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Sechzehntes Kapitel – Vorboten

Einst hab ich die Muse ge­fragt, und sie

Ant­wor­te­te mir:

Am Ende wirst du es fin­den.

Vom Höchs­ten will ich schwei­gen.

Ver­bo­te­ne Frucht wie der Lor­beer ist aber

Am meis­ten das Va­ter­land. Die aber kost’

Ein je­der zu­letzt.

Höl­der­lin

Als ich im Win­ter 1912 aus Ita­li­en zu­rück­kehr­te, wo ich nicht nur mein in Flo­renz noch im­mer la­gern­des Haus­ge­rät hat­te nach Mün­chen ver­frach­ten wol­len, son­dern auch die tiefs­te der Le­bens­wun­den ver­nar­ben las­sen, da trug ich ein neu­es Schwert im Her­zen. Ich wuss­te um den kom­men­den Welt­krieg.

Von dem was Völ­ker in Zei­ten krie­ge­ri­scher Über­rei­zung ein­an­der an un­ge­rech­ten Be­schul­di­gun­gen zu­fü­gen, dürf­te her­nach nicht mehr die Rede sein, denn wie könn­te man sich sonst je­mals wie­der zu­sam­men­fin­den! Da­rum sei hier nur des per­sön­li­chen Schmer­zes ge­dacht, der mich bei der un­aus­weich­li­chen Ent­de­ckung er­griff, dass schon al­ler Völ­ker Hand im stil­len ge­gen uns war, und dass der Bo­den Ita­li­ens un­ter mei­nen Fü­ßen schüt­ter­te.

Der ita­lie­nisch-tür­ki­sche Feld­zug hat­te das na­tio­na­le Selbst­ge­fühl bis zur Weiß­glut ge­stei­gert, und in der Er­bit­te­rung über sol­che Stim­men un­se­rer Ta­ge­spres­se, die die­sen Ge­füh­len kei­ne Rech­nung tru­gen, wur­de auch Deutsch­land selbst als Feind be­trach­tet. Pres­se und Di­plo­ma­tie der spä­ter ge­gen uns ver­bün­de­ten Staa­ten blie­sen ins Feu­er, und das alte Miss­ver­ständ­nis, das die Un­ter­ta­nen des Hau­ses Habs­burg als Te­de­schi mit den im­mer ita­li­en­freund­li­chen Reichs­deut­schen zu­sam­men­warf, kam ih­nen zu Hil­fe. Man durf­te auf der Stra­ße als Deut­scher sei­ne Spra­che nicht mehr hö­ren las­sen und muss­te selbst sei­nen al­ten Freun­den aus­wei­chen, weil sie vor be­ben­dem Kriegs­fie­ber, das alt und jung er­grif­fen hat­te, kein Wort der Bil­lig­keit mehr ver­nah­men. Ich schied mit der Ge­wiss­heit, dass es zu ei­ner Welt­ka­ta­stro­phe kom­men muss­te und im Zwan­ge die­ses Ge­sche­hens auch zu ei­nem Waf­fen­gang zwi­schen den bei­den Län­dern mei­ner Lie­be.

