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Sechstes Kapitel

Als die City of New York anlegt und der Schiffsboden zur Ruhe kommt, erwacht Schneider zu neuem Leben, erhebt sich aus seiner Koje und nimmt energisch die Führung seiner kleinen Reisegruppe in die Hand.

Zunächst heißt es erst einmal wieder Warten. Längst haben alle Reisenden ihre Koffer, Bündel und Körbe an sich genommen und drängen mit ihrem Hab und Gut zur Treppe nach oben. Die Luke bleibt geschlossen, bis alle Passagiere der ersten und zweiten Klasse von Bord gegangen sind. Der Anblick der verdreckten, stinkenden und erschöpften Gestalten, die den Atlantik im Zwischendeck überquert haben, bleibt diesen erspart.

„Ihr haltet euch an mich. Alle!“, schnauzt Schneider seine Frau und die Mädchen an, „wenn eine hier verloren geht, hat sie Schlimmes zu befürchten: Es gibt in Amerika skrupellose Mädchenhändler! Allein reisende Mädchen werden vom Zoll zurückgeschickt oder sofort ins Asyl gesperrt.“

Endlich wird die Luke knarrend geöffnet. Alles stürmt zum Tageslicht hinauf. Auf der Treppe wird es bedrohlich eng; Kisten und Koffer schlagen schmerzhaft gegen Luises Fesseln.

Oben bleibt sie für einen Moment wie geblendet stehen, greift nach Elisas Hand, holt tief Luft und schaut staunend zum Himmel. Wie ein freudiger Schreck durchfährt es sie: Sie ist in Amerika!

Nur flüchtig bemerkt sie, dass der alte Mann, der ihr an Bord so zuwider war, im Gedränge an ihr vorbeigeschoben wird. Er scheint wieder wohlauf, blickt aufgeregt und neugierig um sich. Eine junge Frau hält ihn untergehakt.

Am Kai müssen sie warten, bis das Tor eines riesigen, runden Festungsgebäudes geöffnet wird. Dann strömen sie in eine Halle, die bestimmt zehn Mal so groß ist wie die Kirche von Langenhain. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ängstlich klammert sich Luise an Elisa fest. „Die Juden nennen dieses Ding hier Kesselgarten“, schreit diese ihr zu, „neuerdings muss jeder, der nach Amerika will, hier durch.“

Margarethe steht so dicht hinter ihnen, dass sie jedes Wort versteht. Sie wirft Elisa einen missbilligenden Blick zu: „Diese Einrichtung heißt, korrekt ausgedrückt, Castle Garden“, belehrt sie die Mädchen, „früher war es eine Festung. Jetzt dient sie unserem Schutz vor Betrügern.“ Ihren kleinen Sohn hält sie mit beiden Armen umfangen, als drohe jemand, ihr das Kind zu entreißen.

An den Wänden der riesigen Rotunde sind mehrere Reihen Balkone angebracht. Männer und Frauen sitzen auf Bänken hinter den Balustraden. Wahrscheinlich sind diese Plätze den Passagieren der teureren Schiffsklassen vorbehalten.

Unablässig werden die neu Angekommenen weiter durch die riesige Halle geschoben. Luise presst ihr Bündel mit einem Arm an ihren Leib, während sie sich mit der anderen Hand an Elisa klammert. Anna hat sich an ihrer Jacke festgekrallt und zieht Tesi am Handgelenk hinter sich her.

Endlich stehen sie vor dem Eingang zu einem dunklen Korridor. Noch einmal wendet sich Schneider zu ihnen um. Er schreit nach Leibeskräften, damit sie seine Ermahnungen verstehen: „Ihr haltet den Mund! Auch wenn euch jemand auf Deutsch anspricht: Antwortet nicht!“

Luise schwitzt. Die Menschen quetschen sich so eng aneinander, dass sie nicht einmal genug Platz hat, um eine fremde Hand von ihrem Hintern wegzuschieben. Der Gestank von all den ungewaschenen Reisenden ist ekelerregend.

Schneider hat sich zu einem vergitterten Schalter vorgearbeitet und gibt dort Auskunft über die Mitglieder seiner Reisegruppe. „Welchen Beruf er in der Heimat ausgeübt hat, woher wir kommen, wie alt wir sind – er muss alles genau angeben“, hat Margarethe ihnen noch auf dem Schiff erklärt und die Papiere, die er beim Grenzübergang vorlegen muss, aus ihrem Bündel gekramt.

