Einst hab ich die Muse gefragt, und sie
Antwortete mir:
Am Ende wirst du es finden.
Vom Höchsten will ich schweigen.
Verbotene Frucht wie der Lorbeer ist aber
Am meisten das Vaterland. Die aber kost’
Ein jeder zuletzt.
Hölderlin
Als ich im Winter 1912 aus Italien zurückkehrte, wo ich nicht nur mein in Florenz noch immer lagerndes Hausgerät hatte nach München verfrachten wollen, sondern auch die tiefste der Lebenswunden vernarben lassen, da trug ich ein neues Schwert im Herzen. Ich wusste um den kommenden Weltkrieg.
Von dem was Völker in Zeiten kriegerischer Überreizung einander an ungerechten Beschuldigungen zufügen, dürfte hernach nicht mehr die Rede sein, denn wie könnte man sich sonst jemals wieder zusammenfinden! Darum sei hier nur des persönlichen Schmerzes gedacht, der mich bei der unausweichlichen Entdeckung ergriff, dass schon aller Völker Hand im stillen gegen uns war, und dass der Boden Italiens unter meinen Füßen schütterte.
Der italienisch-türkische Feldzug hatte das nationale Selbstgefühl bis zur Weißglut gesteigert, und in der Erbitterung über solche Stimmen unserer Tagespresse, die diesen Gefühlen keine Rechnung trugen, wurde auch Deutschland selbst als Feind betrachtet. Presse und Diplomatie der später gegen uns verbündeten Staaten bliesen ins Feuer, und das alte Missverständnis, das die Untertanen des Hauses Habsburg als Tedeschi mit den immer italienfreundlichen Reichsdeutschen zusammenwarf, kam ihnen zu Hilfe. Man durfte auf der Straße als Deutscher seine Sprache nicht mehr hören lassen und musste selbst seinen alten Freunden ausweichen, weil sie vor bebendem Kriegsfieber, das alt und jung ergriffen hatte, kein Wort der Billigkeit mehr vernahmen. Ich schied mit der Gewissheit, dass es zu einer Weltkatastrophe kommen musste und im Zwange dieses Geschehens auch zu einem Waffengang zwischen den beiden Ländern meiner Liebe.
Aber als ich nach Deutschland kam, erkannte ich mit höchstem Erstaunen, dass niemand von der Gefahr, der wir entgegengingen, die entfernteste Ahnung hatte. Niemand schien über die Grenzen hinauszudenken, und da im Inland sich alles in tiefster Friedenssicherheit wiegte, glaubte man nicht, dass es anderswo anders aussähe. Ich aber kam aus einer Stadt, in der die geistigen Ströme aller Länder zusammenflossen, und wusste um die Meinung der anderen über uns, dass wir die eigentlichen Friedensstörer wären. Es war ja so leicht, uns misszuverstehen, da wir so gar nichts taten, um verstanden zu sein. Das Pochen mit der gepanzerten Faust, das den anderen Völkern so sehr auf die Nerven ging, war das einzige, was sie als Ausdruck unserer Gesinnung wahrhaben wollten. Das Wilhelminische Deutschland hatte keinen Glauben an den Geist, nur an die Macht, in der es sich arglos gesichert glaubte. An Kulturwerbung, wie sie Frankreich mit feinstem Takt und dem reichsten Aufwand auf fremdem Boden betrieb, wurde nicht gedacht; wir hatten neben der amtlichen keine gesellschaftliche, keine kulturelle Vertretung, durch die den anderen der Zugang zu dem wahren Wesen Deutschlands leicht gemacht worden wäre. Was hätte in letzter Stunde noch geschehen können, um den Aufprall der Geister, der dem militärischen voranging, abzuschwächen? Es war zu spät, Versäumtes nachzuholen. Ich fühlte selber, dass ich wie ein Kind versuchte, den Wassersturz mit dem Strohhalm aufzuhalten; dennoch trieb es mich bei meinen Freunden von Haus zu Haus, zu mahnen und zu warnen, damit die Warnungen an zuständige Stellen weitergegeben würden, aber ich fand nur ungläubiges Lächeln und die Antwort, dass ich am hellen Tag Gespenster sähe. – Nichts hat mich jemals mehr erstaunt als der spätere unausrottbare Irrtum von Deutschlands Kriegsschuld, an die sogar Deutsche selber glaubten, da ich doch mit meinen eigenen Augen das Gegenteil gesehen hatte. Nein, Deutschland, das man den Friedensstörer nannte, hat niemals ernstlich gedroht, – es war nicht nur friedlich, es war völlig unkriegerisch gesinnt; es wollte nur seiner Arbeit und seinem Erwerb, wenn auch nicht immer mit dem besten Takt, nachgehen. Wenn es sündigte, so war’s durch allzugroße Sicherheit, durch eine vielleicht überhebliche Unterschätzung der anderen. Und bei den wenigen Wissenden, die klarer sahen, durch Liebedienerei nach oben, weil man Allerhöchsten Ortes nichts Unangenehmes hören wollte. Aber es ließ mir nicht Rast noch Ruhe, ich überwand meine tiefe Scheu vor der Berührung mit politischen Dingen und klopfte persönlich bei der Presse an um zur Einsicht in fremde Seelenverfassung, zur Schonung fremder Empfindlichkeiten zu mahnen. Ich fand kein Gehör. Den letzten Schritt unternahm ich bei meinem Freunde Weltrich, von dem ich wusste, dass er der Mann war, wo es um Deutschland ging, auch ungern gehörten Wahrheiten die Türe aufzustoßen. Aber den Zweck dieses Besuches vereitelte ein tragikomischer Zwischenfall. Ich fand den Freund noch bei der Pfeife und bei seinem schwarzen Kaffee am abgeräumten Esstisch sitzend und neben ihm auf einem Stuhl seinen Mohrle, den verwöhntesten und eifersüchtigsten Köter, den ich jemals kannte. Als ich mich setzte, knurrte er, als ich zu sprechen anhob, bellte er, als sein Herr ihn schweigen hieß, bellte er stärker, als er ihn kuschen hieß, sprang er herab und bellte so, dass man sein eigenes Wort nicht hörte. Von der Peitsche seines Herrn bedroht, verkroch er sich unter das Kanapee, und dort wurde das Gekläff noch fürchterlicher, dass der arme Weltrich, blaurot im Gesicht, sich zu Boden warf und mit dem Stock den Unhold unter dem Kanapee bedräute. Darauf erfolgte ein Wutgeheul, das unbeschreiblich war, aber zum Glück durch einen um diese Stunde erwarteten Tarockpartner unterbrochen wurde. Unter dem verebbenden Gejaule des Hundes und den Entschuldigungen des Eintretenden, machte ich mich eiligst davon, nachdem es mir nicht gelungen war, nur ein Sterbenswort von dem was mich bewegte anzubringen. Die Umstände fügten es, dass Weltrich auch später nie erfuhr, was ich damals von ihm gewollt hatte. Aber so oft ich von nun an auf einen ganz verstockten Unglauben stieß, sagte ich ergeben zu mir selber: Troja tanzt und Mohrle bellt, ich aber heiße Kassandra. Um diese Zeit fiel mir ein altes Griechenbuch in die Hände, wo ein Freund den andern warnt: »Wenn du deinen Seelenfrieden für immer verlieren willst, so mische dich in Staatshändel.« Ich nahm mir den Wink zu Herzen, als wäre er an mich gerichtet. Aber wie stillehalten in dieser Unruhe, wie mein Kunstgewebe, das ich gerade in den Händen hatte, – es war die Novelle »Cora«– zu Ende wirken, während die Schatten des Kommenden sich immer mehr über mir verdichteten? Da hörte ich von einem Weltkongreß der Archäologen, der im Frühjahr in Athen stattfinde, und dass auch Nicht-Archäologen sich daran beteiligen könnten. Augenblicklich sagte ich zu Mohl, der mir anheimgestellt hatte, über seine Zeit zu verfügen: Wir reisen nach Griechenland. Für mich war es der Fluchtweg aus der inneren Not und zugleich für beide die ersehnte Erfüllung eines Jugendtraums. Aber als wir schon hinausfuhren, durch die erwachende Frühlingslandschaft an fröhlichem Menschengewimmel vorüber, sagte ich noch einmal zu mir selber: Troja tanzt, und ich heiße Kassandra.