Aber als ich nach Deutsch­land kam, er­kann­te ich mit höchs­tem Er­stau­nen, dass nie­mand von der Ge­fahr, der wir ent­ge­gen­gin­gen, die ent­fern­tes­te Ah­nung hat­te. Nie­mand schi­en über die Gren­zen hin­aus­zu­den­ken, und da im In­land sich al­les in tiefs­ter Frie­dens­si­cher­heit wieg­te, glaub­te man nicht, dass es an­ders­wo an­ders aus­sä­he. Ich aber kam aus ei­ner Stadt, in der die geis­ti­gen Strö­me al­ler Län­der zu­sam­men­flos­sen, und wuss­te um die Mei­nung der an­de­ren über uns, dass wir die ei­gent­li­chen Frie­dens­stö­rer wä­ren. Es war ja so leicht, uns miss­zu­ver­ste­hen, da wir so gar nichts ta­ten, um ver­stan­den zu sein. Das Po­chen mit der ge­pan­zer­ten Faust, das den an­de­ren Völ­kern so sehr auf die Ner­ven ging, war das ein­zi­ge, was sie als Aus­druck un­se­rer Ge­sin­nung wahr­ha­ben woll­ten. Das Wil­hel­mi­ni­sche Deutsch­land hat­te kei­nen Glau­ben an den Geist, nur an die Macht, in der es sich arg­los ge­si­chert glaub­te. An Kul­tur­wer­bung, wie sie Frank­reich mit feins­tem Takt und dem reichs­ten Auf­wand auf frem­dem Bo­den be­trieb, wur­de nicht ge­dacht; wir hat­ten ne­ben der amt­li­chen kei­ne ge­sell­schaft­li­che, kei­ne kul­tu­rel­le Ver­tre­tung, durch die den an­de­ren der Zu­gang zu dem wah­ren We­sen Deutsch­lands leicht ge­macht wor­den wäre. Was hät­te in letz­ter Stun­de noch ge­sche­hen kön­nen, um den Auf­prall der Geis­ter, der dem mi­li­tä­ri­schen vor­an­ging, ab­zu­schwä­chen? Es war zu spät, Ver­säum­tes nach­zu­ho­len. Ich fühl­te sel­ber, dass ich wie ein Kind ver­such­te, den Was­ser­sturz mit dem Stroh­halm auf­zu­hal­ten; den­noch trieb es mich bei mei­nen Freun­den von Haus zu Haus, zu mah­nen und zu war­nen, da­mit die War­nun­gen an zu­stän­di­ge Stel­len wei­ter­ge­ge­ben wür­den, aber ich fand nur un­gläu­bi­ges Lä­cheln und die Ant­wort, dass ich am hel­len Tag Ge­s­pens­ter sähe. – Nichts hat mich je­mals mehr er­staunt als der spä­te­re un­aus­rott­ba­re Irr­tum von Deutsch­lands Kriegs­schuld, an die so­gar Deut­sche sel­ber glaub­ten, da ich doch mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen das Ge­gen­teil ge­se­hen hat­te. Nein, Deutsch­land, das man den Frie­dens­stö­rer nann­te, hat nie­mals ernst­lich ge­droht, – es war nicht nur fried­lich, es war völ­lig un­krie­ge­risch ge­sinnt; es woll­te nur sei­ner Ar­beit und sei­nem Er­werb, wenn auch nicht im­mer mit dem bes­ten Takt, nach­ge­hen. Wenn es sün­dig­te, so war’s durch all­zu­große Si­cher­heit, durch eine viel­leicht über­heb­li­che Un­ter­schät­zung der an­de­ren. Und bei den we­ni­gen Wis­sen­den, die kla­rer sa­hen, durch Lie­be­die­ne­rei nach oben, weil man Al­ler­höchs­ten Or­tes nichts Un­an­ge­neh­mes hö­ren woll­te. Aber es ließ mir nicht Rast noch Ruhe, ich über­wand mei­ne tie­fe Scheu vor der Berüh­rung mit po­li­ti­schen Din­gen und klopf­te per­sön­lich bei der Pres­se an um zur Ein­sicht in frem­de See­len­ver­fas­sung, zur Scho­nung frem­der Emp­find­lich­kei­ten zu mah­nen. Ich fand kein Ge­hör. Den letz­ten Schritt un­ter­nahm ich bei mei­nem Freun­de Wel­trich, von dem ich wuss­te, dass er der Mann war, wo es um Deutsch­land ging, auch un­gern ge­hör­ten Wahr­hei­ten die Türe auf­zu­sto­ßen. Aber den Zweck die­ses Be­su­ches ver­ei­tel­te ein tra­gi­ko­mi­scher Zwi­schen­fall. Ich fand den Freund noch bei der Pfei­fe und bei sei­nem schwar­zen Kaf­fee am ab­ge­räum­ten Ess­tisch sit­zend und ne­ben ihm auf ei­nem Stuhl sei­nen Mohr­le, den ver­wöhn­tes­ten und ei­fer­süch­tigs­ten Kö­ter, den ich je­mals kann­te. Als ich mich setz­te, knurr­te er, als ich zu spre­chen an­hob, bell­te er, als sein Herr ihn schwei­gen hieß, bell­te er stär­ker, als er ihn ku­schen hieß, sprang er her­ab und bell­te so, dass man sein ei­ge­nes Wort nicht hör­te. Von der Peit­sche sei­nes Herrn be­droht, ver­kroch er sich un­ter das Kana­pee, und dort wur­de das Ge­kläff noch fürch­ter­li­cher, dass der arme Wel­trich, blau­rot im Ge­sicht, sich zu Bo­den warf und mit dem Stock den Un­hold un­ter dem Kana­pee be­dräu­te. Da­rauf er­folg­te ein Wut­ge­heul, das un­be­schreib­lich war, aber zum Glück durch einen um die­se Stun­de er­war­te­ten Tarock­part­ner un­ter­bro­chen wur­de. Un­ter dem ver­eb­ben­den Ge­jau­le des Hun­des und den Ent­schul­di­gun­gen des Ein­tre­ten­den, mach­te ich mich ei­ligst da­von, nach­dem es mir nicht ge­lun­gen war, nur ein Ster­bens­wort von dem was mich be­weg­te an­zu­brin­gen. Die Um­stän­de füg­ten es, dass Wel­trich auch spä­ter nie er­fuhr, was ich da­mals von ihm ge­wollt hat­te. Aber so oft ich von nun an auf einen ganz ver­stock­ten Un­glau­ben stieß, sag­te ich er­ge­ben zu mir sel­ber: Tro­ja tanzt und Mohr­le bellt, ich aber hei­ße Kas­san­dra. Um die­se Zeit fiel mir ein al­tes Grie­chen­buch in die Hän­de, wo ein Freund den an­dern warnt: »Wenn du dei­nen See­len­frie­den für im­mer ver­lie­ren willst, so mi­sche dich in Staats­hän­del.« Ich nahm mir den Wink zu Her­zen, als wäre er an mich ge­rich­tet. Aber wie stil­le­hal­ten in die­ser Un­ru­he, wie mein Kunst­ge­we­be, das ich ge­ra­de in den Hän­den hat­te, – es war die No­vel­le »Cora«– zu Ende wir­ken, wäh­rend die Schat­ten des Kom­men­den sich im­mer mehr über mir ver­dich­te­ten? Da hör­te ich von ei­nem Welt­kon­greß der Archäo­lo­gen, der im Früh­jahr in Athen statt­fin­de, und dass auch Nicht-Archäo­lo­gen sich dar­an be­tei­li­gen könn­ten. Au­gen­blick­lich sag­te ich zu Mohl, der mir an­heim­ge­stellt hat­te, über sei­ne Zeit zu ver­fü­gen: Wir rei­sen nach Grie­chen­land. Für mich war es der Flucht­weg aus der in­ne­ren Not und zu­gleich für bei­de die er­sehn­te Er­fül­lung ei­nes Ju­gendtraums. Aber als wir schon hin­aus­fuh­ren, durch die er­wa­chen­de Früh­lings­land­schaft an fröh­li­chem Men­schen­ge­wim­mel vor­über, sag­te ich noch ein­mal zu mir sel­ber: Tro­ja tanzt, und ich hei­ße Kas­san­dra.