Aufgeregt deutet Elisa auf einen Käfig, in dem Dutzende Männer und ein paar Frauen eingesperrt sind. Traurig starren die meisten zu Boden. „Die werden nicht durchgelassen, weil mit ihren Papieren etwas nicht stimmt“, schreit sie Luise ins Ohr, „sie müssen zurück.“

Endlich werden sie in die nächste Halle mit Marktständen weitergeschoben, die Droschkenfahrten und Quartiere feilbieten.

Am Abend holpern sie endlich durch die dunklen Häuserschluchten von New York. Mehrmals schiebt Luise den schäbigen Vorhang der Droschke beiseite und späht hinaus. Unzählige Männer und Frauen eilen durch die Gassen, und nur ab und zu erleuchtet eine Gaslaterne ihren Weg.

Erschöpft lässt sie ihren Kopf auf Elisas Schulter sinken.

Als ihr das Mädchen aus Nieder-Weisel einen Arm um die Schulter legt, kribbelt es ein bisschen in ihrem Bauch.

Siebtes Kapitel

Es beginnt mit einem gewaltigen Druck auf Luises Ohren. Schützend hebt sie ihre Hände zum Kopf, doch gegen das Pfeifen und Rauschen hilft das kaum. Schneider steht mit hochrotem Kopf in der Tür ihrer Kammer. Was er sagt, dringt wie aus weiter Ferne zu ihr vor.

„Schnapp dir deine Sachen! Und zwar ein bisschen plötzlich!“, schnauzt er Elisa an, „ich sag’s dir nicht zweimal.“

Luises Knie zittern. Wie durch einen Nebel nimmt sie wahr, dass Elisa leichenblass wird, aber kein Wort erwidert. Die Freundin, die sonst immer so fröhlich und lebhaft ist, beginnt still ihr Bündel zu packen.

Elisa muss fort.

Unentwegt kreisen dieselben drei Wörter durch ihren Kopf.

Anna und Tesi hocken im hintersten Winkel auf ihrem Schlaflager und klammern sich stumm aneinander.

„Nicht ohne mich“, hört Luise sich sagen, doch es klingt hohl, „wenn Elisa fort muss, gehe ich mit.“

„Soso!“, für einen Moment scheint Schneider überrascht, starrt Luise verärgert an, „was soll das denn werden? Du weißt schon, dass ich dein Vormund bin, als Stellvertreter für meinen Oheim Balthasar? Und dass du mir zu gehorchen hast?“

Es wird still in der kleinen Kammer.

„Der Vater würde es bestimmt erlauben“, gibt sie mit zitternder Stimme zurück, „in der Gaststube haben sie gesagt, dass wir Deutschen als Dienstmädchen in New York gern genommen werden. Ich bezahle natürlich alles zurück, was Ihr für mich ausgelegt habt.“ In der Schule hat sie zwar gelernt, dass man eine Respektsperson mit „Sie“ ansprechen soll und nicht mit dem volkstümlichen „Ihr“. Aber sie kann sich einfach nicht daran gewöhnen.

Wütend holt Schneider bereits zum Schlag aus, doch schon schiebt sich Elisa zwischen die beiden.

„Lass gut sein Luise“, wendet sie sich an die Freundin, „ist lieb von dir, aber keine gute Idee. Dort wo ich hinkomme, können sie dich nicht brauchen.“

Ihr Dienstherr lässt seine Faust sinken. Luise treten Tränen in die Augen.

„In Amerika ist Krieg“, teilt Schneider jetzt mit rauer Stimme mit. Als würde das alles erklären. Als hätten sie diesen Satz in den letzten Tagen nicht ständig gehört: Am kargen Frühstück in der Herberge ist angeblich der Krieg schuld, und daran, dass sie noch immer keine neuen Kleider haben, auch.

Schon als sie aus Castle Garden heraustraten, hat Luise die Uniformierten gesehen. Erst glaubte sie noch, dass die Musikkapelle auf der geschmückten Bühne einen Marsch zur Begrüßung aller Neuankömmlinge schmetterte. Doch dann verstand sie, dass die Reden, die dort zum Teil auf Deutsch gehalten wurden, einzig dem Zweck dienten, junge Einwanderer für die Armee anzuwerben.

„Tausende ziehen in diesen Tagen in die Schlacht gegen die Südstaaten. Da wird jedes Mädchen gebraucht. Hier in New York und draußen in den Garnisonen“, erklärt Schneider geschwollen. Elisa steht starr neben ihm und presst ihr Bündel vor die Brust.

„Worauf wartest du noch?“, fährt Schneider sie an, „sag deinen Kameradinnen Lebewohl. Aber bitte erspar mir eine große Flennerei. Wenn ich den Kutscher warten lasse, kostet das extra.“

Wenig später packt er das Mädchen am Arm und zerrt es zur Tür. Auf der Schwelle wendet Elisa sich ein letztes Mal um: „Leb wohl, Luise. Und gib auf dich Acht“, sagt sie traurig, „für dich ist es noch nicht zu spät.“

„Schluss mit dem Theater!“ Schon poltert Schneider mit ihr die Stiege hinab.

Vor dem Haus wartet Margarethe in einer Droschke auf ihren Mann und das Mädchen. Grimmig und triumphierend hält sie ihr Kinn nach vorne gereckt.

Wochenlang sitzen sie danach in ihrer schäbigen Herberge in New York fest. Schneider hat Anna, Luise und Tesi streng verboten, allein vor die Tür zu gehen. Für Mädchen in ihrem Alter sei die Straße viel zu gefährlich.

Luise würde das Haus sowieso nicht verlassen. Seit Elisa weg ist, liegt sie oft den ganzen Tag auf ihrem Lager. Nicht einmal die quälende Langeweile und das Schweigen unter den Mädchen stören sie noch. Nur nachts, wenn es dunkel ist und alle schlafen, flüstert sie leise ihr Gebet und wagt zu weinen.

Sie kann einfach nicht vergessen, was Elisa zuletzt gesagt hat: Dass sie Luise dort, wo sie hingeht, nicht brauchen kann. Und noch weniger kann sie es verstehen.

Nie zuvor hatte sie eine Freundin. Eine, mit der sie über alles reden konnte. Keine kleine Schwester, die sich in ihren Arm kuschelt wie ein junges Tier, sondern eine richtige Freundin.

Und jetzt ist sie einfach weg. Es schien ihr noch nicht einmal etwas auszumachen, sich von Luise zu trennen.

Jeden Vormittag macht Schneider sich auf den Weg zum Hafen, um gegen Mittag mit finsterem Gesicht und unverrichteter Dinge zurückzukehren.

„Dafür habe ich die teure Überfahrt nicht bezahlt“, schimpft er in der Gaststube und blickt finster in die Runde, „jeder Tag, an dem ihr hier unnütz herumsitzt, kostet mich eine Stange Geld!“

Viele Leute klagen darüber: Die Reise von New York nach Kalifornien ist schon immer ein aufwändiges und gefährliches Unternehmen gewesen. Aber in diesem Sommer 1863 ist es fast unmöglich, zur Westküste zu gelangen. Mit dem Planwagen quer durch den Kontinent zu kutschieren, wagt niemand mehr, seit sich die Armeen der amerikanischen Union und der Südstaaten an ständig wechselnden Fronten gegenüberstehen. Und die meisten Dampfschiffe, die noch vor Kurzem eine Passage auf dem Seeweg anboten, sind jetzt an die Marine verkauft oder verpachtet.

Annas Bauch schwillt währenddessen unübersehbar an. Schneider bekommt einen Tobsuchtsanfall, als er endlich bemerkt, was mit dem Mädchen los ist. „Dafür, dass du einen Balg mit dir herumschleppst, habe ich dich nicht gemietet!“, brüllt er, „das wird mir dein Vater büßen müssen, wenn ich wieder in Langenhain bin!“

„Er weiß es nicht. Er hätte mich weggejagt“, erwidert das Mädchen beschämt.

„Zurückverlangen werde ich mein Geld, bis auf den letzten Kreuzer!“, wütet Schneider weiter, „der kann sich auf etwas gefasst machen!“

Nach einem langen, brütenden Schweigen fragt er grimmig: „Und? Wann ist das gnädige Fräulein so weit?“

„In zwei Monaten oder drei.“ Anna wirkt zum ersten Mal niedergeschlagen.

„Dann wird‘s ja Zeit, dass wir hier wegkommen! Ich hoffe, das Gör krepiert schnell nach der Geburt. Kinder sind schlecht für unser Geschäft.“

„Georg, versündige dich nicht!“ Erschrocken greift Margarethe nach seinem Arm.

