen mit kleinen, bunten Pillen. Mum nahm mehrere davon; morgens, mittags und abends.

»Wie war dein Tag?«, fragte Evies Vater, als er auf das Mädchen herab schaute, das ihre Arme um seine Hüfte geschlungen hatte. Er wuschelte ihr durch die langen dunkelbraunen Haare.

»Lustig. In der Schule haben wir ein Buchstabenquiz gemacht. Und Lynn und ich haben jeder drei Wörter erraten.«

»Toll. Du bist eine richtig große Abc-Schützin!«, lobte ihr Vater. »Du verstehst dich gut mit Lynn, oder?«

»Ja, sie ist total lustig und macht immerzu Quatsch.«

»Lass dich aber nicht zu sehr davon anstecken, okay? Habt ihr zusammen Hausaufgaben gemacht?«

Sie nickte. »Ja. Und Mum hat kontrolliert.«

Evies Vater machte ein zufriedenes Gesicht.

»Morgen gehe ich zu Lynn nach Hause und wir machen da die Hausaufgaben. Mrs Glendale hat versprochen, dass sie sich auch alles anschaut.«

»Klingt doch super.« Die Zufriedenheit im Gesicht ihres Vaters wich plötzlich einer ernsten Miene. Er machte noch einen Schritt ins Kinderzimmer und schloss die Tür. Dann hob er Evie auf seine Arme.

»Hör zu, bleibst du bitte noch einen Moment hier? Ich muss mit deiner Mum etwas Wichtiges besprechen.«

Evie sah ihn fragend an, sagte dann aber »Okay.«

Er setzte sie ab, tätschelte ihr den Kopf und verließ das Zimmer.

Sofort presste Evie ihr Ohr gegen die Tür. Diese Geheimniskrämerei, das konnte doch sicher nur mit ihrem Geburtstag im nächsten Monat zusammen hängen. Gebannt lauschte sie den Stimmen ihrer Eltern.

»Lois, wir müssen was besprechen«, sagte ihr Vater.

»Können wir das nach dem Essen machen, hm?«, fragte ihre Mutter, wenig begeistert.

»Nein, das kann nicht warten. Ich muss das jetzt loswerden.«

Evie gelangte zu der Erkenntnis, dass es wohl doch nicht um ihr Geburtstagsgeschenk ging.

»Ist was passiert?«, fragte ihre Mutter.

»Setz dich!«

»Aber ich muss den Tisch…«

»Setzt dich, bitte

Ein Stuhl wurde gerückt.

»Also, was ist es? Warum schaust du so ernst?«, fragte Evies Mutter.

»Mir ist heute gekündigt worden«, sagte ihr Vater gerade heraus.

Evie hielt sich die Hand vor den Mund.

» Oh, nein. Dad hat keine Arbeit mehr

Ihr Dad arbeitete in einem Verlag; er machte dort irgendwas mit Geld. Buchhalter hieß wohl der Job. Weiterhin lauschte sie dem Gespräch ihrer Eltern. Ihr Vater sagte etwas von Stellenabbau. Und dann hörte sie ein Schluchzen; es kam von ihrer Mutter.

»Bitte, reg dich nicht auf, Lois«, bat Evies Dad ruhig.

»Reg dich nicht auf? Natürlich rege ich mich auf! Wie sollen wir denn jetzt überleben? Wie sollen wir die Miete bezahlen? Du weißt, dass ich nicht arbeiten gehen kann!«

Evies Mutter hatte bis vor zwei Jahren, bis sie krank wurde, halbtags als Verkäuferin in einem Juweliergeschäft gearbeitet. Aber dann wurde sie so traurig und musste Tabletten nehmen. Seitdem war sie eigentlich immer Zuhause; bis auf die zwei Vormittage in der Woche, an denen sie zu einem Doktor ging, mit dem sie über ihre Krankheit sprach.

»Wir werden schon eine Lösung finden«, versuchte Evies Vater ihre Mutter zu beruhigen. »Ich werde die Stellenanzeigen wälzen, mich umhören und zum Jobcenter gehen.«

»Das ist doch alles sinnlos«, wimmerte die Mutter. »Wir werden auf der Straße sitzen! Mit einem siebenjährigen Kind!«

»Hör auf, so was zu sagen!«, entgegnete der Vater energisch. Er klang jetzt böse. »Natürlich werden wir nicht auf der Straße sitzen. Bis ich was gefunden habe, müssen wir uns eben einschränken. Ich werde mich sicherheitshalber auf dem Sozialamt erkundigen.«

Sozialamt. Evie wusste nicht, was das war, aber als ihr Vater das Wort sagte, begann ihre Mutter noch heftiger zu weinen. Evie war versucht, in die Küche zu gehen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Aber sie blieb in ihrem Zimmer, so, wie ihr Vater es ihr gesagt hatte.