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In ei­ner vor den »Freun­den des hu­ma­nis­ti­schen Gym­na­si­ums« ge­hal­te­nen Rede sag­te Hugo von Hoff­mann­stal, dass wir auf der Rei­se nach Grie­chen­land uns plötz­lich von al­len un­se­ren Füh­rern ver­las­sen sä­hen; nicht ein­mal Goe­the kön­ne uns dort­hin Ge­leits­mann sein. Das letz­te­re ist ohne Zwei­fel rich­tig: nicht nur, weil sein Ver­lan­gen in Si­zi­li­en halt­mach­te, son­dern weil er das Grie­chen­tum, we­nigs­tens in sei­nen jün­ge­ren Jah­ren, noch in der Be­leuch­tung sah, die es vom Ro­ko­ko her emp­fing. Und er konn­te es auch gar nicht an­ders se­hen, weil noch kei­ne For­schun­gen und Gra­bun­gen bis auf die dä­mo­ni­sche Un­ter­schicht hin­ab­ge­sto­ßen wa­ren, auf der al­les Grie­chen­we­sen ruht; ein­zig der se­he­ri­sche Höl­der­lin hat­te sie schon frü­her er­kannt. Aber warum »füh­rer­los«? Hat­ten wir nicht die bes­ten Füh­rer an den Grie­chen selbst? Konn­ten wir schö­ner als un­ter ih­rem Ge­leit im Pi­rä­us lan­den?

Mei­ne un­mit­tel­ba­ren Er­leb­nis­se in Hel­las sind in ein ei­ge­nes Buch zu­sam­men­ge­flos­sen, ich darf also hier nur noch von dem dau­ern­den Nie­der­schlag spre­chen, den sie in mir zu­rück­ge­las­sen ha­ben: Wie der grie­chi­sche Bo­den gleich bei den ers­ten Wan­de­run­gen das große Ge­heim­nis von der Sti­lein­heit al­les Grie­chen­tums er­schloss. Wie die Hel­lig­keit die­ser Luft die glei­che Hel­lig­keit war, die alle Schöp­fun­gen des grie­chi­schen Geis­tes aus­strahl­ten. Wie in dem über­ir­di­schen Adel die­ser eben­so küh­nen wie fein­ge­zeich­ne­ten Ber­g­zü­ge und mee­rum­bran­de­ten In­sel­pro­fi­le, die wie von größ­ter Künst­ler­hand un­end­lich ein­fach und klar in den Him­mel ge­schnit­ten ste­hen, die grie­chi­sche Kunst vor­ge­bil­det war und die Ge­set­ze der grie­chi­schen Dich­tung, in der mit knap­pen Mit­teln das Tiefs­te ge­sagt ist. Ja, die­ser glei­che Ge­setz­geist über­all, der so ge­wal­tig wirkt, weil er so star­ke Ge­gen­kräf­te zu bän­di­gen hat­te, das war Hel­las! Die große Ein­heit, die al­les Frem­de an­zog, auf­sog, die den welterobern­den Rö­mer sich geis­tig un­ter­warf, die noch den spä­ten Rei­sen­den in ih­ren Bann zieht, dass er sich ir­gend­wie zu­ge­hö­rig füh­len muss, als wäre er vor Zei­ten hier als Ein­hei­mi­scher ge­wan­delt, das war Hel­las!

Nie habe ich in so kur­z­er Zeit so durch­drin­gen­de und so stum­me Leh­ren emp­fan­gen wie in den we­ni­gen Wo­chen in Grie­chen­land. Mei­ne Auf­fas­sung der Kunst, wie ich sie aus dem Flo­ren­ti­ner Freun­des­kreis, nicht ohne stil­le Vor­be­hal­te, mit­ge­bracht hat­te, muss­te um­ge­lernt wer­den. War nicht die Marées-Hil­de­brand-Fied­ler­sche For­de­rung da­hin ge­gan­gen, dass die Kunst sich frei zu hal­ten habe von al­len au­ßer­halb der rei­nen Kunst­sphä­re lie­gen­den Ab­sich­ten, kei­nen Bin­dun­gen pflich­tig au­ßer ih­ren ei­ge­nen Ge­set­zen? »Frei vom Zwan­ge der Mit­ar­beit«, wie es Fied­ler so schön und wür­dig in sei­ner Schil­de­rung vom Le­ben Marées’ for­mu­liert hat?

Und nun sah ich über­rascht die Grie­chen­kunst auf grie­chi­schem Bo­den, nicht ab­ge­löst vom Gang der Ge­schich­te, vom öf­fent­li­chen Le­ben, son­dern aufs tiefs­te hin­ge­ge­ben, nicht an den Zwang, son­dern an das Recht zur Mit­ar­beit. Hier zeug­te viel­mehr je­der Stein da­für, dass die­se Kunst nicht um der rei­nen Er­schei­nung wil­len ge­schaf­fen war, dass die­se Stand­bil­der nicht als blo­ßer Platz­schmuck beim Künst­ler be­stellt wa­ren. Ihr Amt war, ge­ra­de an die­ser und kei­ner an­de­ren Stel­le ih­ren be­son­de­ren – re­li­gi­ösen oder va­ter­län­di­schen – In­halt zum Aus­druck zu brin­gen, und wel­ches Amt konn­te schö­ner sein als dem Va­ter­lands­bo­den und den Va­ter­lands­göt­tern zu die­nen! – Nicht als wä­ren mei­ne flo­ren­ti­ni­schen Freun­de, die großen und ein­sa­men Spät­lin­ge des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts, in ei­nem Irr­tum ge­we­sen. Sie ret­te­ten ja die Mo­nu­men­ta­li­tät und den Ei­gen­wert der Kunst vor dem In­tel­lek­tua­lis­mus und dem Li­te­ra­ten­tum und al­len au­ßer­künst­le­ri­schen oder un­künst­le­ri­schen Zweck­set­zun­gen ih­rer Tage, in­dem sie sie al­lein auf sich sel­ber stell­ten. Aber glück­lich die Grie­chen, die das gar nicht nö­tig hat­ten, weil das Künst­le­ri­sche für sie das Selbst­ver­ständ­li­che war, von dem sie in ih­rer großen Zeit gar nicht ab­ir­ren konn­ten. Vi­el­leicht war es ein Ge­winn, dass ihre bil­den­den Künst­ler gar nicht für Geis­tes­he­ro­en, son­dern nur für ge­schick­te Hand­wer­ker an­ge­se­hen wur­den; das ret­te­te sie viel­leicht vor dem Spin­ti­sie­ren der ge­lehr­ten Welt über Sinn und We­sen der Kunst und über­ließ sie ih­rem glück­li­chen Ge­ni­us.

Wie sehr wur­den doch die­se Grie­chen in den Jahr­hun­der­ten der Neu­zeit miss­ver­stan­den, in­dem man sie auf den Schön­heits­kult fest­leg­te, etwa so wie ihn un­se­re Äs­the­ten der Vor­kriegs­zeit be­trie­ben. Ein so tiefer For­scher wie Ba­cho­fen stellt sie in sei­ner Wer­tung hin­ter die Rö­mer zu­rück, weil sie nur künst­le­risch, nicht staats­män­nisch ge­dacht und ge­wirkt hät­ten, und selbst ihr hei­lig glü­hen­der Nach­fah­re Höl­der­lin hat ih­nen ein­mal vor­ge­wor­fen, sie hät­ten ein Reich der Kunst stif­ten wol­len und dar­über das Va­ter­län­di­sche ver­säumt: »und er­bärm­lich ging das Grie­chen­land, das schöns­te, zu­grun­de«. Wie an­ders wür­de er aber den­ken, könn­te er heu­te Hel­las be­rei­sen, nach­dem es die voll­gül­ti­gen Zeu­gen sei­ner Lei­den­schaft und sei­ner In­nig­keit aus sei­nem Scho­ße zu­rück­ge­ge­ben hat. Ich den­ke an den blit­ze­wer­fen­den Zeus, den vor we­ni­gen Jah­ren das Meer um Eu­böa her­gab – war er eine War­nung an den Erb­feind überm Mee­re? – Und an den Apol­lon in Olym­pia, der rie­sig, im kal­ten Göt­ter­zorn, in­mit­ten des Ken­tau­ren­ein­bruchs in die la­pi­thi­sche Hoch­zeit steht, den Arm aus­re­ckend ge­gen das bar­ba­ri­sche Greu­el, ein un­s­terb­li­cher Kampf­rich­ter zwi­schen Hel­le­nen und Bar­ba­ren. Wa­ren das nicht feu­ri­ge Dar­brin­gun­gen an die­ses Grö­ße­re, »das Grie­chen­land«? Mir scheint, eine sol­che See­len­kraft habe es in der Kunst nicht wie­der ge­ge­ben bis auf die Go­tik, die aber al­les Ge­fühl ins Pas­si­ve wand­te und den tie­fen Trost­blick der leib­li­chen Schön­heit all­zu­ger­ne ver­mied. – O nein, nicht die Kunst der Grie­chen schwäch­te ihre Sitt­lich­keit, erst als die Sitt­lich­keit ge­schwächt war, ent­ar­te­te ihre Kunst. – –

