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Dreizehntes Kapitel – Wir begründen ein Weltbad

Mein Haus, mein Haus am Meer.

Auch heu­te tür­men

Die Mar­mo­ral­pen schim­mern­de Pas­tel­le

In dei­nem Rücken auf und drau­ßen brei­tet

Sich tief­blau, end­los die Tyr­rhe­n­er­wel­le.

Du träumst den Se­geln nach die fer­ne strei­chen,

Und an den Zau­be­r­in­seln hängt dein Blick,

Die mein Erin­nern Tag und Nacht um­flü­gelt.

Es kann der Wunsch, wie glü­hend er sie male,

Die Schön­heit, die le­ben­di­ge, nicht er­rei­chen.

Dort über Ser­ra­vez­za flammt im Stein

Durch all das Weiß die off­ne rote Wun­de,

Und Wäl­der le­gen küh­lend sich hin­ein,

Doch in der Ber­ge wei­ßen Flan­ken schläft

Die un­ge­bor­ne Welt der Kunst, und oft­mals

Am Abend rot­tet wie von in­n­rer Glut

Sich das Ge­stein, als rie­f’ es un­ge­dul­dig.

Es sinkt der Tag und wir sind un­er­löst.

Glück­se­li­ger Strand, Ge­sta­de der Ent­rück­ten,

Schi­en wie der Ort, wo frei von ir­di­scher Schwe­re

Die Hel­den und die Lie­ben­den sich fin­den,

Wo fern der Zeit Achill und He­le­na

Im Schein ver­säum­ten Er­den­glücks sich son­nen.

Ihr Som­mer, de­ren Stun­den leicht wie Träu­me

Der Himm­li­schen um un­se­re Stirn zer­ron­nen!

In im­mer glei­cher Fül­le leb­ten wir

Unal­ternd, uns­re Lei­ber wa­ren Din­ge

Aus Licht und Luft, die Son­ne schi­en hin­durch.

O Son­nen­glühtrank, den ich heiß ge­schlürft

In je­nen Som­mern, die kein Ende hat­ten,

Du glühst noch jetzt in mei­nen Adern nach

Wie gött­lich un­ver­lösch­ba­res Ju­gend­feu­er.

(Aus »Jen­seits des Blutstroms«, 1915)

Es war kein Dich­ter­mär­chen, in For­te dei Mar­mi al­ter­te man nicht. Die lan­gen, glü­hen­den Som­mer brann­ten alle kran­ken und we­hen Stel­len aus und ga­ben eine im­mer hei­le und hei­te­re Ju­gend. Auch un­se­re Mut­ter, die ja nun schon in die Jah­re trat, die bei den All­tags­men­schen Grei­sen­al­ter hei­ßen, blieb in ih­rer geis­ti­gen und kör­per­li­chen Be­weg­lich­keit un­ver­än­dert die glei­che. Die Wi­der­stands­kraft, die sie den schwe­ren ih­rer noch war­ten­den Schick­sals­schlä­gen ent­ge­gen­zu­set­zen fand, und das Lä­cheln, das trotz al­lem bis über die Schwel­le des To­des mit ihr ging, kann sie nur dort ge­schöpft ha­ben. Und auch ich sel­ber hät­te nir­gends als am Strand von For­te so­viel Schön­heit und Wär­me in mir auf­spei­chern kön­nen, um in den kom­men­den dunklen Jah­ren nicht ganz am Le­ben zu ver­zwei­feln.