Ihre Eltern diskutierten noch eine Weile; dann irgendwann hatte sich ihre Mutter wieder gefangen.

»Abendessen ist fertig!«, rief sie über den Flur und Evie ging, mit leichtem Herzklopfen, in die Küche. Sie sah sofort, dass ihre Mutter rote und verquollene Augen hatte. Aber sie hielt es für klüger, kein Wort über das Gespräch, das sie belauscht hatte, zu verlieren.

Während des Essens schwiegen sich ihre Eltern an. Ihr Vater versuchte dies zu überspielen und Evie mit allerlei Fragen zur Schule abzulenken. Doch sie wusste, dass Mum und Dad ernste Probleme hatten.

In der Nacht wurde Evie wach. Ein lautes Geräusch hatte sie geweckt. Mit verschwommenem Blick schaute sie auf die Leuchtziffern ihres Weckers: Es war kurz nach eins. Dann bemerkte sie, dass es eine Sirene gewesen war, die sie geweckt hatte. Sie klang sehr nah und schien auch noch lauter zu werden. Evie sprang aus dem Bett und lief neugierig zum Fenster. Sie zog den schweren Vorhang zurück und schaute, sich die müden Augen reibend, hinaus.

In diesem Moment hielt unten, direkt vor dem Hauseingang, ein Krankenwagen mit blitzendem Blaulicht auf dem Dach. Zwei Männer stürmten unvermittelt mit großen Metallkoffern und einer Bare heraus und liefen ins Haus.

Was da wohl passiert war?

»Sicher ist was mit Mrs Markway«, dachte Evie noch bei sich. Die alte Frau im Stockwerk unter ihnen war schon sehr gebrechlich und vor ein paar Monaten bereits einmal vom Notarzt abgeholt worden.

Evie zog den Vorhang wieder zu und wollte gerade zurück in ihr warmes Bett schlüpfen, als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie kamen aus dem Flur.

»Hier lang!«, hörte sie ihren Vater sagen. Er klang angespannt. Schnelle Schritte huschten im nächsten Moment an ihrer Zimmertür vorbei, sie liefen in Richtung des Schlafzimmers ihrer Eltern.

Jetzt begriff Evie.

» Mum! Mum muss etwas zugestoßen sein

Mit reichlich Herzklopfen riss das Mädchen die Tür auf und lief barfuß zum Ende des Flurs. Dort blieb sie abrupt stehen.

Evies Vater stand auf der anderen Seite des Raums, in der Tür zum elterlichen Badezimmer, und hielt sich eine Hand vor den Mund. Er weinte. Evie hatte Dad noch nie weinen gesehen. Er schüttelte immer wieder den Kopf und die Tränen flossen ihm über die Hand. Seine Finger waren rot.

Die beiden Männer aus dem Krankenwagen schienen im Bad zu sein; Evie sah ihre Schatten an der angelehnten Tür.

Als ihr Dad sich umdrehte, entdeckte er Evie. Er stürzte sofort auf sie zu.

»Schatz, bitte komm! Geh in dein Zimmer, schnell!«

Er schob sie sanft, aber bestimmt in den Flur. Doch Evie wollte nicht in ihr Zimmer zurück. Sie wollte wissen, was passiert war. Sie hatte große Angst um ihre Mutter.

»Was ist mit Mum?«, fragte sie panisch. »Was ist mit ihr?«

Ihr Vater versuchte, ihren Arm zu packen, doch sie schlüpfte unter ihm hindurch.

»Evie! Nein!«, schrie er völlig aufgelöst.

Sie lief um das Bett herum zum Badezimmer. In diesem Moment kam einer der beiden Sanitäter heraus und sie stieß mit ihm zusammen. Der Mann im grünen Anzug versuchte, sie an der Schulter festzuhalten, erwischte aber nur den Stoff ihres Winnie Puh Schlafanzugs.

»Hey, Kleine. Du kannst da nicht rein!«

Aber Evie musste zu ihrer Mutter; sie musste wissen, ob es ihr gut ging. Inzwischen hatte sie die schlimmsten Befürchtungen.

»Mum? Mum?«, rief sie.

Warum hörte ihre sie Mutter nicht? Barsch schlug Evie die Hand des Mannes weg und drängte sich an ihm vorbei ins Bad. Dort war es sehr warm; Wasserdampf lag in der Luft. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen.

Der andere Mann in seiner grünen Uniform kniete auf dem Boden vor dem geöffneten Medizinkoffer und starrte Evie mit großen Augen an.

Was das Mädchen dann sah, entsetzte sie so sehr, dass sie laut zu schreien anfing und nicht mehr aufhörte: Ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen nackt in der Badewanne. Diese war zur Hälfte gefüllt mit rotem Wasser, das langsam ablief.

399
469,75 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
300 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783738036299
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают