Читать книгу: «Hurdy Gurdy Girl», страница 3

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Schon am Mittag hat sie den ziehenden Schmerz im Bauch bemerkt, und jetzt wird es immer schlimmer. Sie presst ihre Lippen aufeinander, damit Anna und Tesi sie nicht stöhnen hören.

Verstohlen schiebt sie ihr Hemd hoch, legt einen Finger zwischen die Beine und schnuppert daran: Es riecht nach Eisen. Bald wird das Blut in Schwällen aus ihr herausströmen, das Laken verschmutzen und zu braunen Bröckchen in ihrem Hemd gerinnen.

Leise richtet sie sich noch einmal auf, greift nach ihrem Bündel, kramt die Tücher heraus, die sie von der Mutter bekommen hat, und legt sie sich zwischen die Beine.

Klumpig und hart wird der Stoff werden und tagsüber bei jedem Schritt ihre Oberschenkel aufscheuern. Doch was soll sie machen? Sie kann nicht wie die Mägde einfach ohne Unterzeug laufen und sich breitbeinig hinstellen, damit alles aus ihr herausläuft.

Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie hat so gehofft, dass diese rotbraune Schweinerei endlich aufhört, wenn sie erst aus Langenhain fort ist.

Viertes Kapitel

Was könnte Luise ihrer kleinen Schwester später von der Überfahrt nach Amerika erzählen? Von einer Schiffspassage, die anfangs vor allem aus Warten bestand und später aus noch Schlimmerem?

Zum versprochenen Einkaufsausflug zum Jungfernstieg kam es nie. Nach langen Tagen in ihrer Herberge gingen sie in Hamburg endlich an Bord eines Dampfers nach England.

Es nieselt, als sie im Hafen in den Schiffsbauch hinuntersteigen, und bei ihrer Ankunft in Kingston upon Hull regnet es immer noch. Von der endlosen grauen Wasserfläche, die sie auf der Harlequin überqueren, sieht Luise nicht viel.

Nur Schneider darf in Hull von Bord und in die Stadt gehen. Margarethe und die Mädchen müssen auf dem Schiff bleiben und eine weitere Nacht in ihren engen und unbequemen Kojen verbringen. Erst am nächsten Vormittag werden sie über einen wackeligen Steg an Land und sofort zu einem Bahnhof geführt. Dort wartet schon der Zug nach Liverpool.

Schneider hat für seine Reisegruppe Passagen auf der City of New York erworben. Während der Eisenbahnfahrt hört Margarethe nicht auf, lauthals damit zu prahlen: „Wir reisen mit einem hochmodernen Dampfsegler, der extra für Übersee-Passagiere gebaut wurde! In nur zwei Wochen können wir in Amerika sein!“ Alle wissen, dass die ausgedienten Frachtsegler, die neuerdings als Auswandererschiffe dienen, mehr als doppelt so lange brauchen.

Im Hafen von Liverpool bahnt ihnen ein Agent den Weg durch eine beängstigende Menschenmenge zur City of New York. Das prachtvolle, neue Schiff ist in den oberen Etagen verschwenderisch mit eleganten Deckskabinen, Salons und Speisesälen ausgestattet. Doch diese sind allein für die feinen Herrschaften bestimmt, die sich eine Überfahrt in der ersten oder zweiten Klasse leisten können. Die Schneiders müssen mit Hunderten weiterer Passagiere sofort ins Zwischendeck des gigantischen Dreimasters hinabsteigen. In der Mitte des kargen, stählernen Saals wird ein Wall aus Kisten und Koffern errichtet. An seinen Längsseiten reihen sich dreigeschossige Stockbetten auf.

Hier ist es von Anfang an laut, eng und dreckig. Es stinkt nach altem Schweiß, menschlichen Ausdünstungen und Urin. Einmal am Tag wird ein warmes Essen ausgeteilt. Die Passagiere müssen den widerwärtigen Eintopf, der von der Decke herabgelassen wird, stehend an einem Tisch hinunterschlingen. Stets muss es schnell gehen, denn die nächsten Hungrigen warten schon darauf, sich die nur flüchtig ausgewischten Blechnäpfe zu füllen.

Sehnsüchtig starrt Luise schon kurz nach dem Ablegen zu der Luke über der Treppe hinauf, die nur bei sehr schönem Wetter geöffnet wird. Dann kann sie ein Stück vom Himmel sehen und ihre Lungen mit frischer, salziger Luft vollsaugen.

Im letzten Moment vor der Abfahrt in Hamburg ist Elisa zu ihnen an Bord gekommen. Ein dunkel gekleideter Mann hat sie zum Schiffsanleger gebracht und ohne viele Worte an Schneider übergeben.

Eine Hure sei die Neue, hat Margarethe den Mädchen zuvor eingeschärft, sie sollten sie besser meiden. Ihr Mann habe sich verpflichtet, das dreckige Luder mit nach Amerika zu nehmen, aber dort werde man sie schnell wieder loswerden. Mit weit aufgerissenen Augen berichtete Anna von den Huren, die auf Kuba frei herumliefen. Grell geschminkt und ordinär gekleidet gingen sie sogar in den Tanzsalons von Havanna ein und aus.

Umso überraschter war Luise, als ihr Elisa das erste Mal gegenüberstand: Die Zwanzigjährige sah aus wie ein ganz normales Landmädchen. Zwei lustige Augen blitzten unter der braven Haube auf, als sie ihr scheu die Hand reichte. Und schon bald war ihr dieses Mädchen so lieb und vertraut wie kein anderes zuvor. Dass sie angeblich gefallen war und eine Sünderin, vergaß sie einfach schnell wieder.

Vor dem Ablegen in Liverpool hatte die Schneiderin die vier Mädchen noch einmal um sich geschart und ihnen erklärt, worauf sie bei einer Atlantiküberquerung zu achten hätten.

„Ihr wisst ja, dass eine Seefahrt sehr gefährlich sein kann“, begann sie mit einem grausamen Lächeln, „deshalb merkt euch die wichtigste Seemannsregel: Frauen und Kinder werde als Erste gerettet!“

„Und wie geht das?“, fragte Luise erschrocken.

„Wir haben als Erste Anspruch auf einen Platz in einem Rettungsboot“, Margarethe seufzte theatralisch „aber wir sollten uns nicht darauf verlassen. Als vor zehn Jahren die Arctic in Seenot geriet …“

„Es muss schrecklich gewesen sein“, fiel ihr Anna altklug ins Wort, „das Schiff war auf derselben Route unterwegs wie wir jetzt und ist auf hoher See mit einem Frachter zusammengestoßen.“

„Es ist leck geschlagen und untergegangen“, bestätigte Margarethe düster, „über 400 Menschen waren an Bord. Kaum hundert von ihnen wurden gerettet.“

„Und das waren die Frauen und Kinder?“, fragte Luise beklommen.

„Eben nicht. Es gab viel zu wenige Rettungsboote. Die Kräftigsten und Schnellsten haben sich die Plätze gesichert: Die meisten waren Matrosen.“

„Alle anderen sind ertrunken?“

Margarethe nickte: „So etwas passiert leider immer wieder. Erst vor kurzem ist die Austria auf hoher See abgebrannt. Die meisten Menschen an Bord waren Auswanderer.“ Sie blickte die Mädchen scharf an: „Deshalb ist es streng verboten, an Bord Feuer zu machen! Auch wenn ihr andere erwischt, die sich an einem Öfchen wärmen oder ein Essen kochen wollen, schlagt gefälligst sofort Alarm!“ Schneiders Ehefrau lehnte sich zurück und kräuselte befriedigt ihre Lippen, während die Mädchen folgsam und verängstigt mit den Köpfen nickten.

Soll Luise ihrer kleinen Schwester etwa später erzählen, wie sie unter Deck ihre Notdurft verrichten muss? In dem ekelhaften, nach oben offenen Verschlag heben Frauen gleichzeitig ihre Röcke wie Männer die Hosen herunterlassen. Ihr ist elend vor Scham, wenn sie diesen Ort aufsuchen muss. Jedes Mal hofft sie vergeblich, dort allein zu sein. Der Fußboden ist so mit Kot und Urin beschmiert, dass man ausrutscht, wenn das Schiff ein bisschen schwankt. Nur bei spiegelglatter See klettert ein Schiffsjunge mit einem Eimer Wasser zu ihnen hinunter, um die Latrine mit angeekelter Miene notdürftig zu säubern. Luise ist nicht zimperlich. Sie hat auf dem Hof ihres Vaters jeden Tag den Mist von Kühen und Schweinen weggeschaufelt. Aber so schlimm hat sie sich eine Schiffsreise nicht vorgestellt.