„Ist doch wahr“, knurrt er gereizt, „soll ich den Bastard auch noch durchfüttern? Wo wir unsere eigenen zwei in der Heimat lassen mussten?“

Niemand fragt, wer der Vater von Annas Kind ist, aber alle ahnen, dass sich der Landgänger Christoph Reuter an ihr vergangen hat. Ein verheirateter Mann, der mindestens doppelt so alt ist wie sie, und jetzt nichts mehr von ihr wissen will.

Mitte Juni klappt es schließlich doch.

Schneider ergattert eine Passage für fünf Personen auf einem ausgemusterten Frachtsegler, der sie nach Aspinwall bringen wird. Die Reederei hat ihm auch gleich Fahrkarten für die Panama Railroad verkauft, mit der man von dort aus den Dschungel durchquert. An der Pazifikküste müssen sie dann ein weiteres Schiff nach Kalifornien nehmen.

„Hat mich eine Stange Geld gekostet“, knurrt Schneider, „wird Zeit, dass ihr mir etwas einbringt.“

Es ist alles genauso wie auf der City of New York: die fürchterliche Enge im Zwischendeck, das ewige Rütteln und Schaukeln, das Geschrei der Kinder und das Stöhnen der Kranken, der Gestank und das eklige Essen. Zwei Wochen liegt Luise fast immer in ihrer Koje und fühlt sich kraftlos und leer.

Erst in Aspinwall erwachen ihre Lebensgeister wieder. Die Eisenbahn wartet dort schon auf sie. Die Panama Railroad führt ausschließlich Personenwagen der ersten und zweiten Klasse, und so nehmen sie auf fein polierten, lederbezogenen Holzbänken Platz. Aufgeregt presst Luise ihr Gesicht an das Fenster, dessen obere Hälfte wegen der Hitze ständig geöffnet bleibt.

Vier Stunden lang stampft die Bahn durch den tropischen Urwald. Das Dickicht links und rechts der Schienen wirkt manchmal so undurchdringlich wie eine Mauer. Palmen, riesige Farne, bärtige Äste und Büsche mit fleischigen Blättern gleiten vorbei. Manchmal sind die üppig wuchernden Bäume und Sträucher mit Blüten und Früchten in grellen Farben zum Greifen nah. Ab und zu wischt ein Ast sogar in ihr Abteil.

Einmal fahren sie über eine Lichtung, auf der Eingeborene siedeln. Die Hütten stehen auf hohen Stelzen. Federvieh pickt darunter herum, Schweine und Ziegen liegen träge im Schatten. Mitten im Urwald kommt der Zug schnaufend zum Stehen. Halbnackte, rotbraune Menschen drängen sich vor den Fenstern, verkaufen Bananenbrot, Kokosmilch und andere Speisen. Ganz in der Nähe brüllen wilde Tiere im Dschungel.

Später breiten sich links und rechts der Bahnstrecke Sümpfe aus. „Wenn ihr die Augen aufsperrt, könnt ihr vielleicht Krokodile sehen“, erklärt Margarethe den Mädchen. Tausende Arbeiter seien beim Bau der Eisenbahnstrecke zu Tode gekommen, die meisten durch Malaria, Gelbfieber oder Cholera.

Von Panama City sieht Luise nur die Straße, die vom Bahnhof zum Hafen hinab führt. Zweigeschossige Holzhäuser reihen sich daran auf. Menschen mit ganz verschiedenen Hautfarben bestürmen die Reisenden, bieten Essen, Getränke und sogar lebende Waschbären, Affen oder Papageien zum Kauf feil.

Ein Fremdenführer bringt sie zu einer Wartehalle am Wasser. Es ist unerträglich heiß. Luise hat Durst, aber Margarethe hat streng verboten, etwas von dem Wasser zu trinken, das fliegende Händler anbieten. Insekten umschwirren ihr Gesicht.

Erschöpft lässt sie ihren Kopf hängen. Drei Monate sind sie jetzt unterwegs. Noch zwölf Mal so lang, denkt sie, dann kann sie endlich wieder nach Hause.

Auf dem Dampfsegler St. Louis geht es schließlich weiter nach San Francisco. Anna ist inzwischen dick wie eine Tonne. Tesi sitzt fast immer neben ihr, hält ihre Hand und starrt sie angsterfüllt an. Margarethe wendet sich nur noch mit kurzen Befehlen an ihren Gatten. An Bord gibt es zwar nicht viel für Schneider zu tun. Umso mehr kann sie ihm verbieten: Das Trinken, das Kartenspielen, das Lachen und Singen mit anderen Reisenden soll er gefälligst unterlassen.

