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II
Im Goldgräberland

Neuntes bis vierzehntes Kapitel

August bis Oktober 1863

Neuntes Kapitel

Für ein paar Minuten sind sie mit Köberer allein im Saloon. Der düstere Gastraum, der nur von ein paar Öllampen beleuchtet wird, ist eigentlich nicht mehr als ein grob gezimmerter Bretterverschlag. In einigen Wochen wird er bereits wieder leer stehen. Kalter Wind wird dann über den Tanzboden in der Mitte des Raumes pfeifen und Schnee wird durch die Löcher im Dach herabrieseln. Wenn es Winter wird in den Bergen rund um den Lake Tahoe, bleibt kaum jemand freiwillig im Goldgräbergebiet.

Der Abend beginnt mit einem schrillen Quäken, Stöhnen, Pfeifen und Klingeln aus Köberers tragbarer Drehorgel. Luise kennt die fünf oder sechs Melodien, die er aus dem schwarzen Kasten herausleiert, längst auswendig. Schon vor dem ersten Ton weiß sie, welches Stück als nächstes erklingen wird.

Und doch erwacht mit dieser Musik für einen kurzen Moment wieder die Sehnsucht in ihr. Wie damals, in den Gassen von Langenhain, träumt sie von Amerika. Von einem Land, in dem sie in Wirklichkeit längst angekommen ist.

Kaum eine Woche waren sie in San Francisco, da saß Köberer schon beim Schneider in der Gaststube. Luise konnte den Alten mit dem schütteren Haar und der speckigen Jacke von Anfang an nicht leiden. Nichts an ihm sah so blendend schön aus, wie sie sich das Leben in Kalifornien vorgestellt hatte.

„Er ist ein Mädchenhalter“, zischte Anna ihr zu, bevor sie zu ihm an den Tisch geschoben wurde, „streng dich ein bisschen an!“

Sie lächelte brav zur Begrüßung, aber dann rutschten ihre Mundwinkel wieder nach unten. Köberer schien es egal. Die Wahl zwischen Luise und der blassen, verstockten Tesi fiel ihm nicht schwer. Und Anna, die kurz vor der Niederkunft stand, hatte Schneider ihm gar nicht erst angeboten.

Was ein Mädchenhalter ist, wusste Luise in San Francisco noch nicht so genau. Doch sie war froh, dass sie nicht mehr nutzlos mit den Schneiders in der Herberge herumhocken musste.

Inzwischen hat sie gelernt, welchem Geschäft diese Männer nachgehen: Sie nennen sich Musikanten, aber in Wirklichkeit können sie nur eine Drehorgel bedienen. Ihr Geld verdienen sie damit, deutsche Mädchen in den Saloons der Goldgräberstädtchen zum Tanzen und Trinken zu vermieten. Hurdy Gurdy Girls nennt man sie hier, weil sie anfangs zur Musik von Drehleiern durch das Goldgräberland zogen. Die Arbeiter, die den ganzen Sommer über in den Minen schuften, verzehren sich regelrecht nach einem weiblichen Wesen und sind bereit, einen oder sogar zwei Vierteldollar für jeden Tanz zu bezahlen.

Sobald die ersten Töne nach draußen dringen, strömen Burschen herein. Schon seit einiger Zeit lungern sie auf der staubigen Hauptstraße herum, warten nur auf diesen Moment. Ihre erste Runde müssen die Mädchen in ihren bauschigen Röcken allein auf dem Tanzboden drehen und sich von allen Seiten begutachten lassen. Erst danach nimmt der Wirt Bestellungen für Tänze und Drinks entgegen.

Noch nie war Luise so wunderschön angezogen. Ihr Kleid ist aus einem schimmernden dunkelgrünen Stoff, wenn auch etwas zu klein: Das Oberteil endet weit oberhalb ihres Bauchnabels. Der Rock, der über der nach oben verrutschten Taille in unzähligen Falten aufspringt, reicht nur ein kleines Stück über ihre Knie. Und die schwarze Miederjacke schnürt sie besser nicht enger zusammen: Sie spannt ohnehin über der Brust und kneift unter den Armen.

Sie weiß ja, dass sie nicht die Erste ist, die diese Sachen trägt. Jeden Tag näht sie ein paar Knöpfe wieder an, flickt Nähte und stopft Löcher, damit ihr die ganze Pracht nicht in Fetzen vom Leib blättert.