Da wir im An­schluss an den Archäo­lo­gi­schen Kon­greß reis­ten, ge­nos­sen wir auf grie­chi­schem Bo­den alle die Er­leich­te­run­gen, die die­sem zu­ka­men, wäh­rend die Sprach­kennt­nis­se mei­nes gu­ten Ka­me­ra­den und un­se­re alte Ver­traut­heit mit den Ge­gen­stän­den uns die schö­ne Frei­heit ga­ben, ab­seits von der Men­ge un­se­re ei­ge­nen Wan­der­we­ge zu ge­hen. Der Ky­ri­os, wie er in der Lan­des­s­pra­che an­ge­re­det wur­de und wie er fort­an für alle un­se­re Freun­de bis an sein Le­bens­en­de hei­ßen soll­te, hat­te, so­bald der Ruf Nach Grie­chen­land! an ihn er­ging, sich auf die Er­ler­nung des Neu­grie­chi­schen ge­wor­fen, das ihm kei­ne Schwie­rig­kei­ten be­rei­te­te. Ich hät­te gar ger­ne das glei­che ge­tan, al­lein ich muss­te in al­ler Schnel­lig­keit die »Cora« be­en­den, die mir, wenn halb­fer­tig zu­rück­ge­blie­ben, nach­mals nicht mehr aus ei­nem Guß ge­lun­gen wäre. So kam ich also sprach­lich ganz un­vor­be­rei­tet, denn das Alt­grie­chi­sche, zu dem mir in Ju­gend­ta­gen die­ser sel­be Freund den Zu­gang er­schlos­sen hat­te, hing nach so lan­gen Jah­ren auch nur noch an ei­ner ein­zi­gen, schon ganz ver­ros­te­ten An­gel, dem Ho­mer. Ich war also, we­nigs­tens für die ers­ten Tage, völ­lig auf sei­ne Ver­dol­met­schung an­ge­wie­sen, wenn ich mich auch schnell an die neu­en Lau­te ge­wöhn­te, die mir nichts Frem­des hat­ten, weil sie mich bald an das Rus­si­sche bald an das Eng­li­sche er­in­ner­ten (dem Ky­ri­os, der ja bis­lang in Pe­ters­burg ge­lebt hat­te, klan­gen sie so rus­sisch, dass er zu mei­nem Er­göt­zen häu­fig auf eine grie­chi­sche Fra­ge mit da­da­da, dem rus­si­schen Ja ant­wor­te­te, wes­halb er sich’s ge­fal­len las­sen muss­te, von mir ein »Da­daist« ge­nannt zu wer­den). War er mir im Lin­guis­ti­schen him­mel­weit über­le­gen, so hat­te ich zu sei­ner Freu­de und bei­der­sei­ti­gem Nut­zen das bes­se­re Ge­dächt­nis für die my­thi­schen Erin­ne­run­gen bei­zu­steu­ern, weil ihn sein lan­ger an­stren­gen­der Lehr­be­ruf, der ihm we­nig Frei­stun­den ließ, im­mer beim Rein­phi­lo­lo­gi­schen fest­ge­hal­ten hat­te. Aber rein­phi­lo­lo­gisch be­deu­te­te bei ihm nicht »schul­meis­ter­haft«, für ihn war die grie­chi­sche Spra­che, alle eu­ro­pä­isch-ari­schen Spra­chen, le­ben­de wie so­ge­nann­te »tote«, ein ein­zi­ger blü­hen­der Gar­ten, in des­sen durch­sich­ti­gem Erd­reich er die Wur­zeln sich ver­schlin­gen und den Nähr­saft auf­stei­gen sah, nicht an­ders als der Gärt­ner ent­zückt die sicht­ba­ren Ge­bil­de sich ent­wi­ckeln sieht, – ein An­schau­ungs­ge­biet, das mir von klein auf un­end­lich na­he­lag und auf dem ich mich in al­len mei­nen flo­ren­ti­ni­schen Jah­ren schmerz­haft al­lein ge­fühlt hat­te, weil ganz auf den Um­gang mit bil­den­den Künst­lern an­ge­wie­sen, für die nur das Sicht­ba­re wahr ist. Mohls Le­ben und We­ben im Alt­grie­chi­schen, sei­ne Wie­der­ga­be des Schlus­ses von Faust II und an­de­rer deut­scher Ge­dich­te, die spät nach sei­nem Hin­gang Ge­lehr­te wie Wila­mo­witz in Er­stau­nen setz­ten, be­stärk­te mich in der Über­zeu­gung, dass es gar kei­ne »to­ten« Spra­chen gibt. Das heißt, es mag ja wohl das Hethi­ti­sche oder sonst eine dunkle ori­en­ta­li­sche Spra­che, von der ich nichts weiß als den Na­men, tot sein. Aber die zwei großen an­ti­ken Spra­chen le­ben, nicht durch die mehr äu­ße­re Tat­sa­che, dass sie zur Neu­bil­dung wis­sen­schaft­li­cher Be­zeich­nun­gen un­ent­behr­lich zu sein schei­nen, son­dern weil sie durch in­ne­re Ver­wandt­schaft und äu­ße­re Ver­mitt­lung in un­ser ei­ge­nes Sprach­den­ken ein­ge­flos­sen sind als le­ben­di­ge Bei­spie­le ih­res Wei­ter­wir­kens, so­dass auch sol­che, die sie ver­wer­fen, un­be­wusst in ih­rer For­mung ste­hen. (Theo­dor Birt hat in sei­nen »Rö­mi­schen Cha­rak­ter­köp­fen« auf eine Re­de­wei­se des Pom­pe­jus Ma­g­nus hin­ge­wie­sen, die ge­nau so in un­se­rem täg­li­chen Sprach­ge­brauch fort­lebt, den Aus­druck »et­was auf die lan­ge Bank schie­ben«.) – Lo­gik des Sprach­den­kens klärt die Be­grif­fe auf je­dem, nicht nur auf rein­geis­ti­gem Ge­biet, weil sie das Werk­zeug sel­ber schärft, das dem Tech­ni­ker nicht min­der als dem Hu­ma­nis­ten dient. Wir brau­chen uns nicht dar­an zu schä­men, dass uns­re Ur­ver­wand­ten frü­her auf der Le­bens­büh­ne ge­stan­den ha­ben als wir und von ei­ner glück­li­che­ren Son­ne be­güns­tigt wa­ren.

In Olym­pia focht es mich ge­wal­tig an, dass das Deut­sche Reich, das in den Zei­ten sei­nes großen Reich­tums und Glan­zes die­sen Bo­den aus­zu­he­ben be­gon­nen hat­te, spä­ter die Ar­beit aus Man­gel an Mit­teln auf­gab und das gan­ze Sta­di­on un­ter der al­ten Schlamm­krus­te des Al­phei­os ste­cken­ließ. Wer mir da­mals ge­sagt hät­te, dass ein­mal der Tag ei­ner Wel­t­olym­pia­de in Ber­lin kom­men wür­de, an dem ein neu­es Deut­sches Reich, nicht ein rei­ches sieg­ge­krön­tes, son­dern ein ver­stüm­mel­tes, ent­blu­te­tes, das sich kaum noch aus der furcht­bars­ten al­ler Nie­der­la­gen wie­der er­hebt, durch den Mund sei­nes Füh­rers das Ver­spre­chen ab­le­gen wür­de, mit ei­ge­nen Op­fern die hei­li­gen Res­te von Olym­pia vollends frei­zu­le­gen, und dass dem Ver­spre­chen un­mit­tel­bar die Tat fol­gen wür­de!

Zwei Sym­bo­le sei­nes We­sens hat sich der deut­sche Ge­ni­us ge­schaf­fen, den »Rit­ter mit Tod und Teu­fel« und den »Faust«. Den deut­schen Cha­rak­ter und die deut­sche See­le: das Fest­ge­schlos­se­ne, Uner­schüt­ter­li­che und das Gren­zen­lo­se, Form­auf­lö­sen­de, das am Ende um sich sel­ber zu be­gren­zen nach der Grie­chin He­le­na langt im Drang nach höchs­ter Form. Es liegt aber noch eine ver­steck­tere, viel­leicht un­be­wuss­te Sym­bo­lik im Faust II zwi­schen den Zei­len; ich weiß nicht, ob sie schon be­leuch­tet wor­den ist. Dem Su­chen­den er­scheint zu­nächst ihr vor­ge­spie­gel­tes Trug­bild, ihre äu­ßer­li­che Er­schei­nung. Die war auch der ita­lie­ni­schen Re­naissance und dem fran­zö­si­schen Ro­ko­ko er­schie­nen und wirk­te noch in den »hei­te­ren« Göt­tern Grie­chen­lands nach, wie der jun­ge Goe­the, wie noch Schil­ler sie sich vor­stell­te. Aber es war Spiel und Schein. Der tiefer be­rühr­te Ger­ma­ne ver­langt mehr, er will die He­ro­i­ne selbst, und er be­schwört sie sich mit ei­ner Kühn­heit oh­ne­glei­chen aus dem Un­be­tret­ba­ren her­auf: das tra­gi­sche Grie­chen­tum der Früh­zeit! Dem Schöp­fer der »He­le­na« und der »Klas­si­schen Wal­pur­gis­nacht« war es un­ter­des­sen auf­ge­gan­gen. Dass Goe­the die Grie­chin nicht aus ei­ge­ner Er­fin­dung ein­ge­führt, son­dern sie in un­se­rem mit­tel­al­ter­li­chen Pup­pen­spiel schon als die von Faust be­schwo­re­ne Ge­lieb­te vor­ge­fun­den hat, be­weist, wie ur­deutsch der Zwang zum Grie­chen­tum ist. In Ge­wand und Schlei­er der Zeu­s­toch­ter ha­ben sich alle Völ­ker ge­teilt, aber dem Ger­ma­nen lässt es kei­ne Ruhe, bis er die ech­te He­le­na sel­ber um­armt: »Wer sie er­kennt, der kann sie nicht ent­beh­ren.«

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Kein Ab­schied ist mir je so schwer ge­fal­len wie nach nur sechs Wo­chen Auf­ent­halt der Ab­schied von Grie­chen­land. Mein lie­ber Ky­ri­os, der le­bens­lang an eine treutä­ti­ge täg­li­che Lehr­ar­beit ge­wöhnt war, konn­te nicht so lan­ge fei­ern, schwei­fen, nur im­mer­zu auf­neh­men, ihn ver­lang­te wie­der nach der Stil­le sei­ner Bü­cher­welt, um das Er­leb­te ein­zu­glie­dern und es an är­me­re, un­mün­di­ge Geis­ter wei­ter­zu­ge­ben. Ich muss­te sei­ner Er­mü­dung Rech­nung tra­gen, so schmerz­lich es war zu schei­den, be­vor auch nur die bei­der­sei­ti­gen Rei­se­mit­tel auf­ge­zehrt wa­ren. Aber ich hielt es nur für ein Schei­den auf kur­ze Zeit, denn es schi­en mir so un­mög­lich Hel­las wie­der zu ent­beh­ren wie dem Faust die ge­fun­de­ne He­le­na. Auch mein heim­weh­be­fal­le­ner Ka­me­rad dach­te nicht an­ders als wir wür­den übers Jahr wie­der in Grie­chen­land sein: wir wa­ren ja bei­der­seits ohne Ban­de, und für an­spruchs­lo­se Rei­sen­de wa­ren die Kos­ten nicht all­zu hoch. Von je­der Stel­le, die uns teu­er war, schie­den wir auf na­hes Wie­der­se­hen. Dass ich erst ein­und­zwan­zig Jah­re spä­ter und al­lein noch ein­mal wie­der­keh­ren wür­de, hät­te ich da­mals nicht wis­sen dür­fen.