*
In einer vor den »Freunden des humanistischen Gymnasiums« gehaltenen Rede sagte Hugo von Hoffmannstal, dass wir auf der Reise nach Griechenland uns plötzlich von allen unseren Führern verlassen sähen; nicht einmal Goethe könne uns dorthin Geleitsmann sein. Das letztere ist ohne Zweifel richtig: nicht nur, weil sein Verlangen in Sizilien haltmachte, sondern weil er das Griechentum, wenigstens in seinen jüngeren Jahren, noch in der Beleuchtung sah, die es vom Rokoko her empfing. Und er konnte es auch gar nicht anders sehen, weil noch keine Forschungen und Grabungen bis auf die dämonische Unterschicht hinabgestoßen waren, auf der alles Griechenwesen ruht; einzig der seherische Hölderlin hatte sie schon früher erkannt. Aber warum »führerlos«? Hatten wir nicht die besten Führer an den Griechen selbst? Konnten wir schöner als unter ihrem Geleit im Piräus landen?
Meine unmittelbaren Erlebnisse in Hellas sind in ein eigenes Buch zusammengeflossen, ich darf also hier nur noch von dem dauernden Niederschlag sprechen, den sie in mir zurückgelassen haben: Wie der griechische Boden gleich bei den ersten Wanderungen das große Geheimnis von der Stileinheit alles Griechentums erschloss. Wie die Helligkeit dieser Luft die gleiche Helligkeit war, die alle Schöpfungen des griechischen Geistes ausstrahlten. Wie in dem überirdischen Adel dieser ebenso kühnen wie feingezeichneten Bergzüge und meerumbrandeten Inselprofile, die wie von größter Künstlerhand unendlich einfach und klar in den Himmel geschnitten stehen, die griechische Kunst vorgebildet war und die Gesetze der griechischen Dichtung, in der mit knappen Mitteln das Tiefste gesagt ist. Ja, dieser gleiche Gesetzgeist überall, der so gewaltig wirkt, weil er so starke Gegenkräfte zu bändigen hatte, das war Hellas! Die große Einheit, die alles Fremde anzog, aufsog, die den welterobernden Römer sich geistig unterwarf, die noch den späten Reisenden in ihren Bann zieht, dass er sich irgendwie zugehörig fühlen muss, als wäre er vor Zeiten hier als Einheimischer gewandelt, das war Hellas!
Nie habe ich in so kurzer Zeit so durchdringende und so stumme Lehren empfangen wie in den wenigen Wochen in Griechenland. Meine Auffassung der Kunst, wie ich sie aus dem Florentiner Freundeskreis, nicht ohne stille Vorbehalte, mitgebracht hatte, musste umgelernt werden. War nicht die Marées-Hildebrand-Fiedlersche Forderung dahin gegangen, dass die Kunst sich frei zu halten habe von allen außerhalb der reinen Kunstsphäre liegenden Absichten, keinen Bindungen pflichtig außer ihren eigenen Gesetzen? »Frei vom Zwange der Mitarbeit«, wie es Fiedler so schön und würdig in seiner Schilderung vom Leben Marées’ formuliert hat?
Und nun sah ich überrascht die Griechenkunst auf griechischem Boden, nicht abgelöst vom Gang der Geschichte, vom öffentlichen Leben, sondern aufs tiefste hingegeben, nicht an den Zwang, sondern an das Recht zur Mitarbeit. Hier zeugte vielmehr jeder Stein dafür, dass diese Kunst nicht um der reinen Erscheinung willen geschaffen war, dass diese Standbilder nicht als bloßer Platzschmuck beim Künstler bestellt waren. Ihr Amt war, gerade an dieser und keiner anderen Stelle ihren besonderen – religiösen oder vaterländischen – Inhalt zum Ausdruck zu bringen, und welches Amt konnte schöner sein als dem Vaterlandsboden und den Vaterlandsgöttern zu dienen! – Nicht als wären meine florentinischen Freunde, die großen und einsamen Spätlinge des neunzehnten Jahrhunderts, in einem Irrtum gewesen. Sie retteten ja die Monumentalität und den Eigenwert der Kunst vor dem Intellektualismus und dem Literatentum und allen außerkünstlerischen oder unkünstlerischen Zwecksetzungen ihrer Tage, indem sie sie allein auf sich selber stellten. Aber glücklich die Griechen, die das gar nicht nötig hatten, weil das Künstlerische für sie das Selbstverständliche war, von dem sie in ihrer großen Zeit gar nicht abirren konnten. Vielleicht war es ein Gewinn, dass ihre bildenden Künstler gar nicht für Geistesheroen, sondern nur für geschickte Handwerker angesehen wurden; das rettete sie vielleicht vor dem Spintisieren der gelehrten Welt über Sinn und Wesen der Kunst und überließ sie ihrem glücklichen Genius.
Wie sehr wurden doch diese Griechen in den Jahrhunderten der Neuzeit missverstanden, indem man sie auf den Schönheitskult festlegte, etwa so wie ihn unsere Ästheten der Vorkriegszeit betrieben. Ein so tiefer Forscher wie Bachofen stellt sie in seiner Wertung hinter die Römer zurück, weil sie nur künstlerisch, nicht staatsmännisch gedacht und gewirkt hätten, und selbst ihr heilig glühender Nachfahre Hölderlin hat ihnen einmal vorgeworfen, sie hätten ein Reich der Kunst stiften wollen und darüber das Vaterländische versäumt: »und erbärmlich ging das Griechenland, das schönste, zugrunde«. Wie anders würde er aber denken, könnte er heute Hellas bereisen, nachdem es die vollgültigen Zeugen seiner Leidenschaft und seiner Innigkeit aus seinem Schoße zurückgegeben hat. Ich denke an den blitzewerfenden Zeus, den vor wenigen Jahren das Meer um Euböa hergab – war er eine Warnung an den Erbfeind überm Meere? – Und an den Apollon in Olympia, der riesig, im kalten Götterzorn, inmitten des Kentaureneinbruchs in die lapithische Hochzeit steht, den Arm ausreckend gegen das barbarische Greuel, ein unsterblicher Kampfrichter zwischen Hellenen und Barbaren. Waren das nicht feurige Darbringungen an dieses Größere, »das Griechenland«? Mir scheint, eine solche Seelenkraft habe es in der Kunst nicht wieder gegeben bis auf die Gotik, die aber alles Gefühl ins Passive wandte und den tiefen Trostblick der leiblichen Schönheit allzugerne vermied. – O nein, nicht die Kunst der Griechen schwächte ihre Sittlichkeit, erst als die Sittlichkeit geschwächt war, entartete ihre Kunst. – –
Da wir im Anschluss an den Archäologischen Kongreß reisten, genossen wir auf griechischem Boden alle die Erleichterungen, die diesem zukamen, während die Sprachkenntnisse meines guten Kameraden und unsere alte Vertrautheit mit den Gegenständen uns die schöne Freiheit gaben, abseits von der Menge unsere eigenen Wanderwege zu gehen. Der Kyrios, wie er in der Landessprache angeredet wurde und wie er fortan für alle unsere Freunde bis an sein Lebensende heißen sollte, hatte, sobald der Ruf Nach Griechenland! an ihn erging, sich auf die Erlernung des Neugriechischen geworfen, das ihm keine Schwierigkeiten bereitete. Ich hätte gar gerne das gleiche getan, allein ich musste in aller Schnelligkeit die »Cora« beenden, die mir, wenn halbfertig zurückgeblieben, nachmals nicht mehr aus einem Guß gelungen wäre. So kam ich also sprachlich ganz unvorbereitet, denn das Altgriechische, zu dem mir in Jugendtagen dieser selbe Freund den Zugang erschlossen hatte, hing nach so langen Jahren auch nur noch an einer einzigen, schon ganz verrosteten Angel, dem Homer. Ich war also, wenigstens für die ersten Tage, völlig auf seine Verdolmetschung angewiesen, wenn ich mich auch schnell an die neuen Laute gewöhnte, die mir nichts Fremdes hatten, weil sie mich bald an das Russische bald an das Englische erinnerten (dem Kyrios, der ja bislang in Petersburg gelebt hatte, klangen sie so russisch, dass er zu meinem Ergötzen häufig auf eine griechische Frage mit dadada, dem russischen Ja antwortete, weshalb er sich’s gefallen lassen musste, von mir ein »Dadaist« genannt zu werden). War er mir im Linguistischen himmelweit überlegen, so hatte ich zu seiner Freude und beiderseitigem Nutzen das bessere Gedächtnis für die mythischen Erinnerungen beizusteuern, weil ihn sein langer anstrengender Lehrberuf, der ihm wenig Freistunden ließ, immer beim Reinphilologischen festgehalten hatte. Aber reinphilologisch bedeutete bei ihm nicht »schulmeisterhaft«, für ihn war die griechische Sprache, alle europäisch-arischen Sprachen, lebende wie sogenannte »tote«, ein einziger blühender Garten, in dessen durchsichtigem Erdreich er die Wurzeln sich verschlingen und den Nährsaft aufsteigen sah, nicht anders als der Gärtner entzückt die sichtbaren Gebilde sich entwickeln sieht, – ein Anschauungsgebiet, das mir von klein auf unendlich nahelag und auf dem ich mich in allen meinen florentinischen Jahren schmerzhaft allein gefühlt hatte, weil ganz auf den Umgang mit bildenden Künstlern angewiesen, für die nur das Sichtbare wahr ist. Mohls Leben und Weben im Altgriechischen, seine Wiedergabe des Schlusses von Faust II und anderer deutscher Gedichte, die spät nach seinem Hingang Gelehrte wie Wilamowitz in Erstaunen setzten, bestärkte mich in der Überzeugung, dass es gar keine »toten« Sprachen gibt. Das heißt, es mag ja wohl das Hethitische oder sonst eine dunkle orientalische Sprache, von der ich nichts weiß als den Namen, tot sein. Aber die zwei großen antiken Sprachen leben, nicht durch die mehr äußere Tatsache, dass sie zur Neubildung wissenschaftlicher Bezeichnungen unentbehrlich zu sein scheinen, sondern weil sie durch innere Verwandtschaft und äußere Vermittlung in unser eigenes Sprachdenken eingeflossen sind als lebendige Beispiele ihres Weiterwirkens, sodass auch solche, die sie verwerfen, unbewusst in ihrer Formung stehen. (Theodor Birt hat in seinen »Römischen Charakterköpfen« auf eine Redeweise des Pompejus Magnus hingewiesen, die genau so in unserem täglichen Sprachgebrauch fortlebt, den Ausdruck »etwas auf die lange Bank schieben«.) – Logik des Sprachdenkens klärt die Begriffe auf jedem, nicht nur auf reingeistigem Gebiet, weil sie das Werkzeug selber schärft, das dem Techniker nicht minder als dem Humanisten dient. Wir brauchen uns nicht daran zu schämen, dass unsre Urverwandten früher auf der Lebensbühne gestanden haben als wir und von einer glücklicheren Sonne begünstigt waren.
In Olympia focht es mich gewaltig an, dass das Deutsche Reich, das in den Zeiten seines großen Reichtums und Glanzes diesen Boden auszuheben begonnen hatte, später die Arbeit aus Mangel an Mitteln aufgab und das ganze Stadion unter der alten Schlammkruste des Alpheios steckenließ. Wer mir damals gesagt hätte, dass einmal der Tag einer Weltolympiade in Berlin kommen würde, an dem ein neues Deutsches Reich, nicht ein reiches sieggekröntes, sondern ein verstümmeltes, entblutetes, das sich kaum noch aus der furchtbarsten aller Niederlagen wieder erhebt, durch den Mund seines Führers das Versprechen ablegen würde, mit eigenen Opfern die heiligen Reste von Olympia vollends freizulegen, und dass dem Versprechen unmittelbar die Tat folgen würde!