Das klei­ne Haus, wie es jetzt da­stand und mit un­wahr­schein­lich be­seel­ten Au­gen aufs Meer hin­aus­sah, glich ei­nem le­ben­di­gen We­sen und nahm gleich­sam die Mie­ne sei­ner Be­sit­zer an. Ganz aus schwe­rem Bruch­stein er­rich­tet, den aber fest­lich grü­ne Lä­den leicht mach­ten, durch die an­ge­neh­men Maße und weil es rings­um frei stand, für das Auge viel grö­ßer als es wirk­lich war, hat­te es einen ganz per­sön­li­chen Aus­druck von hei­te­rem Ernst, wozu noch die mehr brei­ten als ho­hen Fens­ter, das mäch­ti­ge, in Län­ge und Que­re ge­teil­te Por­tal und die von Hil­de­brand ge­stif­te­te Mar­mor­bank an der Au­ßen­wand das ihre bei­tru­gen. Die­se Be­son­der­hei­ten wa­ren nicht ohne die wun­der­lichs­ten Rei­bun­gen und Zwi­schen­fäl­le zu­stan­de ge­kom­men. Ich hat­te mei­nem Bru­der nur die Be­rech­nung der Räu­me über­las­sen; für das äu­ße­re Ge­sicht zog ich Hil­de­brand zu Rat, und die­ser ent­warf mit Hil­fe sei­nes Schwie­ger­soh­nes Satt­ler die le­bens­vol­le, von jeg­li­cher Scha­blo­ne ab­wei­chen­de Stirn­sei­te. Als die Mau­ern aus dem Bo­den zu stei­gen be­gan­nen, ließ ich mich für den Früh­win­ter al­lein in der Nähe des Neu­baus nie­der, um die ge­naue Aus­füh­rung des Hil­de­brand-Satt­ler­schen Ent­wurfs zu über­wa­chen. Denn der Werk­füh­rer, ein ein­fa­cher aber sehr ge­schick­ter Mau­rer­meis­ter, hat­te es an­ders vor: er woll­te kurz­weg die ho­hen, schma­len Tür- und Fens­ter­öff­nun­gen, wie er sie bei Ed­gar und Van­zet­ti ge­baut hat­te, wie­der­ho­len, hat­te auch be­reits be­gon­nen die Bo­gen viel zu schmal zu span­nen und fuhr da­mit trotz mei­nes Ein­spruchs fort, in­dem er, so oft ich mit ihm spre­chen kam, sich taub stell­te und aus der Dach­hö­he, wo er han­tier­te, einen Ha­gel klei­ner Stein­chen her­un­ter­fal­len ließ, um mich zu ver­trei­ben. Da blieb mir nichts üb­rig, als die au­gen­blick­li­che Ein­stel­lung des Baus zu be­feh­len. Au­ßer sich lief der Mann zu dem In­ge­nieur, der dem Na­men nach die Obe­r­auf­sicht führ­te, aber nie den Fuß auf die Bau­stät­te setz­te, und klag­te ihm, ich hät­te mit­ten un­ter der Ar­beit Ver­än­de­run­gen an­ge­ord­net, die dem Ver­trag wi­der­sprä­chen. Mei­ne Er­klä­rung, dass der Hil­de­brand­sche Ent­wurf nichts ent­hal­te, was ge­gen den Ver­trag ver­sto­ße, konn­te ich aber nicht be­wei­sen, weil der Werk­füh­rer plötz­lich ver­si­cher­te, die Zeich­nung ver­lo­ren zu ha­ben; ich konn­te nur dar­auf be­ste­hen, dass nicht wei­ter­ge­baut wür­de, bis das Blatt wie­der zur Stel­le sei. Der In­ge­nieur schrieb nun an Ed­gar, dass ich ver­trag­brü­chig ge­wor­den sei und dass die Preis­ver­ein­ba­run­gen hin­fäl­lig wür­den, wenn ich nicht von mei­nen un­be­rech­tig­ten Än­de­run­gen ab­stün­de. Da mein ra­scher Bru­der der falschen Dar­stel­lung glaub­te und un­be­dingt ver­lang­te, ich müs­se mich fü­gen, droh­te der Streit­fall sich in die Fa­mi­lie hin­ein zu er­wei­tern. Aber der All­ver­mitt­ler Van­zet­ti über­nahm es mit sei­ner großen Macht über die Ge­mü­ter der ein­fa­chen Leu­te, den Mau­rer­meis­ter zur Ein­sicht zu brin­gen: die ver­lo­re­ne Zeich­nung war plötz­lich wie­der da und wur­de haar­ge­nau aus­ge­führt, der In­ge­nieur kehr­te in sei­nen olym­pi­schen Gleich­mut zu­rück, und der Schul­di­ge über­nahm den durch sei­nen Ei­gen­sinn ver­ur­sach­ten Mehr­auf­wand. Nur das er­reg­ba­re Bru­der­herz groll­te mir noch eine Wei­le wei­ter, wie er in un­se­ren Kin­der­ta­gen ge­tan hat­te, wenn ich ein­mal an­ders woll­te als er oder auf ir­gend­ei­nem Punkt sei­nen Ge­schmack nicht teil­te. Er hat­te sich mein Häu­schen als ein ver­klei­ner­tes Ab­bild des sei­ni­gen ge­dacht: dass ich im Stil gänz­lich von ihm ab­wich, schnitt ihm in die See­le und ließ ihn das Un­ge­wohn­te von vorn­her­ein als Über­spannt­heit ver­ur­tei­len. Als aber der Bau in sei­ner Ei­gen­art da­stand und die Hil­de­brand­sche Ab­sicht ver­wirk­lich­te, auf kleins­tem Raum den Ein­druck des Mäch­ti­gen zu ge­ben, da be­kehr­te er sich nur zu sehr; das große Tor mit den vier Flü­geln, das, wenn die un­te­ren ge­schlos­sen und die obe­ren of­fen wa­ren, den da­vor­lie­gen­den Mee­res­ho­ri­zont mit den zie­hen­den Se­geln wie in ei­nem schön ge­schwun­ge­nen Rah­men ein­schloss, und das aus­drucks­vol­le, von ei­nem ro­ten Zie­gel­däch­lein wie von ei­ner Braue über­wölb­te brei­te Fens­ter ta­ten es ihm der­ma­ßen an, dass er am liebs­ten sein ei­ge­nes Haus im glei­chen Stil um­ge­baut hät­te. Er ruh­te auch nicht, bis er in dem wie­der­er­wach­ten Wett­ei­fer un­se­rer Früh­zeit bei ei­nem An­bau, den er vor­nahm, noch Ge­le­gen­heit fand, die emp­fan­ge­nen An­re­gun­gen zu ver­wer­ten. Eine Kind­lich­keit die­ser großen Na­tur, die für mich et­was Rüh­ren­des hat­te. – Das gäbe einen hüb­schen No­vel­len­stoff, mein­te wie­der ein­mal Freund Hil­de­brand mit Lä­cheln, als ich ihm er­zähl­te, wel­che Nöte es mich ge­kos­tet hat­te, sei­nen Ent­wurf durch­zu­set­zen. Heu­te, wo das Häu­schen in ei­ner dich­ten Vil­len­rei­he wie ein win­zi­ger Zwerg zwi­schen über­mäch­ti­gen Nach­barn ein­ge­keilt steht und nur noch durch eine au­ßer­ge­wöhn­li­che gärt­ne­ri­sche Um­rah­mung den Cha­rak­ter sei­ner Ein­ma­lig­keit be­wahrt, kann man sich nicht mehr vor­stel­len, wie zwin­gend ein­mal das klei­ne Ding, noch frei in sei­nen ei­ge­nen Ma­ßen ste­hend, mit kei­nem an­de­ren Hin­ter­grund als der viel­gip­fe­li­gen Pi­ne­ta und der edel­ge­form­tes­ten al­ler Al­pen­ket­ten sich dem Stil­ge­fühl auf­er­leg­te. – Die­se Al­pen mit ih­ren auf­ge­ris­se­nen wei­ßen Flan­ken, viel­ge­stal­tig wie die Do­lo­mi­ten, aber noch nicht to­tes Ge­stein wie die­se, ge­wal­tig ohne er­drückend groß zu sein, weil sie fast über­gangs­los aus Mee­res­hö­he auf­stei­gen, und mit­ten inne als Herz­fleck der rote Erd­bruch der Cera­gio­la, der da­mals noch nicht er­schöpft und in Grau ver­blasst war wie heu­te, son­dern tiefrot aus dem Grün der Vor­ber­ge flamm­te, gibt es ir­gend­wo schö­ne­re? Aber dass sie in den glück­li­chen Zei­ten, von de­nen ich er­zäh­le, auch ein Boll­werk ge­gen die Tra­mon­ta­na bil­de­ten und da­mit dem Strand ein pa­ra­die­si­sches Win­ter­kli­ma schenk­ten, da­von weiß nur der klei­ne Rest der Urein­woh­ner noch, die wir bei un­se­rer Sied­lung vor­fan­den. Heu­te möch­te ich nie­mand ra­ten, den Win­ter, wie ich es des öf­te­ren tat, im un­ge­heiz­ten Haus zu ver­le­ben, den gan­zen De­zem­ber hin­durch und noch im Ja­nu­ar zu ba­den und im Som­mer­kleid am Stran­de zu ge­hen. Was auch die kli­ma­ti­schen Vor­gän­ge ver­än­dert ha­ben mag, die Tat­sa­che wie­der­holt sich neu­er­dings je­den Win­ter, dass die Apua­ni­schen Al­pen sich bis her­ab zu ih­rem Fuß mit Schnee be­de­cken, der sei­ne Käl­te auf den einst so mil­den Strand her­un­ter­strahlt.

Mit der Bei­le­gung des Mau­rer­auf­stands gab sich der klei­ne Ko­bold, der mir bei dem Haus­bau ein Bein ums an­de­re stell­te, noch nicht zu­frie­den; er hat­te sich un­ter­des­sen schon einen neu­en Scha­ber­nack aus­ge­dacht. Ich hat­te mir un­ge­schick­ter­wei­se ein­fal­len las­sen, bei mei­nem gu­ten Müt­ter­lein an­zu­klop­fen, ob sie ein­ver­stan­den wäre, dass ich sie ein­mal zu ei­nem güns­ti­gen Zeit­punkt vor­über­ge­hend in dem Häu­schen al­lein lie­ße, um ein paar Wo­chen deut­sche Luft zu at­men und ihr da­durch Ge­le­gen­heit gäbe, sich in mein frei­wer­den­des Zim­mer einen Gast nach ih­rem Her­zen ein­zu­la­den. Ei­nen Gast! Das Wort elek­tri­sier­te sie und setz­te sich auch gleich in die Mehr­zahl »Gäs­te« um. Und ohne sich dar­um zu sor­gen, dass wir ja über­haupt nach Ed­gars Wil­len nur zwei Zim­mer hat­ten, das ih­ri­ge und das mei­ni­ge, dass also von ei­nem Gast nur dann die Rede sein konn­te, wenn ich sel­ber aus­zog – Raum und Zeit wa­ren ihr ne­ben­säch­li­che Be­grif­fe –, setz­te sie sich flugs und schrieb freu­de­glü­hend ohne mein Wis­sen gleich drei Ein­la­dun­gen schon für den kom­men­den Som­mer. Ich fiel aus den Wol­ken, als ich von al­len drei Sei­ten fast gleich­zei­tig die ju­beln­de Zu­sa­ge er­hielt, die Fe­ri­en mit uns auf un­se­rer »Meer­vil­la« zu ver­brin­gen. Eine gute See­le hat­te so­gar schon den Kof­fer ge­packt, um auf den ers­ten Wink rei­sen zu kön­nen. Um die Dras­tik der Lage noch zu er­hö­hen, kam um die glei­che Zeit aus For­te eine Be­schwer­de des ob­be­lob­ten Mau­rers, die von mei­nem Bru­der an­ge­ge­be­nen Maße der Trep­pe sei­en falsch, es sei über­haupt bei den Raum­ver­hält­nis­sen nicht mög­lich, von dem Un­ter­ge­schoss eine Trep­pe ins obe­re zu füh­ren. Jetzt aber ge­riet Ed­gar in Brand, denn was er an­ord­ne­te, das wuss­te er rich­tig! Er op­fer­te einen Tag und fuhr nach For­te, zeich­ne­te dem Mann die Stu­fen an die Wand und hin­ter­ließ ihn über­zeugt und be­ru­higt. Mir aber fiel die pein­li­che Auf­ga­be zu, gleich sämt­li­che Ein­la­dun­gen zu wi­der­ru­fen, was, wenn es auch mit den bes­ten Grün­den und mit der trost­reichs­ten Aus­sicht auf die Zu­kunft ge­schieht, doch einen lei­se bit­te­ren Nach­ge­schmack lässt. Frei­lich lie­fer­te die noch man­geln­de Trep­pe eine aus­gie­bi­ge Ent­schul­di­gung.

Aber als ich dann im Früh­som­mer ein­zie­hen konn­te, als die ewig Hei­mat­lo­se, wi­der Wil­len Schwei­fen­de, nun ein­mal wirk­lich und aus­schließ­lich ei­ge­nen, durch Ar­beit er­wor­be­nen Grund und Bo­den un­ter den Fü­ßen hat­te, da ver­san­ken die aus­ge­stan­de­nen Nöte vor der tie­fen in­ne­ren Be­frie­di­gung. Es ist kaum zu glau­ben, wie sehr das Bau­en auf ei­ge­ner Schol­le, gleich­viel ob groß oder klein, das Selbst­ge­fühl hebt und dem Le­ben ge­gen­über eine ganz an­de­re Si­cher­heit gibt. Die »un­si­che­ren Soh­len« ha­ben mit eins, wo sie haf­ten, das vor­her schat­ten­haf­te Da­sein er­kennt sich selbst als Wirk­lich­keit, wenn es sieht, wie frem­de Hän­de sich in sei­nem Diens­te re­gen. Mein Häu­schen äu­ßer­te auch gleich sei­ne An­zie­hungs­kraft für al­les Gute: zu je­der Tür zo­gen Freu­de, Frie­de und Freund­schaft ein. Hil­de­brand schmück­te die klei­ne Ein­gangs­hal­le mit an­mu­ti­gen Wand­zeich­nun­gen in Koh­le und Pas­tell, die frei­lich mehr sein Ge­dan­ken­reich aus­drück­ten als das mei­ni­ge; ich fühl­te mich so­gar an­fangs nicht völ­lig hei­misch un­ter den woh­lig und wil­len­los hin­ge­la­ger­ten Ge­stal­ten, die von Ero­ten um­schwärmt mit der Fül­le ei­nes gol­de­nen Zeit­al­ters tän­del­ten. Aber von oben sah ein erns­ter Dich­ter­kopf, Ho­mer, in das hal­kyo­ni­sche Le­ben hin­ein, die Wie­der­ho­lung des Mee­res­ho­ri­zonts im Hin­ter­grund er­wei­ter­te den Raum, und weit­ge­spann­te Frucht­ge­win­de ver­mit­tel­ten gar schön den Über­gang der Wän­de in die Trep­pe. Ich ge­wann denn auch in der Fol­ge die stil­len Mit­be­woh­ner lieb, und sie lei­te­ten mir ja in der Tat eine lan­ge Rei­he schöns­ter, bei­na­he sorg­lo­ser Som­mer ein. Vie­le Hän­de wa­ren ge­schäf­tig, mir mein Häu­schen ver­schö­nern zu hel­fen. Der jun­ge Satt­ler stif­te­te die Zeich­nung zu dem holz­ge­schnitz­ten Trep­pen­ge­län­der, wo­durch der In­nen­raum sei­nen har­mo­ni­schen Ab­schluss fand. Er­win, der sich aus Deutsch­land ein­stell­te, bann­te mir auf die noch un­ge­tünch­te Wand mei­nes Ar­beits­zim­mers dem Schreib­tisch ge­gen­über eine hei­ter-erns­te ste­hen­de Muse, de­ren Ge­gen­wart mir so wohl­tat, dass ich mich erst nach Jah­ren ent­schlie­ßen konn­te, die Wand über­strei­chen zu las­sen. Auch Tho­le kam im ers­ten Jüng­lings­al­ter und brach­te mir einen sei­ner tö­ner­nen Rit­ter auf ge­wapp­ne­tem Roß, wor­an er sich schon als Kna­be ver­sucht hat­te. Wer sich am al­ler­tä­tigs­ten um die Aus­schmückung des neu­en Hau­ses müh­te, war Rö­mer, der wie die an­de­ren Freun­de aus Flo­renz nach­kam. In sei­ner zu­grei­fen­den Art warf er sich gleich auf die In­nen­ein­rich­tung, zeich­ne­te die noch feh­len­den Stücke des Haus­rats, die alle dem länd­li­chen Stil des Gan­zen an­ge­passt sein muss­ten, half mir Tü­ren, Ge­län­der, Wand­schrän­ke mit fest­li­chen Far­ben strei­chen, mal­te die grie­chi­sche In­schrift, die mir der Phi­lo­lo­ge un­ter mei­nen Freun­den, Ernst Mohl in Pe­ters­burg, ver­fas­sen half, auf den De­cken­bal­ken, nahm auch gleich alle Ge­gen­stän­de, Men­schen, Fern­sich­ten auf sei­ne fo­to­gra­fi­sche Plat­te und ver­brei­te­te wie im­mer viel Be­we­gung um sich her, wo­bei er die lie­bens­wer­tes­ten Sei­ten sei­nes We­sens ent­fal­te­te. Das Ge­lun­gens­te, was von sei­ner Hand in For­te dei Mar­mi zu­rück­b­lieb, sind die zwei schö­nen, in Stein ge­haue­nen Fi­sche rechts und links vom Ein­gang. In den schild­ar­ti­gen Schluss­stein des Tor­bo­gens mei­ßel­te er das astro­no­mi­sche Zei­chen des Stein­bocks, mein selbst­ge­wähl­tes Wap­pen, das auch schon im In­nern an­ge­bracht war, ein. Län­ge­re Zeit stand die­se Be­krö­nung zu mei­nem Dan­ke. Da fand Hil­de­brand ei­nes Ta­ges, dass ein blo­ßes Sym­bol als Ab­schluss ober­halb des in den Fi­schen dar­ge­stell­ten le­ben­di­gen Le­bens un­be­frie­di­gend wir­ke. Ich dach­te an­ders, denn ich ver­moch­te in dem Zei­chen des Stein­bocks, als dem Aus­druck für den be­deut­sams­ten Him­mels­vor­gang, die Au­fer­ste­hung des Lich­tes, nichts Ta­del­haf­tes zu er­bli­cken, da doch das Sym­bol ei­ner an­de­ren Au­fer­ste­hung, das Kreuz, die höchs­ten Dome krönt. Aber ehe ich mich’s ver­sah, war der Stein von der Hand, die ihn ge­mei­ßelt hat­te, zer­hau­en und ver­stüm­melt; es war auch gleich ein neu­er Stein beim Stein­metz be­stellt, wor­auf ein fi­gür­li­ches Re­lief aus­ge­führt wer­den soll­te. Al­lein der Stein wur­de nicht recht­zei­tig ge­lie­fert, das Le­ben schob sich mit sei­nen Zu­fäl­lig­kei­ten, Miss­s­tim­mun­gen und Miss­ver­ständ­nis­sen da­zwi­schen und die Be­krö­nung des To­res blieb für im­mer ver­stüm­melt, nun sel­ber Sym­bol für eine durch lan­ge Jah­re schön ge­we­se­ne und am spä­ten Ende, mehr noch durch frem­de als durch ei­ge­ne Schuld der Be­tei­lig­ten, in lau­ter Dis­so­nan­zen aus­ein­an­der­ge­sprun­ge­ne Freund­schaft.

*

Das Ein­rich­ten ei­nes neu­en Hau­ses ge­hört ge­wiss zu den reins­ten und er­le­sens­ten Freu­den des Le­bens. Es ist die Rück­kehr in die glück­li­che See­le des Kin­des, das sei­ne Pup­pen­stu­be nicht schön ge­nug aus­stat­ten kann. Und wenn die Mit­tel nicht von An­fang an da sind, um al­les auf ein­mal aus­zu­füh­ren, son­dern erst durch geis­ti­ge Ar­beit nach und nach er­schwun­gen wer­den müs­sen, so dau­ert die un­schul­di­ge, sich im­mer er­neu­ern­de Freu­de nur um so län­ger. Das Tisch­ge­schirr hat­te ich schon im Lauf des Win­ters bei Can­tagal­li bren­nen las­sen nach ei­nem schö­nen länd­li­chen Mus­ter, des­sen freu­di­ge Far­ben in die Far­big­keit des Haus­ge­räts ein­stimm­ten, denn nach den har­ten Jah­ren, die hin­ter mir la­gen, soll­te in dem Son­nen­häus­chen, wie wir es nann­ten, al­les auf Schim­mer und Freu­de ge­stimmt sein. Es durf­te mir fort­an kein Tag ver­ge­hen ohne eine neue Ver­schö­ne­rung, und wenn es nur ein selbst­ge­fer­tig­tes Stuhl­kis­sen war. In all dem Um­trieb nahm sich mei­ne gute Mut­ter wie ein her­zu­ge­flo­ge­ner klei­ner Vo­gel aus, der vom Ge­sim­se her ver­wun­dert zu­schaut, was die Men­schen al­les zum Da­sein nö­tig ha­ben. Aber sie war glück­lich. Der Sta­chel, der sie rast­los von Ed­gar zu mir, von mir zu Ed­gar trieb, ruh­te, denn un­se­re Häu­ser la­gen nur hun­dert Schrit­te von­ein­an­der.

Noch schö­ner als Bau­en und Ein­rich­ten war das nächs­te Ge­schäft, was ich in An­griff neh­men durf­te: das An­le­gen ei­nes Gar­tens; die­ses ver­band die ver­spreng­te See­le erst ganz mit den Heil­kräf­ten der Erde. Das Grund­stück, das die neu­en Häu­ser trug, war zu­erst Vi­g­na ge­we­sen und brach­te Trau­ben vom sel­tens­ten Wohl­ge­schmack her­vor, al­lein man konn­te sie nicht er­hal­ten, weil das Land­volk sich in un­se­rer Ab­we­sen­heit in der Pfle­ge nicht zu­ver­läs­sig er­wies. Es blieb nichts üb­rig als die kost­ba­ren Reb­stö­cke aus­zu­rau­fen und an ihre Stel­le zu­erst Lu­pi­nen, dann Pi­ni­en zu säen, die schnell em­por­wuch­sen und Schat­ten ga­ben. Im üb­ri­gen ver­fiel ich in den Feh­ler der meis­ten Neu­lin­ge, gar nicht lan­ge zu fra­gen, was Bo­den und Lage her­ge­ben kön­nen, son­dern nur was mei­nen Au­gen wohl­ge­fiel, und ich zahl­te viel Lehr­geld in den ers­ten Jah­ren. Da wa­ren mit eins die schöns­ten Baum­grup­pen schon in vol­ler Höhe wie Ku­lis­sen auf­ge­stellt, aber fast eben­so schnell ver­schwun­den, weil der Sand sie nicht näh­ren konn­te; an­de­res zer­fraß mir der See­sturm, der eine Salz­krus­te nie­der­schlägt, wo­von das zar­te­re Blatt­werk sich wie Zun­der bräunt und schwin­det. Nicht ein­mal die mit viel Mühe und Kos­ten von den Vor­ber­gen her­ab­ge­führ­ten Öl­bäu­me woll­ten mir rich­tig Fuß fas­sen, und um die Zy­pres­sen kämpf­te ich Jahr um Jahr einen har­ten Kampf. Schließ­lich sah ich wie die an­de­ren ein, dass nur das hart­ge­wohn­te Ge­schlecht der Pi­ni­en und Stein­ei­chen, wozu sich spä­ter noch der tap­fe­re, al­len Wet­tern trot­zen­de Ole­an­der ge­sell­te, und als Um­zäu­nung der dick­blätt­ri­ge Evo­ni­mus wie auch der Lor­beer, al­len Un­bil­den des un­frucht­ba­ren, sturm­durch­tob­ten Stran­des ge­wach­sen wa­ren. Man­ches lern­te ich von dem Bei­spiel mei­nes Nach­bars Van­zet­ti, der ein lei­den­schaft­li­cher Gärt­ner war und mir mit der An­la­ge sei­nes Gar­tens um ein Jahr vor­aus. Er schaff­te mit Feuerei­fer, und was ihm am schöns­ten ge­dieh, da­von brach­te er mir die Ab­le­ger, die so­gleich ein­wuch­sen und wei­ter­trie­ben, weil ja der Mut­ter­stamm schon hei­misch war. So konn­te ich schnell zwei lan­ge Pap­pel­rei­hen durch die gan­ze Tie­fe mei­nes Gar­tens zie­hen; es war der ein­zi­ge Laub­baum der sich an­pass­te, und er wuchs in we­ni­gen Jah­ren hö­her als das Dach des Hau­ses, weil noch kei­ne Nach­bar­gär­ten mit ein­drin­gen­dem Wur­zel­werk ihm Raum und Nah­rung schmä­ler­ten. Mit Pfir­sich­bäum­chen hat­te ich gleich­falls Glück, nur dass mir die Früch­te weg­gen­ascht wur­den, be­vor sie reif­ten; auch Ro­sen und an­de­re Blu­men­ar­ten ga­ben sich mit der be­schei­de­nen Nah­rung zu­frie­den. Das Was­ser muss­te noch aus dem run­den länd­li­chen Zieh­brun­nen am lan­gen Strick ge­schöpft wer­den: es war ein im Wett­ei­fer be­trie­be­nes Kunst­stück, den Ei­mer so hin­ab­zu­stür­zen, dass er sich im Kip­pen füll­te und von selbst wie­der auf­rich­te­te, um voll in die Höhe ge­zo­gen zu wer­den. Un­zäh­li­ge der schwe­ren Ei­mer zog ich Tag für Tag nach Son­nen­un­ter­gang und in der ers­ten Mor­gen­frü­he un­ter dem ängst­li­chen Wi­der­spruch mei­ner Mut­ter her­auf, um alle mei­ne An­pflan­zun­gen zu trän­ken. Da­für fei­er­te mei­ne Gar­ten­kunst auch einen Tri­umph, als ich zu­erst von al­len neu­en An­sied­lern einen Re­gen­wurm auf­zu­wei­sen hat­te zum le­ben­di­gen Be­weis, dass sich mir der Sand in Hu­mus zu wan­deln be­gann. Ei­nen noch viel grö­ße­ren Tri­umph soll­te ich er­le­ben, als es mir mit der Zeit ge­lang, die vor mei­nem Hau­se ste­hen­ge­blie­be­ne, nur dem Por­tal ge­gen­über durch­bro­che­ne künst­li­che Düne zur Trä­ge­rin ei­ner fan­tas­tisch üp­pi­gen tro­pi­schen Flo­ra zu ma­chen. Ur­sprüng­lich war das gan­ze Ge­län­de, wor­auf jetzt un­se­re Häu­ser stan­den, von eben­sol­cher Düne ge­schützt ge­we­sen; die an­de­ren Käu­fer hat­ten sie ein­ge­eb­net, um Vor­gärt­chen zu zie­hen, die nur der Ge­walt des Mee­res ge­gen­über zu klein­lich schie­nen. Nie­mand be­griff mei­ne Hart­nä­ckig­keit, die zwei nack­ten Sand­hü­gel Jahr für Jahr vor mei­nem Hau­sen ste­hen­zu­las­sen, die al­len ein Dorn im Auge wa­ren. Aber ich wuss­te was ich woll­te. Ich gab ih­nen eine et­was ge­fäl­li­ge­re Form, ver­senk­te dann Las­ten schwe­rer Bau­stei­ne dar­ein und be­pflanz­te sie zu­nächst mit Strand­ha­fer, um sie ge­gen Re­gen­güs­se und Stür­me zu fes­ti­gen. Da­nach be­ka­men sie noch meh­re­re Jah­re hin­durch nur das schnell wu­chern­de di­cke Kraut »Fetthen­ne« ge­nannt zu tra­gen, das sie ganz mit sei­nem dunklen Grün und im Som­mer mit großen ro­ten und gel­ben Blü­ten über­schüt­te­te, bis sie gründ­lich mit Wur­zel­werk durch­floch­ten wa­ren. Dann aber pflanz­te ich die sta­chel­be­wehr­te, sich rasch ver­brei­ten­de Aloe an und in Rei­hen die hoch­stre­ben­de Juk­ka; aus ih­rer mes­ser­schar­fen Blät­ter­kro­ne schoss im Früh­jahr und Herbst der mehr als me­ter­lan­ge Sten­gel mit dem mäch­ti­gen wei­ßen Blü­ten­kan­de­la­ber em­por, der die hol­de Ge­stalt des Mai­blüm­chens ver­rie­sen­facht und sei­ne schne­ei­gen Glo­cken im Mond­licht wie Feen­lei­ber schim­mern lässt. Ich lieb­te je­des ein­zel­ne mei­ner Son­nen­kin­der und sprach sie an, als war­te­ten sie auf den Zu­spruch des Men­schen, was ich heu­te noch über­zeug­ter glau­be als da­mals. Mei­ne Pflan­zung ver­mehr­te sich mit un­glaub­li­cher Schnel­lig­keit, das in­di­sche Gras mit sei­nen ho­hen hel­len Bü­scheln we­del­te im See­wind dar­über, und die dicht­be­wach­se­nen, un­be­tret­ba­ren Hü­gel ga­ben mit ih­ren nach al­len Sei­ten star­ren­den Waf­fen den Ein­druck ei­nes eben­so fan­tas­ti­schen wie wehr­haf­ten Boll­werks, das je­doch treff­lich dem Stil der Land­schaft ent­sprach. Kein Wan­de­rer, der nicht über­rascht vor der dich­ten hoch­ge­türm­ten grü­nen Fül­le in­mit­ten der wei­ten un­be­bau­ten Sand­wüs­te ste­hen­blieb, und man­cher nahm das Bild heim­lich in sei­ner Ka­me­ra mit. – Vi­el­leicht war es kin­disch und ist es in der Wie­de­r­er­we­ckung noch, den Bau des klei­nen Gar­tens so wich­tig zu neh­men. Für mich war er mehr, er war mir die er­füll­te Sehn­sucht ei­nes von vorn­her­ein ins Geis­ti­ge ge­pflanz­ten Da­seins nach sei­nem an­de­ren Pol, dem Stoff­li­chen. Wenn mei­ne Hän­de im Erd­bo­den pflanz­ten und schaff­ten, so war mir als wür­de ich durch die­ses Tun im greif­bar Wirk­li­chen erst ein gan­zer Mensch. Kei­ne vom Gärt­ner ge­schaf­fe­ne noch so große und herr­li­che An­la­ge hät­te mir nur ein Hun­derts­tel von dem Glücks­ge­fühl ge­ge­ben, das mich beim An­schau­en mei­ner ei­ge­nen klei­nen Schöp­fun­gen durch­drang. Sie schie­nen die Lie­be, wo­mit ich sie an­blick­te, zu füh­len und durch ihr freu­di­ges Wachs­tum er­wi­dern zu wol­len. Denn Lie­be ist das ir­di­sche Son­nen­licht; nichts Le­ben­des, und stün­de es auf der un­ters­ten Stu­fe, wi­der­steht ihm.

Schnell wuchs die Sied­lung. Auf der einen Sei­te, dem Dorf zu, bau­ten sich Hil­de­brands und Fa­so­las, spä­ter die Wit­we des Zoo­lo­gen Dohrn aus Nea­pel mit großen Vil­len an, auf der an­de­ren in der Rich­tung auf den Fi­u­met­to die ver­wit­we­te Frau An­ge­la Böck­lin und ihr Schwie­ger­sohn Bruck­mann, alle in wei­ten Ab­stän­den mit grö­ße­ren Gar­ten­an­la­gen da­zwi­schen. Die neu­en zo­gen ihre Freun­de nach, aber noch wach­te Ed­gar als Pfad­fin­der und ers­ter An­sied­ler über die Zu­las­sung, dass kei­ne ba­nau­si­schen oder sno­bi­schen Ele­men­te ein­dran­gen, die den auf ad­li­ge Frei­heit ge­stell­ten Geist des klei­nen Men­schen­bun­des ge­fähr­det hät­ten. Er durf­te so wäh­le­risch sein, denn es wa­ren al­les Kli­en­ten von ihm, die ihm nach­zo­gen um auch in der Som­mer­fri­sche die Nähe ih­res ärzt­li­chen Be­ra­ters nicht zu ent­beh­ren. Man leb­te wie eine große Fa­mi­lie, fand sich am Strand zu­sam­men, be­such­te sich ge­gen­sei­tig in den aus Schilf er­rich­te­ten, mit Laub­werk ge­deck­ten Ba­de­hüt­ten, wo man hal­be Tage mit ei­ner Ar­beit sit­zen konn­te. Ein mo­di­sches Trei­ben wie in an­de­ren See­bä­dern durf­te es in For­te nicht ge­ben, größ­te Ein­fach­heit war Ge­bot; die Da­men­welt be­gnüg­te sich mit den von mir er­fun­de­nen Meer­ge­wän­dern von grie­chi­schem Schnitt, die so schön im See­wind bausch­ten; am al­ler­schöns­ten lie­ßen sie sich aus der bil­li­gen wei­ßen Nes­sel her­stel­len, die, wenn feucht aus­ge­wun­den, die schön­ge­bro­che­nen Fal­ten er­gab, wie man sie auf der an­ti­ken Plas­tik sieht. Die meis­te Zeit des Ta­ges ge­hör­te dem Bad und dem La­gern auf heißem Sand, wo Ge­sicht und Glie­der bräun­ten. Die Neu­lin­ge mit ih­ren wei­ßen Glied­ma­ßen, die an ab­ge­zo­ge­ne Häs­lein er­in­ner­ten, wur­den aus­ge­lacht, die wei­ßes­ten wa­ren im­mer die Be­su­cher aus Deutsch­land, aber die Son­ne gab auch ih­nen schnell den Stem­pel. Bei ho­hem See­gang wur­den lan­ge Ket­ten ge­bil­det, die sich bei den Hän­den hiel­ten, da­mit das schwä­che­re Ge­schlecht nicht weg­ge­ris­sen wür­de, und dann spran­gen alle mit der Wel­le. Die Vor­keh­rung war nicht un­nütz, denn das Meer hat­te, wenn der Li­bec­cio län­ge­re Zeit blies, un­sicht­ba­re, höchst ge­fähr­li­che Strö­mun­gen, de­nen schwer zu wi­der­ste­hen war; er­leb­te ich es doch ein­mal, dass in nächs­ter Nähe, fast in Greif­wei­te, ein Freund des Hau­ses, der ein ge­üb­ter Schwim­mer war, ohne dass wir es be­merk­ten, mit ver­zwei­fel­ter An­stren­gung um sein Le­ben rang und noch lan­ge da­nach blau­rot im Ge­sicht kaum den Atem wie­der­fin­den konn­te. Auch wur­de bei star­kem Sturm der Grund völ­lig um­ge­wühlt, es ent­stan­den lo­cke­re San­d­ab­la­ge­run­gen, die un­ter dem Fuße wi­chen, und da­ne­ben tie­fe Schach­te, die den un­er­fah­re­nen Schwim­mer mit ei­nem Wir­bel ein­schluck­ten. So kam es, dass je­den Som­mer das Meer sich die eine oder die an­de­re Beu­te un­ter den Ba­den­den ein­fing; es traf nicht die An­sied­ler, die mit al­len Tücken ver­traut wa­ren, nur die schwer zu war­nen­den Zu­ge­reis­ten. Auf Sankt Anna, so hieß es im Volks­mund, habe das Meer jähr­lich das Recht an ein Op­fer. Ret­tungs­an­stal­ten gab es da­mals noch kei­ne, die Ba­de­wär­ter, die sich mit der Zeit am Stran­de ein­fan­den, konn­ten großen­teils sel­ber nicht schwim­men (ein Miss­stand, den der Fa­schis­mus ab­ge­schafft hat), und ein Boot ver­moch­te sich in der to­ben­den Bran­dung nicht zu hal­ten. Drei bis neun Tage brauch­te je­des Mal der Li­bec­cio, bis er sich aus­ge­tobt hat­te. Da­nach schwamm es sich se­lig in der wie­der­be­ru­hig­ten, son­ne­spie­geln­den Flut; glas­hel­le, blau­ge­rän­der­te Me­du­sen, schön zu se­hen wie Blu­men des Mee­res, schwam­men mit; nur ihre Berüh­rung, die ziem­lich stark brann­te, muss­te man ver­mei­den. Aber das­sel­be Glücks­meer, das uns Men­schen­kin­der be­se­lig­te, lock­te die ar­men be­tör­ten Zitro­nen­fal­ter und an­de­re Ta­ges­schmet­ter­lin­ge in den Un­ter­gang; sie konn­ten der glei­ßen­den Flä­che nicht wi­der­ste­hen, flat­ter­ten hin­aus und im­mer wei­ter, bis sie er­mü­det sich nach Rast um­schau­ten. Oft habe ich ih­nen drau­ßen mei­nen Ba­de­hut als Meer­schiff an­ge­bo­ten, um sie heil zu­rück­zu­brin­gen, aber sie woll­ten nicht, ver­such­ten es lie­ber mit der Wel­le, fuh­ren er­schro­cken wie­der auf, um nach we­ni­gen Flü­gel­schlä­gen aber­mals nie­der­zu­ge­hen, wo­bei sie spur­los ver­schwan­den. – Un­ter­des­sen plät­scher­te un­ser Müt­ter­lein won­ne­voll in dem seich­ten Ufer­was­ser, das so durch­wärmt war, dass Ed­gar es das Kin­der­bad nann­te; für sie war es der Jung­brun­nen, der sie durch das gan­ze Jahr ge­sund und frisch er­hielt. Dass ihr Sohn ihr die An­fangs­grün­de des Grie­chi­schen bei­brach­te und dass wir ihr da­nach zu­sam­men die »Alt­grie­chi­schen Un­ter­richts­brie­fe zum Selbst­stu­di­um« von Koch zum Ge­burts­tag ver­ehr­ten, an de­nen sie sich auch al­lein wei­ter­hel­fen konn­te, das vollen­de­te ihr Glück.

Die kör­per­li­che Sei­te des Hel­lenen­tums ver­wirk­lich­te Van­zet­ti, der Herr des Na­tur­le­bens. Er sam­mel­te die Ju­gend um sich, stell­te Turn­ge­rä­te vor sei­nem Hau­se auf und be­geis­ter­te sie für die da­mals noch we­nig ge­pfleg­te Gym­nas­tik. Wie er sel­ber stolz auf sei­nen Wuchs ei­nes an­ti­ken Rin­gers war und nie an­ders als halb­nackt und tief­ge­bräunt ge­se­hen wur­de, so zog er in For­te ein jun­ges Ge­schlecht her­an, das bei Wett­lauf, Ring­kampf, Ru­dern, Ball­schla­gen und Boc­cia­spie­len sei­nem Meis­ter auch äu­ßer­lich ähn­lich wur­de und mit dem er all­som­mer­lich sei­ne Olym­pia­de fei­er­te, ohne wohl je von Olym­pia ge­wusst zu ha­ben. Heu­te wür­de er mit sei­nen Er­fah­rungs­sät­zen von der Phy­sio­lo­gie der Be­we­gung und dem Ein­fluss der gym­nas­ti­schen Wett­spie­le auf die Cha­rak­ter­bil­dung nur of­fe­ne Tü­ren ein­ren­nen; da­mals wa­ren sie über­ra­schend, und es be­drück­te ihn ei­ni­ger­ma­ßen, dass er sich viel zu flüch­ti­gen Geis­tes wuss­te um sie schrift­lich fest­le­gen zu kön­nen. Auch die Son­nen­bä­der, die er am Strand für sei­ne mit­ge­brach­te Kli­en­tel ein­führ­te, bil­de­ten lan­ge Zeit eine be­staun­te oder be­lä­chel­te Neu­heit. Für ihn be­stand der Be­ruf des Arz­tes we­ni­ger im Hei­len als im Ver­hü­ten von Krank­hei­ten, und lie­ber als Leis­tun­gen am Kran­ken­bett moch­te er sich von den Kli­en­ten die Zeit ver­gü­ten las­sen, wo er sie ge­sund er­hielt. So leg­te er auch den größ­ten Wert dar­auf, über­all, wo er ge­ru­fen wur­de, sel­ber in strah­len­der Ver­fas­sung zu er­schei­nen, weil es ihm fest­stand, dass der Arzt dem Pa­ti­en­ten mit dem Bei­spiel der Ge­sund­heit vor­an­ge­hen müs­se. Er sag­te von sich, dass er nicht mit dem Kopf den­ke, son­dern mit den Po­ren der Haut, und in der Tat be­saß er in sei­nen aufs äu­ßers­te ver­fei­ner­ten Sin­nen Wahr­neh­mungs­or­ga­ne, die ihm Er­kennt­nis­se aus der Na­tur zu­tru­gen, ohne dass er sich mit ih­rer geis­ti­gen Ver­ar­bei­tung quäl­te, weil sie kaum über die Sphä­re des Kör­per­li­chen hin­aus­dran­gen. Die Na­tur hat­te die­sen Men­schen wie kaum einen an­de­ren zum Glück­lich­sein aus­ge­stat­tet. Wenn er früh­mor­gens über die Fel­der ging, so schlürf­te er Won­nen ein; alle blü­hen­den Bü­sche, die harz­duf­ten­den Bäu­me, die aro­ma­ti­schen Kräu­ter tru­gen ihm ihre Wohl­ge­rü­che zu und er schwelg­te noch im Be­schrei­ben. In dem Strei­chen der Mor­gen­luft über sei­nen nack­ten brau­nen Ober­kör­per woll­te er schmei­cheln­de Nym­phen­fin­ger er­ken­nen; so war ihm in der Tat jede Pore sei­ner Haut eine Tür, um das Glück ein­zu­las­sen. Eben­so glück­lich wa­ren sei­ne Au­gen, die jede Schön­heit der Land­schaft bis her­ab zu der feins­ten Schat­tie­rung des Grüns der Fel­der wahr­nah­men. Gute Mu­sik, gleich­viel ob erns­ten oder hei­te­ren Cha­rak­ters, ver­setz­te ihn in einen Glück­stau­mel, ohne sein Ge­müt zu er­schüt­tern; wid­ri­ge Geräusche da­ge­gen, wie sie den fein­ner­vi­gen Ed­gar zur Verzweif­lung brach­ten, er­reich­ten ihn gar nicht. Der gan­ze Mensch war die not­wen­di­ge Ska­la von Kom­pli­men­tär­far­ben zu der Far­bens­ka­la sei­nes schwie­ri­gen Freun­des.

94,80 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Объем:
5251 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783962812515
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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