Billiger Tand, würde die Mutter schimpfen: Solche Kleider taugten nicht dazu, eine Frau für alle Festtage ihres Lebens auszustatten. Aber die Bäuerin Ludwig ist daheim in der Wetterau, und Luise mag ihr Tanzkostüm sehr. Wie schön wäre es, wenn Elisa sie einmal so fein herausgeputzt sehen könnte!

Die Schnürstiefel, die sie vom Köberer bekommen hat, sind leider auch etwas eng. Selbst wenn sie die Senkel nur locker bindet, drückt das Leder schmerzhaft auf ihren Spann, stößt sie sich jeden Abend die Fußspitzen blutig. Es nützt auch nicht viel, sich die Stofftücher, die an einigen Tagen des Monats ganz anderen Zwecken dienen, um die Zehen zu wickeln. Immerhin ist das Schuhwerk so robust, dass sie es kaum spürt, wenn ihr ein Bursche auf die Füße tritt.

Schnell füllt sich der Saloon mit dem Lärm und den Ausdünstungen Dutzender Männer. Den ganzen Tag haben sie in Felsen und im Dreck herumgepickelt oder im eiskalten Flusswasser gestanden. Jetzt stinken sie nach Schweiß und Schlimmerem.

Anfangs hat sich Luise vor diesen Kerlen mit ihren langen Bärten und den wilden Mienen gefürchtet.

„Was ist los?“, hat Köberer sie nach dem ersten Abend angeschnauzt, „was ziehst du dauernd für eine sauertöpfische Miene? Glaubst du, dass die Burschen das mögen? Die wollen mit dir ihren Spaß haben. Nur dafür zahlen sie!“ Luise wurde rot und antwortete nicht.

„Soll ich dich wieder zum Schneider bringen? Und mein Geld zurückverlangen, weil du nichts taugst?“, schimpfte Köberer weiter.

Bitte nicht, flehte sie stumm. Nicht jetzt, wo Anna in diesem Zustand war oder ein gerade erst geborenes Kind in den Armen hielt. Schneider würde sie bestimmt halbtot schlagen, wenn sie vor dem Ende der Saison nach San Francisco zurückkäme.

„Du kannst froh sein, dass der Georg dich so spät im Jahr noch vermietet hat“, hat Margarethe ihr zum Abschied zugezischt, „ist jedenfalls besser, als dich in eine Hafenspelunke zu geben.“

Da übt sie lieber zu lächeln. Mit dem kleinen, fast blinden Spiegel vom Waschtrog hockt sie tagsüber auf einem Balken hinter dem Haus. Stundenlang probt sie ihre Mundwinkel weit nach oben zu ziehen, bis ihr ein Grinsen gelingt, das einen ganzen Tanzabend lang wie festgefroren in ihrem Gesicht sitzen kann.

Wenn sie nach fünfzig, sechzig oder noch mehr Tanzrunden endlich auf ihr Schlaflager auf dem Dachboden sinkt, weicht die Grimasse wie von selbst aus ihrem Gesicht. Ihre Füße schmerzen, die Beine sind dick, die Augen brennen von dem beißenden Qualm im Saloon. Ihre Haut juckt, ihre Ohren sind wie taub von dem ständigen Lärm und sie will einfach nur schlafen.

Von den drei anderen Mädchen auf ihrem Lager weiß sie nicht viel mehr als die Vornamen: Marie, Elisabeth, Mathilde. Zwei sind Schwestern, gleichen sich mit ihren blonden Zöpfen und den schlichten, bäurischen Gesichtern wie Zwillinge. Die Dritte, Mathilde, ist ein hoch aufgeschossenes, dunkelhaariges Mädchen mit groben Gliedmaßen und Gesichtszügen. Sie ist die Einzige, die es wagt, dem Köberer seine Hand wegzuschlagen, wenn er ihren Hintern zu tätscheln versucht. Leider hat sie die abstoßende Gewohnheit, nach jedem Satz geräuschvoll ihre Spucke hochzuholen und ihren Mund hasserfüllt in die Breite zu ziehen.

Alle vier Mädchen stammen aus hessischen Bauerndörfern und sprechen denselben Dialekt. Luise versteht jedes Wort von den anderen und mag trotzdem nicht mit ihnen schwatzen.

Am Morgen bleibt sie so lange wie möglich liegen. Unten im Saloon erwartet sie doch nur der kalte Rauch vom Vorabend und die fade Grütze, die der Wirt ihnen hinstellt. Und manchmal Köberer. Wenn er den Vormittag über nicht schnarchend im Planwagen liegt, versucht er, sie anzutatschen, oder befiehlt ihr herrisch, den Tanzboden zu schrubben.