Anfangs sitzt sie mit Elisa stumm in ihrer Koje und klammert ihr Bündel fest. Margarethe hat den Mädchen eingeschärft, stets wachsam zu sein: Vor Langfingern sei man hier nirgendwo sicher. Doch bald merkt sie, dass die begierigen Blicke der vielen jungen Männer eher ihrem Körper als ihren wenigen Habseligkeiten gelten. Im trüben Licht einer Tranlampe wagt sie es schließlich, ihr Bündel aufzuschnüren und Elisa die darin verborgenen Schätze zu zeigen.

„Das ist ja wunderbar!“, ihre neue Freundin klatscht beim Anblick des Albums und der Schachtel mit Stiften vor Freude in die Hände, „damit können wir amerikanisch lernen!“

Luise sieht sie verwundert an.

„Na, wir gehen herum und fragen alle, welche amerikanischen Wörter sie kennen. Die schreibst du in das Album und wir lernen sie auswendig.“

Luise zögert. Sie ist so oft ermahnt worden, niemals mit Fremden zu sprechen. Schneider hat ihnen ausdrücklich verboten, nur ein einziges Wort mit Unbekannten zu wechseln. Aber Elisa ist sofort Feuer und Flamme. Sie steigt über Kisten und Bündel, klappert das gesamte Zwischendeck ab, um möglichst vielen Leuten ihre Fragen in die Ohren zu brüllen.

Die meisten schütteln nur verständnislos ihre Köpfe. Die jungen Iren oder Italiener grinsen zwar breit, wenn Elisa auf sie zusteuert. Aber dann verstehen sie nicht, was das Mädchen von ihnen will. Mit den Deutschen im Zwischendeck kann sie sich zwar besser verständigen, aber die meisten können selbst kein Wort Amerikanisch.

„Wenn man reich genug wäre, um auf dem Kabinendeck zu reisen, wäre es viel leichter“, seufzt sie einmal, „dort gibt es sehr feine Herrschaften. Manche haben ihre eigene Bibliothek dabei, haben Fremdsprachen gelernt. Sie würden uns bestimmt helfen.“

Am Ende bekommen sie kaum eine Seite mit den Wörtern voll: Brot heißt auf amerikanisch „Bred“, Milch wird „Milk“ genannt und Zucker „Schugger“. Die Buchstaben, die Luise in dem dunklen und schwankenden Schiffsbauch zu Papier bringt, sehen zudem ziemlich krakelig aus. Sie hat ihre Handschrift kaum noch geübt, seit sie nicht mehr zur Schule geht.

„Hast du die beiden Fräuleins gesehen?“, fragt Elisa sie einmal, „sie haben mir erzählt, dass sie in Österreich geboren sind.“

„Reisen sie denn ganz alleine?“, staunt Luise.

„Angeblich schon“, kichert Elisa, „aber manchmal kommt der Schiffsjunge sie holen. Die Offiziere dort oben verlangen wohl nach jungen Damen …“

Luise schlägt beschämt ihre Augen nieder.

„Sie müssen sich wahrscheinlich die Überfahrt verdienen“, überlegt Elisa. Als sie das Unbehagen in Luises Gesicht bemerkt, schlägt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund und kommt schnell auf etwas Anderes zu sprechen: Sie hat im Zwischendeck eine ältere Dame aus Preußen kennengelernt, die zu ihrem Sohn nach Amerika reist. Diese habe ihr anvertraut, dass sie fürs Leben gern lese. In ihrem Reisegepäck habe sie sogar einige Ausgaben der Gartenlaube dabei.

„Das ist doch die Zeitschrift, die du so gern hast?“, fragt sie, „ich bitte sie einfach, uns ein Exemplar zu borgen.“

„Das wäre wunderschön!“, seufzt Luise sehnsüchtig.