Zwei Symbole seines Wesens hat sich der deutsche Genius geschaffen, den »Ritter mit Tod und Teufel« und den »Faust«. Den deutschen Charakter und die deutsche Seele: das Festgeschlossene, Unerschütterliche und das Grenzenlose, Formauflösende, das am Ende um sich selber zu begrenzen nach der Griechin Helena langt im Drang nach höchster Form. Es liegt aber noch eine verstecktere, vielleicht unbewusste Symbolik im Faust II zwischen den Zeilen; ich weiß nicht, ob sie schon beleuchtet worden ist. Dem Suchenden erscheint zunächst ihr vorgespiegeltes Trugbild, ihre äußerliche Erscheinung. Die war auch der italienischen Renaissance und dem französischen Rokoko erschienen und wirkte noch in den »heiteren« Göttern Griechenlands nach, wie der junge Goethe, wie noch Schiller sie sich vorstellte. Aber es war Spiel und Schein. Der tiefer berührte Germane verlangt mehr, er will die Heroine selbst, und er beschwört sie sich mit einer Kühnheit ohnegleichen aus dem Unbetretbaren herauf: das tragische Griechentum der Frühzeit! Dem Schöpfer der »Helena« und der »Klassischen Walpurgisnacht« war es unterdessen aufgegangen. Dass Goethe die Griechin nicht aus eigener Erfindung eingeführt, sondern sie in unserem mittelalterlichen Puppenspiel schon als die von Faust beschworene Geliebte vorgefunden hat, beweist, wie urdeutsch der Zwang zum Griechentum ist. In Gewand und Schleier der Zeustochter haben sich alle Völker geteilt, aber dem Germanen lässt es keine Ruhe, bis er die echte Helena selber umarmt: »Wer sie erkennt, der kann sie nicht entbehren.«
*
Kein Abschied ist mir je so schwer gefallen wie nach nur sechs Wochen Aufenthalt der Abschied von Griechenland. Mein lieber Kyrios, der lebenslang an eine treutätige tägliche Lehrarbeit gewöhnt war, konnte nicht so lange feiern, schweifen, nur immerzu aufnehmen, ihn verlangte wieder nach der Stille seiner Bücherwelt, um das Erlebte einzugliedern und es an ärmere, unmündige Geister weiterzugeben. Ich musste seiner Ermüdung Rechnung tragen, so schmerzlich es war zu scheiden, bevor auch nur die beiderseitigen Reisemittel aufgezehrt waren. Aber ich hielt es nur für ein Scheiden auf kurze Zeit, denn es schien mir so unmöglich Hellas wieder zu entbehren wie dem Faust die gefundene Helena. Auch mein heimwehbefallener Kamerad dachte nicht anders als wir würden übers Jahr wieder in Griechenland sein: wir waren ja beiderseits ohne Bande, und für anspruchslose Reisende waren die Kosten nicht allzu hoch. Von jeder Stelle, die uns teuer war, schieden wir auf nahes Wiedersehen. Dass ich erst einundzwanzig Jahre später und allein noch einmal wiederkehren würde, hätte ich damals nicht wissen dürfen.
Alle unsere Wanderungen auf den Spuren des Mythos und der Geschichte hatten in mir das Gefühl für den Gegensatz dieser antiken Ganzheit und Geschlossenheit zu der Zerrissenheit und Zusammenhangslosigkeit des modernen Daseins, vorab meines eigenen, vertieft. Denn seit der Kranz der Familie, der mir die größere Gemeinschaft hatte ersetzen müssen, zerrissen war, hatte ich nicht, wohin ich gehörte. In Deutschland war in den Vorkriegsjahren ein neues Geschlecht herangewachsen, unter dem ich mir wie ein Kind unter Erwachsenen vorkam, dessen Ideologien man belächelt. Sie waren alle so namenlos erwachsen. Sie hatten alle die gleiche offizielle, wie an Drähten gezogene äußere Höflichkeit, die von jeder Herzenshöflichkeit meilenweit entfernt war, und kühle Augen, in denen nichts zu lesen stand als das Wörtchen Ich. Später haben sie bewiesen, dass sie auch anders konnten, aber davon war ihnen zur Zeit nichts anzumerken. Der überhebliche Literat, der Leutnant mit dem gesteiften Schnurrbart, der Referendar, der nach einer reichen Mitgift Ausschau hielt, beherrschten die bürgerliche Gesellschaft. Eine liebeleere künstliche Kunstübung hatte die wurzelechte deutsche Dichtung verdrängt und machte die kalten Herzen noch kälter. Das Altsein der Jugend war es, was mich am meisten entsetzte. Ich zweifelte, wo sich’s überhaupt für mich werde leben lassen, seit ich meiner schweren Pflichten entbunden war.