Erst gegen Mittag stiehlt sie sich deshalb nach unten, setzt sich in die milde Spätsommersonne auf den Hinterhof und stichelt stumm an ihrer Kleidung herum. Oft hocken die anderen Mädchen schon dort, lachen und schwatzen vertraut miteinander und bemerken Luise kaum.

Was geschieht, wenn eine mit einem Burschen im Hinterzimmer des Saloons verschwindet, will sie lieber nicht wissen. Mit leeren und gleichgültigen Gesichtern kehren sie danach auf den Tanzboden zurück, während die Männer blöde grinsend in die tiefschwarze Nacht hinaus stolpern.

Einmal hat Luise heimlich einen Blick in diesen Verschlag geworfen. Sie hat darin nur ein zerwühltes Lager erblickt und einen schäbigen Hocker, auf dem eine Schüssel mit grauem Wasser stand.

Nur noch ein paar Wochen, sagt sie sich jeden Abend nach dem Gebet. Dann bringt Köberer sie zurück nach San Francisco. Er hat es versprochen.

Wenn sie morgens die Augen aufschlägt, denkt sie als Erstes an Dora. An die Brüder, an die Tiere im Stall, den Vater, die Mutter und die Großmutter. Manchmal grübelt sie auch darüber nach, wohin es Elisa inzwischen verschlagen hat. Wie schön war es doch, als sie noch zusammen waren!

Sogar nach dem schäbigen Schlaflager, das sie mit Anna und Tesi geteilt hat, sehnt sie sich jetzt manchmal.

Zehntes Kapitel

Seelenruhig nestelt Mathilde zwei Vierteldollarmünzen aus ihrem Strumpfband und lässt sie in ihrem Bündel verschwinden.

„Woher hast du das Geld?“, fragt Luise und reibt sich erstaunt die Augen. Sie ist gerade erst aufgewacht.

„Woher wohl?“, die Andere grinst schief, „kannst du dir doch denken. Bekommen habe ich es.“

„Von Gästen? Und musst es nicht beim Köberer abgeben?“

Mathilde sieht sie verächtlich an: „Sag mal, wie lang bist du schon in Kalifornien?“

„Erst diesen Sommer sind wir in San Francisco angekommen.“

„Verstehe! Dann bist du zum ersten Mal hier oben. Musst wohl noch einiges lernen.“

Luises wird warm. Ihre Wangen glühen.

„Also, Lektion Nummer eins,“ beginnt Mathilde herablassend, „ich erklär es dir auch nur, weil du uns sonst das Geschäft versaust: Wenn du mit einem nach hinten gehst, muss er dafür einen oder zwei Dollar beim Wirt bezahlen. Im Voraus. Klar?“

Luise nickt. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Sie weiß, worum es geht. Glaub bloß nicht, dass Männer dafür immer ins Bordell gehen müssen, hat Elisa einmal gesagt. Es gibt überall welche, die es für Geld machen.

„Lektion Nummer zwei“, fährt Mathilde unwirsch fort, „wenn er mit dir allein ist, muss er dir zusätzlich mindestens einen Vierteldollar geben. Oder mehr, wenn er Extras will. Du lässt ihn erst ran, wenn er geblecht hat, klar? Das Geld kannst du dir in dein Strumpfband stecken. Oder sonst wohin.“

„Und was sagt Köberer dazu?“, Luise versucht, sich ihre Unbedarftheit nicht anmerken zu lassen, „Er bekommt es doch bestimmt mit!“

„Natürlich“, schnaubt Mathilde, „aber er ist ja nicht blöd. Er kann sich denken, dass wir es nicht umsonst machen.“

„Und was ist, wenn der Sheriff davon erfährt?“

„Ha!“, geräuschvoll zieht Mathilde ihre Spucke hoch, „was soll er schon machen? Was glaubst du, warum der so häufig im Saloon herumhängt? Etwa um uns zu kontrollieren?“ Sie holt Luft: „Natürlich weiß jeder, dass die Tanzerei im Saloon verboten ist. Wer dabei erwischt wird, muss ins Gefängnis. Das gilt für den Mädchenhalter, den Gastwirt und sogar für uns Mädchen.“ Sie wirft Luise einen gehässigen Blick zu: „Aber du hörst das ja anscheinend zum ersten Mal. Ist vielleicht auch besser, wenn du weiter so tust, als wärst du die Unschuld vom Lande. Manchen Männern scheint es ja zu gefallen.“

Unvermittelt springt sie auf und poltert die Treppe in den Gastraum hinunter, als habe sie dort etwas Wichtiges zu erledigen.