Sofort macht Elisa sich auf den Weg. Als sie zurückkehrt hält sie das Heft unter ihrem Rock verborgen.

„Liest du mir daraus vor?“, bettelt sie die Jüngere an wie ein kleines Kind, „du kannst es viel besser als ich!“

Sobald etwas Licht ins Zwischendeck fällt, kauern sich die Mädchen auf die steile Treppe unter der Luke und stecken ihre Köpfe zusammen. Jede einzelne Geschichte aus der Gartenlaube liest Luise ihrer Freundin vor. Sogar ein Stück aus einem Roman. Er heißt Almenrausch und Edelweiß, spielt in den bayerischen Alpen und ist wunderschön.

Anna und Tesi hocken derweilen bei der Schneiderin, starren stumpf ins Dämmerlicht des Zwischendecks oder schäkern mit dem kleinen Christopher.

Margarethe bemüht sich kaum, ihre Abneigung gegen das Mädchen aus Nieder-Weisel zu verhehlen. Kalt und vorwurfsvoll blickt sie herüber, wenn Elisa und Luise miteinander tuscheln und kichern.

Fünftes Kapitel

Zeitweise tobt ein so heftiger Sturm, schaukelt der Schiffsboden so schlimm, dass Luise nicht mehr weiß, was schlimmer ist: Ihre Furcht, dass der riesige Dampfsegler mit der nächsten Woge auseinanderbersten und untergehen könnte oder die Vorstellung, dass es immer so weitergeht. Leichenblass und stöhnend liegt sie auf ihrer Koje. In ihrem Bauch ist längst nichts mehr, was sie noch auf den glitschigen Schiffsboden speien könnte. Dennoch krampft sich ihr Magen immer wieder schmerzhaft zusammen, und es treibt ihr den kalten Schweiß auf die Stirn. Ab und zu wirft sie einen Blick zu Elisas Koje hinab, die sich dort ebenfalls wimmernd den Bauch hält. Alle Farbe ist aus ihrem Gesicht gewichen.

Wenn der Sturm sich legt und das Schaukeln aufhört, erholen sich die meisten Seekranken wieder, kauen trockenes Brot und trinken die fettige Brühe, die als Tee gereicht wird. Nur einige Mitreisende bleiben krank, leiden an Fieber und Schmerzen, reden wirres Zeug oder phantasieren von der Sonne am Himmel.

Luise weiß, was geschieht, wenn auch der Schiffsarzt einer solchen armen Seele nicht mehr helfen kann: Nach ihrem letzten Atemzug werden die Bedauernswerten in Sackleinen eingenäht, auf ein Brett gelegt und von den Seeleuten ins Meer geworfen.

Heimlich wünscht sie sich so ein grausiges Ende manchmal sogar herbei: Etwa für den alten Mann, der ganz in ihrer Nähe vor sich hin stöhnt. Jedes Mal, wenn sie an seiner Koje vorbeigeht, richtet er sich ruckartig auf, zeigt mit einem dürren Finger auf sie und kräht mit aufgerissenen Augen: „Da ist meine Marie! Du Luder, hier treffe ich dich wieder!“

Jeden Abend bittet Luise ihren Herrn um Schutz und um Vergebung für ihre sündigen Gedanken. Oft fügt sie, nachdem sie die Lutherworte gemurmelt hat, auch noch eine oder zwei persönliche Bitten hinzu: Dass sie wohlbehalten in Amerika ankommen! Und dass Elisa zum Glauben zurückfindet!

Manchmal holen die irischen Burschen ihre Geigen und Flöten hervor und singen mit harten Stimmen Lieder aus ihrer Heimat. Einige wirbeln dazu mit den Füßen wild auf dem eisernen Schiffsboden herum, während ihre Oberkörper stocksteif aufgerichtet bleiben.

Luise und Elisa können sich an diesen Tänzen kaum sattsehen. Die Männer machen überdies so viel Krach, dass niemand um sie herum verstehen kann, was sie sich gegenseitig ins Ohr rufen. Einmal erzählt Luise mitten in diesem Lärm, wie sehr sie sich nach Dora in Langenhain sehnt.