Alle un­se­re Wan­de­run­gen auf den Spu­ren des My­thos und der Ge­schich­te hat­ten in mir das Ge­fühl für den Ge­gen­satz die­ser an­ti­ken Ganz­heit und Ge­schlos­sen­heit zu der Zer­ris­sen­heit und Zu­sam­men­hangs­lo­sig­keit des mo­der­nen Da­seins, vor­ab mei­nes ei­ge­nen, ver­tieft. Denn seit der Kranz der Fa­mi­lie, der mir die grö­ße­re Ge­mein­schaft hat­te er­set­zen müs­sen, zer­ris­sen war, hat­te ich nicht, wo­hin ich ge­hör­te. In Deutsch­land war in den Vor­kriegs­jah­ren ein neu­es Ge­schlecht her­an­ge­wach­sen, un­ter dem ich mir wie ein Kind un­ter Er­wach­se­nen vor­kam, des­sen Ideo­lo­gi­en man be­lä­chelt. Sie wa­ren alle so na­men­los er­wach­sen. Sie hat­ten alle die glei­che of­fi­zi­el­le, wie an Dräh­ten ge­zo­ge­ne äu­ße­re Höf­lich­keit, die von je­der Her­zens­höf­lich­keit mei­len­weit ent­fernt war, und küh­le Au­gen, in de­nen nichts zu le­sen stand als das Wört­chen Ich. Spä­ter ha­ben sie be­wie­sen, dass sie auch an­ders konn­ten, aber da­von war ih­nen zur Zeit nichts an­zu­mer­ken. Der über­heb­li­che Li­te­rat, der Leut­nant mit dem ge­steif­ten Schnurr­bart, der Re­fe­ren­dar, der nach ei­ner rei­chen Mit­gift Aus­schau hielt, be­herrsch­ten die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft. Eine lie­be­lee­re künst­li­che Kun­st­übung hat­te die wur­zelech­te deut­sche Dich­tung ver­drängt und mach­te die kal­ten Her­zen noch käl­ter. Das Alt­sein der Ju­gend war es, was mich am meis­ten ent­setz­te. Ich zwei­fel­te, wo sich’s über­haupt für mich wer­de le­ben las­sen, seit ich mei­ner schwe­ren Pf­lich­ten ent­bun­den war.

Beim letz­ten Gang auf der Grä­ber­stra­ße am Di­py­lon leg­te ich den großen To­ten mei­ne Sa­che ans Herz, und die­se ga­ben mich mit ei­ner pro­phe­ti­schen Ges­te mei­nem Va­ter­lan­de zu­rück:

Um den Erd­kreis wand­le dein Geist, so rie­f’s aus den Grä­bern,

Aber den Dei­nen gib lie­bend und zür­nend dein Herz.

Opfre den Göt­tern des Vä­ter­ge­filds und wer­de der Hei­mat

Bes­se­res Kind, bei ihr su­che du Stät­te und Ziel.

Füh­le der Frei­heit Stolz in wil­lig ge­tra­ge­nen Ban­den

Und er­hal­te dein Herz stark für den künf­ti­gen Tag.

Ein­heit wächst aus der Not – sie kommt euch, geh sie zu tei­len

Und im ei­ge­nen Grund lernst du zu wur­zeln wie wir.

Die­se Wor­te, 1913 in der »Ele­gie in Grie­chen­land« nie­der­ge­schrie­ben, wa­ren für mich der Auf­takt zu dem, was ein Jahr spä­ter Wahr­heit wer­den soll­te.

Das Jahr 1913, das mir für sei­nen Aus­gang die tröst­li­che Ge­nug­tu­ung der Hun­dert­jahr­fei­er mei­nes Va­ters und mei­ne ei­ge­ne, da­mals für Frau­en sehr un­ge­wöhn­li­che Aus­zeich­nung mit dem Dok­tor­hut vor­be­hielt, soll­te mit ei­nem sehr emp­find­li­chen Ver­lus­te be­gin­nen. Es be­raub­te mich ei­nes mei­ner bes­ten und un­er­müd­lichs­ten Freun­de: am 2. Ja­nu­ar starb Richard Wel­trich. Der Ruh­mes­kranz, den die­ser feu­ri­ge Geist sich selbst mit sei­nem großen Schil­ler-Werk zu flech­ten ge­dach­te, kam nicht zu­stan­de, und wie der Kreis der über­le­ben­den Freun­de sich lich­tet, ver­wischt die Zeit auch die per­sön­li­chen Spu­ren ei­ner der aus­ge­präg­tes­ten und le­bens­volls­ten Er­schei­nun­gen, die mir be­geg­net sind. Wenn ich nur die Schrift­zü­ge, die sei­nen Na­men bil­de­ten, vor mir sehe, so blickt mir dar­aus Richard Wel­trich leib­haft ent­ge­gen, ein Be­weis, welch ei­gen­tüm­li­che Per­sön­lich­keit der­je­ni­ge ge­we­sen ist, der dem Na­men die­sen kräf­ti­gen Stem­pel auf­ge­drückt hat. Da scheint es Freun­des­pflicht, noch ein­mal das Ge­dächt­nis ei­nes Man­nes auf­zu­fri­schen, des­sen großes stand­haf­tes Wol­len und un­aus­ge­setz­te Tä­tig­keit durch einen merk­wür­di­gen, ur­deut­schen Man­gel an Be­gren­zung ihr Ziel ver­fehl­ten, so­dass er nach ei­nem lan­gen, ar­beits­rei­chen, geis­t­er­füll­ten Da­sein fast nur Bruch­stücke hin­ter­las­sen hat. Ich wer­de sei­nem Bild am bes­ten ge­recht, wenn ich mich da­bei an mei­nen noch un­ter dem un­mit­tel­ba­ren Ein­druck der Per­sön­lich­keit für die Frank­fur­ter Zei­tung ge­schrie­be­nen Nach­ruf an­leh­ne.

Es war im Früh­jahr 1896, dass ich Richard Wel­trich bei mei­nem Bru­der Er­win in Mün­chen, wo auch er sei­nen Wohn­sitz hat­te, zum ers­ten Mal sah: eine große ge­bie­ten­de Ge­stalt von ur­ger­ma­ni­schem Schlag mit ed­lem Schä­del­bau und kräf­tig schö­nen Zü­gen, aus de­nen es wie von in­ne­rem Feu­er lo­der­te. Die blau­en Au­gen von fast über­star­kem Glanz, der rote we­hen­de Bart, das röt­li­che Ge­sicht, al­les an ihm schi­en zu flam­men. Er hielt je­nes Abends durch sei­ne le­ben­di­ge Geis­tes­fül­le die klei­ne Ge­sell­schaft bis zwei Uhr bei­sam­men und hat­te sich, als man auf­brach, noch lan­ge nicht aus­ge­ge­ben, son­dern blieb im Fa­mi­li­en­kreis bis Ta­ge­s­an­bruch sit­zen, durch den Mor­gen­kaf­fee der Haus­frau zu neu­er Er­gie­big­keit an­ge­regt.