Beim letzten Gang auf der Gräberstraße am Dipylon legte ich den großen Toten meine Sache ans Herz, und diese gaben mich mit einer prophetischen Geste meinem Vaterlande zurück:
Um den Erdkreis wandle dein Geist, so rief’s aus den Gräbern,
Aber den Deinen gib liebend und zürnend dein Herz.
Opfre den Göttern des Vätergefilds und werde der Heimat
Besseres Kind, bei ihr suche du Stätte und Ziel.
Fühle der Freiheit Stolz in willig getragenen Banden
Und erhalte dein Herz stark für den künftigen Tag.
Einheit wächst aus der Not – sie kommt euch, geh sie zu teilen
Und im eigenen Grund lernst du zu wurzeln wie wir.
Diese Worte, 1913 in der »Elegie in Griechenland« niedergeschrieben, waren für mich der Auftakt zu dem, was ein Jahr später Wahrheit werden sollte.
Das Jahr 1913, das mir für seinen Ausgang die tröstliche Genugtuung der Hundertjahrfeier meines Vaters und meine eigene, damals für Frauen sehr ungewöhnliche Auszeichnung mit dem Doktorhut vorbehielt, sollte mit einem sehr empfindlichen Verluste beginnen. Es beraubte mich eines meiner besten und unermüdlichsten Freunde: am 2. Januar starb Richard Weltrich. Der Ruhmeskranz, den dieser feurige Geist sich selbst mit seinem großen Schiller-Werk zu flechten gedachte, kam nicht zustande, und wie der Kreis der überlebenden Freunde sich lichtet, verwischt die Zeit auch die persönlichen Spuren einer der ausgeprägtesten und lebensvollsten Erscheinungen, die mir begegnet sind. Wenn ich nur die Schriftzüge, die seinen Namen bildeten, vor mir sehe, so blickt mir daraus Richard Weltrich leibhaft entgegen, ein Beweis, welch eigentümliche Persönlichkeit derjenige gewesen ist, der dem Namen diesen kräftigen Stempel aufgedrückt hat. Da scheint es Freundespflicht, noch einmal das Gedächtnis eines Mannes aufzufrischen, dessen großes standhaftes Wollen und unausgesetzte Tätigkeit durch einen merkwürdigen, urdeutschen Mangel an Begrenzung ihr Ziel verfehlten, sodass er nach einem langen, arbeitsreichen, geisterfüllten Dasein fast nur Bruchstücke hinterlassen hat. Ich werde seinem Bild am besten gerecht, wenn ich mich dabei an meinen noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Persönlichkeit für die Frankfurter Zeitung geschriebenen Nachruf anlehne.
Es war im Frühjahr 1896, dass ich Richard Weltrich bei meinem Bruder Erwin in München, wo auch er seinen Wohnsitz hatte, zum ersten Mal sah: eine große gebietende Gestalt von urgermanischem Schlag mit edlem Schädelbau und kräftig schönen Zügen, aus denen es wie von innerem Feuer loderte. Die blauen Augen von fast überstarkem Glanz, der rote wehende Bart, das rötliche Gesicht, alles an ihm schien zu flammen. Er hielt jenes Abends durch seine lebendige Geistesfülle die kleine Gesellschaft bis zwei Uhr beisammen und hatte sich, als man aufbrach, noch lange nicht ausgegeben, sondern blieb im Familienkreis bis Tagesanbruch sitzen, durch den Morgenkaffee der Hausfrau zu neuer Ergiebigkeit angeregt.