„Du bist genau wie meine große Schwester!“, brüllt Elisa zurück.

„Wieso das denn?“

„Weil du dich so um sie sorgst. Wenn Katharina mit mir nach Australien gegangen wäre … Alles wäre anders gekommen.“

Und dann erzählt Elisa ihre ganze Geschichte.

Als Zweitjüngste von fünf Kindern ist sie in Nieder-Weisel geboren, kaum zwei Wegstunden von Langenhain entfernt. Ihr Vater hatte als Tagelöhner keinen Hof und kein eigenes Vieh. Im Sommer verdingte er sich als Straßenarbeiter an der Chaussee. Sein kleines Fachwerkhaus hatte er längst verkauft, wohnte mit seiner Familie zur Miete in zwei winzigen Kammern, von denen man nur eine heizen konnte.

Es gab nie genug zu essen. Zur Schule durften die Kinder nur, wenn sie der Mutter nicht beim Beerenpflücken oder Holzsammeln helfen mussten.

Die drei ledigen Brüder des Vaters hatten dieses Elend schließlich satt und beschlossen, nach Australien zu gehen. Dort, so hieß es damals, könne jedermann Gold finden und reich werden. Ihr Fahrgeld mussten sie sich leihen. Sie würden es zurückzahlen, wenn sie es drüben zu etwas gebracht hätten.

„Mein Vater hat ihnen meine älteste Schwester mitgegeben, die Juliana“, schreit Elisa Luise ins Ohr, „kein Jahr später kam schon ein Brief von ihr: Dass sie in Victoria einen reichen Mann gefunden hat und in einem schönen Haus lebt. Wir Schwestern seien bei ihr jederzeit willkommen.“

„Warst du denn schon aus der Schule?“

„Ich war gerade fertig. Aber meine Eltern konnten nur für eine das Fahrgeld aufbringen. Da war natürlich erst einmal meine ältere Schwester Katharina dran. Ein Vetter hat sie mitgenommen.“

„Er ist auch nach Australien?“

„Die beiden kamen aber schon bald wieder zurück: Kein Mann, so haben sie erzählt, darf in Australien noch auf eigene Faust Gold schürfen. Man muss sich in einem Bergwerk verdingen, wo die Arbeit noch härter ist und kaum besser bezahlt als die eines Tagelöhners daheim. Mein Vetter wollte es dann lieber als Bauarbeiter in Frankfurt versuchen, wo man jedenfalls seine Sprache spricht.“

„Und deine Schwester?“

„Sie meinte, wir Mädchen hätten es in Australien leichter. Sie ist nur zurückgekommen, um von den Eltern Abschied zu nehmen und für immer auszuwandern. Und um mich mitzunehmen.“

Viele Monate mussten die beiden immer wieder zum Gericht im Butzbach laufen, bis sie endlich die Erlaubnis bekamen, das Großherzogtum Hessen zu verlassen. Elisa versuchte währenddessen als Dienstmagd unterzukommen, fragte auch in den Hotels und Gaststätten von Nauheim nach Arbeit. Aber niemand wollte das Kind eines Tagelöhners einstellen. Nur bei einem Flickschuster in Butzbach konnte sie ab und zu ein paar Kreuzer verdienen. Für die Schiffspassage nach Australien hätte es niemals gereicht. Ein Verwandter lieh ihnen schließlich das Geld, und so konnten sie endlich aufbrechen.

Doch kaum waren sie in Hamburg und hatten sich in einer Herberge am Hafen einquartiert, wurde Katharina sehr krank, lag nur noch im Bett und musste sich ständig übergeben. An eine Schiffsreise war nicht mehr zu denken. Der Arzt, den Elisa vom Gastwirt holen ließ, konnte auch nicht helfen. Er machte der heulenden und fluchenden Katharina klar, dass sie ein Kind erwartete und zwar schon bald.

Das bisschen Geld, das sie noch hatten, wurde Tag für Tag weniger. Völlig erschöpft schrieb die Schwester einen Brief an den Burschen in Nieder-Weisel, der sie manchmal zum Tanz ausgeführt hatte: Entweder er käme sofort nach Hamburg, um sie zur Frau zu nehmen. Oder sie werde ins Wasser gehen, denn davon gebe es dort mehr als genug.