Luise geht die Frage von nun an nicht mehr aus dem Kopf: Wie kann sie etwas eigenes Geld verdienen? Sie wird es brauchen, wenn sie eines Tages Dora nach Amerika holt. In ihrem Kontrakt steht, dass sie 50 Gulden pro Jahr zusätzlich bekommen kann, wenn sie folgsam und fleißig ist. Aber was bedeutet das?

Sie tanzt mit jedem, der danach verlangt, eine Runde, hat sich dem Dienstherren noch nie widersetzt. Aber sie ist nicht so naiv, zu glauben, dass Köberer sie allein dafür extra entlohnen wird.

„Wenn dir ein Kerl eine Münze zusteckt, gib sie mir,“ hat er ihr gleich zu Anfang befohlen, „die Burschen blechen beim Wirt. Für alles. Glaub nicht, dass du deine Dollars irgendwo verstecken kannst. Das lockt nur Langfinger an.“

„Wenn ich ein Trinkgeld bekomme, bewahrt ihr es für mich auf?“, fragte sie eifrig.

„Natürlich nach Abzug aller Kosten,“ knurrte er.

Luise nickte verständig. Aber im Stillen fragte sie sich, was der Mädchenhalter meinte. Für ihr Essen, die Unterkunft, die Kleidung und die Reisen hatte Schneider aufzukommen, so stand es im Kontrakt.

Ihr Album hat sie kaum mehr angerührt, seit sie mit Elisa zusammen auf der City of New York englische Wörter gesammelt hat. Jetzt kramt sie das Büchlein hervor, schlägt es auf, nimmt einen Stift zur Hand und beginnt Zahlenreihen untereinander zu schreiben.

Die vier hessischen Mädchen, so rechnet sie aus, bringen es an einem Tanzabend im Saloon auf etwa einhundert Dollar. Von diesem Verdienst zieht der Wirt bestimmt etwas für sich selbst ab, und das nicht nur für Kost und Logis. Zusätzlich verdient er an den Drinks, die sich seine Gäste genehmigen und den Tänzerinnen spendieren müssen.

Was übrig bleibt, bekommt Köberer, der von seinen Einnahmen wiederum etwas an Schneider abgeben muss. Aber was verdienen die Mädchen selbst damit, dass sie sich von all den Kerlen anfassen und im Kreis herumschwenken lassen? Plötzlich kommt ihr der Mietpreis, den der Vater für sie bekommt, nicht mehr so märchenhaft hoch vor.

Ein Mädchen kann in einer Saison etwa zweieinhalbtausend Dollar einbringen, rechnet Luise weiter, wenn es an hundert Abenden im Saloon tanzt. Ziemlich viel, selbst wenn man alle Kosten für die Reise, die Kleidung, ihre Unterkunft, das Essen, den Wirt und den Mädchenhalter davon abzieht. Ein amerikanischer Dollar, das hat ihr Elisa auf der Überfahrt in Erfahrung gebracht, ist etwa soviel wert wie in der Heimat zwei Gulden.

Was aber geschieht mit diesen Schwindel erregenden Beträgen? Solange Luise auch mit dem Bleistift an den Zahlenkolonnen entlangfährt, sie findet es nicht heraus.

Weder Köberer noch die Gastwirte, bei denen sie bisher abgestiegen sind, wirkten besonders reich. Ihre Häuser sind schäbig, das Essen fade, und kaum einer hat eine Frau.

Elftes Kapitel

„Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde!“ Bevor sie ihre Augen schließt, haucht sie spät in der Nacht noch die Lutherworte.

Vielleicht ist es schon geschehen, denkt sie jetzt oft: Vielleicht dient sie bereits einem bösen Feind und nicht mehr Gott, ihrem Herrn.

Sie weiß, dass viele Burschen mehr von ihr wollen als nur tanzen. Sie versteht die unausgesprochene Frage genau, wenn einer beharrlich auf die Tür zum Hinterzimmer starrt und seine Hände an ihrem Körper herabwandern lässt. Dann reißt sie sich los und schüttelt zornig den Kopf. Und schämt sich zugleich dafür, dass sie die Männer zu solchen sündigen Wünschen verleitet.

Ihr beharrlicher Widerstand und die Furcht, die hinter dem starren Lächeln aufblitzt, scheinen deren Begehren aber noch zu steigern. Sie prügeln sich fast darum, ihre Dollars für einen Tanz mit Luise auszugeben und wollen ihr anschließend viele Drinks spendieren.

Wie schnell hat ein Mädchen seine Unschuld verloren und ist für immer verdorben! Fast jeden Sonntag hat der Pfarrer in Langenhain auf der Kanzel davor gewarnt. Seine Predigten hat sie damals oft nicht richtig verstanden. Aber mit verdorbenem Fleisch oder Gemüse kennt sie sich aus: Man darf es nicht einmal mehr an die Schweine verfüttern, sondern muss es gleich auf den Misthaufen werfen.

Zum Glück ist das hellgelbe Zeug, das der Wirt ihnen in kostbaren Kelchen aus dünnem Glas serviert, kein echter Schaumwein, sondern nur kalter, verdünnter Tee. Luise kann viele Gläser davon trinken ohne schwindelig zu werden.

In der Heimat hat sie oft gesehen, wie es Leuten ergeht, die zu viel Bier oder Branntwein in sich hineinlaufen lassen: Irgendwann liegen sie mit dem Gesicht im Dreck.

Und keiner hilft ihnen auf.

Zwölftes Kapitel

Jemand rüttelt an ihrer Schulter. Sie blinzelt unwillig. Ihr Kopf schmerzt, und es ist viel zu hell. Durch ein Loch im Dach fällt ein Sonnenstrahl und blendet sie.

Für einen Moment weiß sie nicht, wo sie ist.

Dann fällt ihr wieder ein, was Köberer am Abend angekündigt hat: Heute reisen sie weiter. Es sei an der Zeit für einen anderen Saloon in einer anderen Goldgräberstadt. Die Männer gäben mehr Geld aus, wenn man ihnen immer wieder frische Mädchen anböte. „Die sollen ruhig weiter daran glauben, dass sie eine von euch erobern können“, hat er mit einem schmierigen Grinsen zum Wirt gesagt.

„Aufwachen! Und zwar ein bisschen plötzlich!“, bellt Mathilde sie an.

Luise ist todmüde, fühlt sich wie zerschlagen, beginnt aber folgsam, sich aus ihrer Decke zu schälen. Vielleicht findet sich später im Planwagen ein Platz zum Weiterschlafen.

„Beeil dich“, drängt Mathilde.

„Sind alle schon bereit? Schickt dich Köberer?“, fragt sie verwirrt. Die Andere lacht verächtlich auf: „Der sagt nicht viel. Liegt mucksmäuschenstill in seinem Wagen und rührt sich nicht.“

„Es ist ja noch früh am Morgen. Befiehlt der Wirt, dass wir schon abreisen?“

„Der hat sich noch nicht blicken lassen. Schnarcht in seiner Kammer“, Mathilde klingt jetzt nicht mehr ganz so selbstsicher, „aber Köberer – er sieht krank aus. Oder ich weiß nicht. Es muss ganz plötzlich gekommen sein.“

Schlagartig ist Luise wach. Zitternd klettert sie hinter der anderen Deutschen die Stiege hinab und stolpert aus dem Saloon ins grelle Sonnenlicht.

Hinter dem Haus steht der Planwagen, in dem sich Köberer schlafen legt, sobald der letzte Gast den Saloon verlassen hat. Sein klappriger Gaul, den er an einen Baum gebunden hat, starrt sie trübsinnig an.

Vorsichtig schlägt Luise die Plane zurück. Ein Kopf mit fettigem, grauem Haar lugt unter einer schmuddeligen Decke hervor. Seltsam still liegt der Mann da.

„Herr Köberer?“, fragt sie leise.

Er rührt sich nicht.

„Wir müssen nach einem Arzt schicken“, stößt sie erschrocken hervor. Ihr Herz schlägt bis zum Hals.

„Dem hilft keiner mehr“, erwidert Mathilde grob.

Scheu streckt Luise ihre Hand nach der Stirn des Mannes aus: Sie ist eiskalt.

„Dann wecken wir den Wirt. Schnell! Er muss dem Sheriff Bescheid geben!“

„Polizei? Bist du noch bei Trost?“

Luise antwortet nicht.

„Den Köberer macht keiner mehr lebendig, das steht fest. Wenn der Sheriff kommt, glaubt er bestimmt, dass wir Mädchen den Alten kaltgemacht haben. Und nimmt sich seine Sachen: das Pferd, den Wagen und so.“ Kalt und drohend fährt Mathilde fort: „Und uns lässt er in San Quentin einsperren.“

Luise erschrickt: Von diesem Gefängnis hat sie schon gehört. Dorthin werden Schwerverbrecher aus San Francisco gebracht. Wer einmal in San Quentin landet, so heißt es, kommt nie wieder heraus. Egal ob Mann oder Frau.

„Vor ein paar Jahren haben sie hier oben ein Mädchen gehängt. Es war ihnen egal, dass sie schwanger war. Hat wohl einen Kerl erstochen, der ihr die Tür eingetreten hat oder so. Die Goldgräber haben kurzen Prozess mit ihr gemacht“, weiß Mathilde, „willst du, dass uns dasselbe passiert?“

„Aber wir haben doch nichts gemacht“, wendet Luise kläglich ein. Erst jetzt bemerkt sie die Schwestern, die mit weit aufgerissenen Augen stumm im Gras sitzen und ihre Bündel an sich pressen.

„Wie blöd bist du eigentlich? Ich habe dir doch schon einmal erklärt, dass alles, was wir hier tun, vom Gesetz verboten ist. Alles!“ Mathilde zieht ein Gesicht, als säße sie in einer Amtsstube und leiert mechanisch die Vorschrift herunter: „Das Tanzen, Herumziehen und öffentliche Auftreten in Lokalen, in denen Spirituosen, weinartige Getränke oder Bier ausgeschenkt werden, ist ein Vergehen und wird mit einer Geldstrafe oder mit Gefängnis bestraft.“

„Schneider hat es mir aber befohlen!“ Luise kämpft mit den Tränen. Sie mag nicht glauben, dass ihr Vater, der brave und gottesfürchtige Balthasar Ludwig, unter den Augen des Bürgermeisters von Langenhain einen Kontrakt unterschrieben hat, der gegen das Gesetz verstößt.

„Mach dir mal nicht ins Hemd“, herrscht Mathilde sie an, „hier oben in den Bergen lassen sie uns ja auch meistens in Ruhe. Wissen selbst, dass die Jungs ab und zu ein bisschen Abwechslung von der Schinderei brauchen. Aber es wäre schön blöd, jetzt zum Sheriff zu rennen und ihm die Ohren vollzuheulen.“

Mit einem langen Blick auf den Planwagen fügt sie hinzu: „Wen interessiert schon ein toter Mädchenhalter?“

„Er hätte mich nach San Francisco zurückgebracht. Zu Schneider. Er hat es versprochen“, schnieft Luise, während die Tränen über ihr Gesicht laufen.

„Was willst du denn bei dem? Hör auf zu heulen. Wir müssen hier weg, und zwar schnell.“

„Und Köberer?“

„Nehmen wir mit. Wenn der Wirt aufwacht, sind wir schon über alle Berge. Er lässt bestimmt nicht nach uns suchen. Lieber streicht er das Geld von gestern Abend alleine ein.“

Luise schluckt. Sie denkt an die vielen schönen Vierteldollarmünzen, die ihre Tanzpartner beim Wirt abgegeben haben.

Der Gaul, den Köberer günstig auf einem Viehmarkt erstanden hat, lässt sich nur widerwillig vor den Planwagen spannen. Schwitzend zerren die Mädchen an dem bockigen Tier herum, das ihnen mehrmals schmerzhaft vor die Schienbeine tritt.

Viele nehmen hier oben Ochsen als Zugtiere, weil sie kräftiger und billiger sind. Mit so einem Gespann würden sie aber erst recht nicht zurechtkommen.

Nachdem sie das Pferd und die Deichsel endlich miteinander verknotet haben, springen Luise, Marie und Elisabeth schnell unter das Stoffdach des Fuhrwerks. Mathilde setzt sich auf den Kutschbock und schwingt die Peitsche. Alle paar Meter scheut der Gaul. Dann schlägt und schreit sie so lang auf ihn ein, bis er wieder ein Stückchen weiter trottet.

Auf der staubigen Hauptstraße des Städtchens ist es noch menschenleer. Die Männer, die am frühen Morgen nicht zur Arbeit in den Goldminen sind, schlafen erst einmal ihren Rausch aus.

Bald erreichen sie die bewaldeten Hügel am Stadtrand. Auch hier geht es nur mühsam voran. Bei jedem Anstieg bleibt das Pferd einfach stehen. Die Mädchen müssen aussteigen und nebenherlaufen, manchmal sogar das Fuhrwerk schieben, um über den Hügel zu kommen. Kaum aber geht es wieder bergab, rast das Pferd los, als sei es auf der Flucht vor seiner schweren Fuhre.