Weltrichs gesellschaftliche Liebenswürdigkeit musste auch bei der oberflächlichsten Bekanntschaft für ihn einnehmen, denn so umfassend sein Fachwissen war, nie beschwerte er damit den leichten Flug der Unterhaltung, er nahm ebenso willig, wie er gab, hielt streng auf gute Formen und war immer auch für einen Scherz zu haben. Aber wer ihm nähertrat, der fand unendlich mehr: einen Menschen voll Wärme und Zartgefühl und von unerschütterlicher Zuverlässigkeit, immer zu Rat und Hilfe willig, eine rüstige Kampfnatur, ganz von Überzeugung durchdrungen, aber dennoch jedes Gefühl schonend, gegen jedes Unrecht aufs heftigste empört und stets bereit, für den Schwächeren einzutreten, vor allem auch für die verfolgte und gequälte Tierwelt.
Gebürtig war er aus Ansbach, also aus dem fränkischen Stammgebiet, wo es sich dem schwäbischen nähert; die kleine ehemalige Residenzstadt, über der noch der geheimnisvolle Schatten Kaspar Hausers schwebte, für den Weltrich lebenslang mit Wärme eintrat, hat gewiss stilgebend auf das Wesen des Knaben eingewirkt. Als Kind einer früheren Zeit, die den wilden wirtschaftlichen Kampf nicht kannte, stand er vornehm abseits von allem Rennen und Jagen und gönnte sich bei bescheidenem Auskommen den höchsten Luxus, eine Seele zu haben, die dem Ideal gehörte. Es ist kälter und unwirtlicher auf unserer Erde geworden, seit ihr diese beseelteren Angesichter zu fehlen begannen.
Am anziehendsten gab sich Weltrich in der freien Natur, in seiner deutschen Natur, die er mehr als jede andere liebte, besonders auf Berg- und Waldpfaden, wo er gern den Führer machte. Dann wanderte die deutsche Dichtung und Sage mit, und ein leiser mystischer Zug, den er wie jeder fantasievolle Mensch in sich trug, doch ohne ihm die Oberhand zu lassen, erweiterte die Grenzen der Dinge. Ich habe nicht viele Menschen gekannt, mit denen man so stille abseitige Gedanken tauschen konnte wie mit Weltrich. Da geschah es nicht selten, dass der Führer im Feuer der Unterredung Weg und Steg verlor, was indessen der Stimmung nicht schadete und häufig zur Entdeckung neuer Naturschönheiten führte. Hatte man sich dann mit Mühe wieder zurechtgefunden, so konnte er wohl befriedigt sagen: Nun geben Sie zu, dass ich Sie heute gut geführt habe! Denn er tat sich auf seinen Ortssinn, der bei ganz nach innen blickenden Naturen gewöhnlich nicht allzu groß ist, etwas Besonderes zugute. Unvergessen bleibt mir, wie er auf einem dieser Gänge ein Bändchen Lyrik von Martin Greif aus der Tasche zog, den ich fast gar nicht kannte, und mir Gedichte vorlas, die jene Waldesstille selber gedichtet zu haben schien. Weltrich war wenig über die Grenzen Deutschlands hinausgekommen, und es fiel ihm schwer, fremden Erscheinungen gerecht zu werden – dies war einer der wenigen Punkte, auf denen wir uns niemals verständigen konnten –, selbst in das nahe Italien hat er nur zweimal den Fuß gesetzt, und es war leicht zu verstehen, dass ihm bei seiner ganzen Art und Weise die lichtere Schönheit des Südens wenig zu sagen hatte. Man hätte ihm ein Glücksbewusstsein gestört, hätte man ihm in solchen Augenblicken den oft mit Nachdruck aufgestellten Satz bestreiten wollen, dass es nur in Deutschland solche Wälder und Berge, solche Naturstimmen, solche Stimmungslyrik geben könne.