Zwei Wochen später stand ein Mann namens Johann Seip in der Hamburger Gastwirtschaft und drehte verlegen seinen Hut in der Hand.

„Katharina wurde ganz schnell wieder gesund und ist mit ihm nach Nieder–Weisel zurück“, seufzt Elisa.

„Und du? Bist nicht mit in die Heimat?“

„Um nichts in der Welt wollte ich wieder zum Vater in dieses Drecksdorf! Meine Schwester hat mich angefleht, aber ich bin in Hamburg geblieben.“

In der Gaststube hatte sie nämlich ein feiner Herr angesprochen: Ob sie an einer Beschäftigung interessiert sei? Bei ihm, in seinem Weingeschäft? Er könne ein flinkes und ansehnliches Mädchen wie sie gut gebrauchen und biete ihr dafür guten Lohn, Kost und Logis.

„Ich war so froh, ich habe ihm alles geglaubt“, brüllt Elisa gegen den Lärm der Iren an, „ich habe gedacht, dass ich mir das Geld für eine neue Fahrkarte zusammensparen und doch noch zu Juliana nach Victoria fahren kann!“

„Und? Ist nichts daraus geworden?“

„Sein Haus sah zwar aus wie eine Gaststätte. Aber Geld konnten dort nur Mädchen verdienen, die mit den Gästen nach oben gingen. Die Kleidung, das Essen und so – man musste alles für furchtbar viel Geld bei der Wirtin kaufen.“

Luise wird heiß.

„Ich habe mich dran gewöhnt“, erzählt Elisa ungefragt weiter, „die Anderen haben mir gezeigt, wie es geht. Dass dir keiner ein Kind macht und so.“

„Und dann ist Schneider gekommen und hat dich dort herausgeholt?“, fragt Luise schnell. Sie will davon nichts hören.

„Er war weiß Gott nicht der Erste. Andere hatten mich auch gern. Sie haben meine Schulden bei der Wirtin bezahlt und mich mitgenommen: Nach Lübeck, Bremen, Lüneburg und dann wieder Hamburg. Zuletzt wollte einer sogar, dass ich mit ihm nach St. Petersburg gehe. Aber da kam vorher der Georg …“

Als sie seinen Namen ausspricht, wird Elisas Gesicht ganz weich. Als meine sie jemand Anderen als jenen verdreckten Kerl, der wenige Meter von ihnen entfernt in seiner Koje schnarcht: „Er hat es mir schon lange versprochen, dass er mit mir nach Amerika geht.“

„Du kanntest ihn aus der Heimat?“

„Nein. In Bremen haben wir uns kennengelernt. Er kam in die Wirtschaft, hat Karten gespielt und gefragt, ob er ein Mädchen mieten kann. Der Wirt hat ihn zu mir geschickt. Nach ein paar Worten wussten wir schon, dass wir beide aus der Wetterau sind. Die ganze Nacht haben wir miteinander erzählt.“

„Hat er dir auch gesagt, dass er in Langenhain verheiratet ist? Und dass er drei Kinder hat mit der Margarethe?“, fragt Luise erschrocken.

„Schon. Aber er ist nicht froh mit ihr. Sie ist eine herrische, böse Frau.“

Luise nickt: „Ich mag sie auch nicht.“

„Seit er mich geholt hat, hat sie Angst“, sagt Elisa und wirkt für einen Moment seltsam zufrieden, „jetzt ist sie nicht mehr so gemein zu ihm.“

Mit einem lauten Knall ihrer Stiefel auf den stählernen Schiffsboden beenden die Iren den Tanz. Die Mädchen schrecken zusammen und springen auf wie ertappt.

„New York!“, schreit jemand durch die Luke herunter, „Land in Sicht! Gott schütze uns!“

Alle springen auf, laufen aufgeregt im Zwischendeck hin und her, reden und lachen.

Luise hätte ihre Freundin gerne noch etwas gefragt: Ob sie auch einmal als Tanzmädchen verdingt war. Aber jetzt ist es dafür zu spät.

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