Kreischend klammern sie sich dann an die Holzbogen unter der Plane. Alles, was im Wageninneren nicht festgezurrt ist, fliegt wild durcheinander. Sogar der starre Leichnam rollt auf der Ladefläche platschend hin und her, vom Rücken auf den Bauch und wieder zurück. Angewidert hält Luise den Toten mit den Füssen von sich weg.

Zwar könnte man das ganze Fuhrwerk mit einem hölzernen Hebel direkt neben dem Kutschbock bremsen. Aber Mathilde weiß diesen nicht zu bedienen. Wahrscheinlich hat sie daheim nur ein paar Mal neben dem Vater vorne gesessen, aber nie kutschieren gelernt.

Gelegentlich gibt ein Spalt zwischen den Stoffbahnen einen Blick auf die Landschaft draußen frei: Die riesigen Nadelbäume und bizarr geformten Felsbrocken am Wegesrand wirken viel größer und wilder als in der Heimat.

Sie fahren den ganzen Tag. Luise merkt kaum, wie hungrig und durstig sie ist. Zwischendurch fallen ihr manchmal die Augen zu, aber entsetzt wacht sie wieder auf, wenn der kalte, steife Leib des Köberers auf ihre Beine kippt.

Als die Sonne schon tief steht, bringt Mathilde das Fuhrwerk endlich zum Halten und wendet sich zu den Mädchen um: „Hier bleiben wir! Es wird bald dunkel. Ist Zeit zum Schlafen.“

„Hier?“, fragt Elisabeth erschrocken und klammert sich verängstigt an ihre Schwester.

„Wo sonst?“ Mit einem Blick auf die Leiche fügt Mathilde hinzu: „Bevor wir den da nicht los sind, können wir uns nirgendwo blicken lassen.“

„Im nächsten Ort gibt es bestimmt eine Kirche“, schlägt Luise eifrig vor, „und einen Pastor, der ihn bestatten kann.“ Einmal hat sie unterwegs einen solchen Friedhof mit Gräbern von deutschen Männern gesehen.

„Du hast es immer noch nicht kapiert?“, fragt Mathilde verächtlich, „was willst du dem Herrn Pastor denn erzählen?“

„Ich weiß schon, dass Köberer sich versündigt hat“, erwidert Luise. Sie hat den ganzen Tag darüber nachgedacht: „Er war bestimmt kein frommer Christ, und er ist auch nicht jeden Sonntag zum Gottesdienst gegangen. Doch unser Herr in seiner Güte vergibt allen. Er nimmt jeden in sein Himmelreich auf, wenn man ihn um Vergebung bittet.“ Sie erinnert sich genau, was sie im Konfirmandenunterricht gelernt hat: Dass Jesus am Kreuz gestorben ist, um für die irdischen Sünden der Menschen zu büßen und sogar für die schlimmsten Trinker. Nur die Katholischen in Ober-Mörlen glaubten noch an die Hölle und das Fegefeuer und fürchteten sich vor dem Teufel.

„Oha, wir haben eine Heilige unter uns!“, spottet Mathilde, „habe ich mir doch gleich gedacht, dass du ein ganz frommes Schäfchen bist.“ In einem Ton, der keinen Widerspruch duldet, bestimmt sie: „Heute Nacht bleibt Köberer bei uns. Im Wagen. Wenn wir ihn rausschmeißen, locken wir damit nur Aasfresser an.“

Die drei Mädchen starren sie erschrocken an.

„Keine Sorge. Der Alte kann euch jetzt nicht mehr antatschen.“

Zu viert teilen sie sich die schmale Ladefläche neben dem Leichnam und breiten, vor Kälte zitternd, Köberers Decke über sich aus. Luise, die direkt neben dem Toten zu liegen kommt, kann sich in dieser Enge kaum rühren. Die Haare stehen ihr zu Berge.

Seltsame Geräusche dringen von draußen herein. Das Rascheln, Trapsen und Jaulen im Wald klingt ganz anders als im Forst bei Langenhain. So oft haben Burschen ihr von den wilden Tieren hier oben erzählt. Riesige Bären, Luchse und Wölfe wagten sich manchmal bis zu den Hütten der Goldgräber vor. Außerdem schlichen Indianer durch die Wälder.