Wel­trichs ge­sell­schaft­li­che Lie­bens­wür­dig­keit muss­te auch bei der ober­fläch­lichs­ten Be­kannt­schaft für ihn ein­neh­men, denn so um­fas­send sein Fach­wis­sen war, nie be­schwer­te er da­mit den leich­ten Flug der Un­ter­hal­tung, er nahm eben­so wil­lig, wie er gab, hielt streng auf gute For­men und war im­mer auch für einen Scherz zu ha­ben. Aber wer ihm nä­her­trat, der fand un­end­lich mehr: einen Men­schen voll Wär­me und Zart­ge­fühl und von un­er­schüt­ter­li­cher Zu­ver­läs­sig­keit, im­mer zu Rat und Hil­fe wil­lig, eine rüs­ti­ge Kampf­na­tur, ganz von Über­zeu­gung durch­drun­gen, aber den­noch je­des Ge­fühl scho­nend, ge­gen je­des Un­recht aufs hef­tigs­te em­pört und stets be­reit, für den Schwä­che­ren ein­zu­tre­ten, vor al­lem auch für die ver­folg­te und ge­quäl­te Tier­welt.

Ge­bür­tig war er aus Ans­bach, also aus dem frän­ki­schen Stamm­ge­biet, wo es sich dem schwä­bi­schen nä­hert; die klei­ne ehe­ma­li­ge Re­si­denz­stadt, über der noch der ge­heim­nis­vol­le Schat­ten Kas­par Hau­sers schweb­te, für den Wel­trich le­bens­lang mit Wär­me ein­trat, hat ge­wiss stil­ge­bend auf das We­sen des Kna­ben ein­ge­wirkt. Als Kind ei­ner frü­he­ren Zeit, die den wil­den wirt­schaft­li­chen Kampf nicht kann­te, stand er vor­nehm ab­seits von al­lem Ren­nen und Ja­gen und gönn­te sich bei be­schei­de­nem Aus­kom­men den höchs­ten Lu­xus, eine See­le zu ha­ben, die dem Ide­al ge­hör­te. Es ist käl­ter und un­wirt­li­cher auf un­se­rer Erde ge­wor­den, seit ihr die­se be­seel­te­ren An­ge­sich­ter zu feh­len be­gan­nen.

Am an­zie­hends­ten gab sich Wel­trich in der frei­en Na­tur, in sei­ner deut­schen Na­tur, die er mehr als jede an­de­re lieb­te, be­son­ders auf Berg- und Wald­pfa­den, wo er gern den Füh­rer mach­te. Dann wan­der­te die deut­sche Dich­tung und Sage mit, und ein lei­ser mys­ti­scher Zug, den er wie je­der fan­ta­sie­vol­le Mensch in sich trug, doch ohne ihm die Ober­hand zu las­sen, er­wei­ter­te die Gren­zen der Din­ge. Ich habe nicht vie­le Men­schen ge­kannt, mit de­nen man so stil­le ab­sei­ti­ge Ge­dan­ken tau­schen konn­te wie mit Wel­trich. Da ge­sch­ah es nicht sel­ten, dass der Füh­rer im Feu­er der Un­ter­re­dung Weg und Steg ver­lor, was in­des­sen der Stim­mung nicht scha­de­te und häu­fig zur Ent­de­ckung neu­er Na­tur­schön­hei­ten führ­te. Hat­te man sich dann mit Mühe wie­der zu­recht­ge­fun­den, so konn­te er wohl be­frie­digt sa­gen: Nun ge­ben Sie zu, dass ich Sie heu­te gut ge­führt habe! Denn er tat sich auf sei­nen Orts­sinn, der bei ganz nach in­nen bli­cken­den Na­tu­ren ge­wöhn­lich nicht all­zu groß ist, et­was Be­son­de­res zu­gu­te. Un­ver­ges­sen bleibt mir, wie er auf ei­nem die­ser Gän­ge ein Bänd­chen Ly­rik von Mar­tin Greif aus der Ta­sche zog, den ich fast gar nicht kann­te, und mir Ge­dich­te vor­las, die jene Wal­des­s­til­le sel­ber ge­dich­tet zu ha­ben schi­en. Wel­trich war we­nig über die Gren­zen Deutsch­lands hin­aus­ge­kom­men, und es fiel ihm schwer, frem­den Er­schei­nun­gen ge­recht zu wer­den – dies war ei­ner der we­ni­gen Punk­te, auf de­nen wir uns nie­mals ver­stän­di­gen konn­ten –, selbst in das nahe Ita­li­en hat er nur zwei­mal den Fuß ge­setzt, und es war leicht zu ver­ste­hen, dass ihm bei sei­ner gan­zen Art und Wei­se die lich­te­re Schön­heit des Sü­dens we­nig zu sa­gen hat­te. Man hät­te ihm ein Glücks­be­wusst­sein ge­stört, hät­te man ihm in sol­chen Au­gen­bli­cken den oft mit Nach­druck auf­ge­stell­ten Satz be­strei­ten wol­len, dass es nur in Deutsch­land sol­che Wäl­der und Ber­ge, sol­che Na­tur­stim­men, sol­che Stim­mungs­ly­rik ge­ben kön­ne.

94,80 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Объем:
5251 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783962812515
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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