Schweißgebadet richtet sie sich auf: „Ich setze mich auf den Kutschbock und halte Wache. Dann könnt ihr jedenfalls schlafen.“

„So ein Quatsch!“, knurrt Mathilde gereizt, „willst du draußen den Lockvogel spielen? Leckeres, frisches Fleisch?“

Sie hat Recht. Und doch mag Luise keine Sekunde länger zwischen dem eiskalten Toten und den Mädchen eingequetscht liegen. Leise richtet sie sich auf, beginnt im Dunkeln herumzukramen und einen Wall aus Kisten und Bündeln am Fußende ihres Schlaflagers aufzuschichten. Als sie darüber krabbelt, um sich ganz hinten im Wagen quer zu legen, atmen die anderen drei erleichtert auf.

Zum Zudecken findet sie einen leeren Futtersack. Sie zieht ihre Knie bis zum Bauch hoch, schlingt die Arme darum und stemmt ihre Füße gegen die tragbare Drehorgel.

Einschlafen kann sie auch hier nicht. Sie zittert vor Angst und vor Kälte. Immer wieder kreisen ihre Gedanken um die Frage, was jetzt werden soll. Ob sie jemals nach San Francisco zurückkann? Und eines Tages sogar in die Heimat?

Luise erinnert sich noch ganz genau an Langenhain, an alle Gassen und Häuser, die Kirche, den Friedhof, den Brunnen, das Waschhaus, die Schule und das Schloss von Ziegenberg. Und die Menschen dort: ihre Namen, das Aussehen, die Kleidung, die Stimmen. Um sich die Zeit zu vertreiben, lässt sie ihre ganze Familie an sich vorbeispazieren: den Vater, die Mutter, die Dora und die Brüder. Dann die Nachbarn, den Pfarrer, den Bürgermeister und den Lehrer Faber. Die Mägde und Bauerntöchter im Waschhaus. Und alle Kinder, mit denen sie zusammen zur Schule gegangen ist.

Auch an die Frau, die ganz allein in einem Haus am Waldrand lebt und von allen in Langenhain „die Amerikanerin“ genannt wird, erinnert sie sich genau. Bettelarm sei diese gewesen und ein Waisenkind, so erzählten die Alten im Dorf, als sie mit einem Händler ins Land ging. Jahre später kam die Amerikanerin mit Taschen voller Geld zurück, kaufte einem verarmten Bauern seinen Hof ab und holte Handwerker aus Frankfurt, um das Wohnhaus fein herauszuputzen. Ihr Knecht, so hat Luise im Waschhaus aufgeschnappt, schlafe nicht immer bei den Tieren im Stall, sondern manchmal bei seiner Herrin im Bett.

Als Einzige in Langenhain hielt sie Pferde, und das anscheinend nur zum Zeitvertreib. An Sonntagen konnte man sie manchmal durch die Feldmark galoppieren sehen, angetan mit den Beinkleidern eines Mannes.

Einmal hat Luise mit ihr gesprochen. Als sie zum Wasserholen am Brunnen war, kam die Amerikanerin angeritten, schwang sich lässig aus dem Sattel und führte das Tier zur Tränke.

„Ganz schön heiß heute“, bemerkte sie grußlos und wedelte ein paar Fliegen weg.

„Guten Tag die Dame!“ Beinahe hätte Luise vor Ehrfurcht einen Knicks vollführt. Sie wusste nicht, was sich gegenüber einer Frau schickt, von der es hieß, sie besitze ein Schießeisen und wisse es auch zu bedienen.

„Fast wie drüben“, fuhr diese fort, als habe sie den artigen Gruß nicht bemerkt, „wie im Süden von Amerika, wo die Baumwolle wächst.“

„Ihr seid dort gewesen und habt es mit eigenen Augen gesehen?“ Luises Neugierde war stärker als ihre Scheu.

„Allerdings. Amerika ist phantastisch. Aber du musst dort alleine zurechtkommen. Da hilft dir keiner.“ Zum ersten Mal sah die Frau Luise direkt an: „Wenn du es wirklich wissen willst, fährst du am besten selbst hin.“

„Das wäre schön“, seufzte diese sehnsüchtig, „aber meine Eltern … der Vater bleibt in der Heimat. Hier ist unsere Scholle, sagt er. Der Herrgott hat uns nicht dafür gemacht, durch die weite Welt zu reisen.“

„Dann gehst du halt allein“, erwiderte die Amerikanerin aufmunternd, „junge Mädchen sind drüben immer gefragt.“ Luise starrte beklommen auf den dünnen Wasserstrahl, der aus dem Rohr in den Brunnen sprudelte.

„Setz einfach nur einen Fuß vor den anderen“, die Frau kletterte wieder auf ihr Pferd, „immer einen Fuß vor den anderen. So kommst du bestimmt an dein Ziel.“

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9783962580704
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