Dichter Nebel liegt über dem Hafen, als sie endlich in San Francisco ankommen. In einer Mietkutsche holpern sie eine steile, sandige Straße hinauf. Für Luise sieht diese Stadt wie eine einzige Ansammlung von trostlosen Bretterbuden und dreckigen Fahrwegen aus.

„Vieles ist hier erst im Aufbau“, erklärt Margarethe, als sie die entsetzten Blicke der Mädchen bemerkt, „vor ein paar Jahren hausten viele Leute noch in Zelten.“

In der Nacht beginnt es zu regnen. Wasser rinnt an den Holzwänden der Herberge herab. Luise liegt lange wach. Ihr geht nicht aus dem Kopf, was sie auf dem Schiff gehört hat: Dass in dieser Stadt überall tote Tiere auf den Straßen liegen und mehr Ratten als Menschen leben.

Schneider ist, kaum haben sie ihr Gepäck abgestellt, aus dem Gasthaus verschwunden. Er bleibt drei Tage und Nächte fort. Irgendwo muss es in San Francisco auch große Steinhäuser, Spielcasinos, Tanzpaläste und elegante Magazine geben. Dort geht er wohl seinen Geschäften nach.

Achtes Kapitel

Seit vielen Wochen hat Faber die Klassenstube nicht mehr betreten. Verbrauchte Luft schlägt ihm muffig entgegen, als er die Tür öffnet. Von der Decke hängen graue Trauben aus Staub und Spinnweben.

Die Standuhr tickt längst nicht mehr. Er wird sie aufziehen müssen, bevor die Schule wieder beginnt. Bald werden sich wieder fast vierzig Kinder in dem kleinen Raum drängen und Kuhdung, Schweinemist und noch Schlimmeres ausdünsten.

Erschöpft werden sie sein nach der monatelangen Plackerei auf den Feldern. Wenn es draußen erst kalt wird und er den Kanonenofen einheizen muss, werden sie reihenweise auf den Schulbänken einschlafen. Und spätestens im Januar oder Februar so blass und schwach aussehen, dass man als Mensch, dem noch ein Herz in der Brust schlägt, froh ist über jedes Kind, das den Winter überlebt.

Ein Dutzend Sechsjähriger ist in diesem Frühjahr neu in die Schule gekommen. Ihre strahlenden, wissbegierigen Augen brachten frischen Glanz in die düstere Klassenstube, und am ersten Tag trugen sie noch stolz ihren Sonntagsstaat. Doch schon bald liefen sie wieder in den abgewetzten und vielfach geflickten Sachen herum, die Faber schon von ihren Geschwistern kannte. Heinrich, Johann, Margarethe, Elisabeth. Es fällt ihm schwer, sich die ewig gleichen Vornamen für immer wieder andere Kinder zu merken.

Um an das einzige Fenster im Raum zu gelangen, muss er sein Pult beiseite rücken. Mit beiden Händen ergreift er die mit Leder bespannte Schreibplatte und versucht das Möbelstück zu bewegen. Es ist schwerer als erwartet. Plötzlich gibt etwas unter seinen Händen nach: Er kann den Deckel anheben und vom Pult lösen. Vorsichtig stellt er ihn beiseite und starrt in das oberste Schubfach. Schulhefte, Kreiden, zusammengeknülltes Papier und noch einiges mehr hat sich darin angesammelt. Er sieht einen Brieföffner, den er schon lange vermisst hat, ein paar Knöpfe, eine Steinschleuder und ein schmuddeliges Taschentuch.

Am hinteren Ende der Lade entdeckt er einen sauber getischlerten, schmalen Kasten, den er noch nie vorher bemerkt hat. Ein Geheimfach! Behutsam schwenkt er einen schmalen Deckel beiseite. Vor ihm liegt eine ordentlich verschnürte, staubige Papierrolle. Mehr nicht.

Faber nimmt das Papier in die Hand, löst den Knoten und streicht die wenigen, brüchigen Blätter auf einem Schülerpult glatt. Der Hessische Landbote steht auf der ersten Seite. Er weiß: Die berüchtigte Flugschrift wurde vor Jahrzehnten verfasst und verbreitet. Doch er hat sie noch nie mit eigenen Augen gesehen.

Darmstadt, im Juli 1834, liest er. Fast dreißig Jahre ist das Papier also alt. Faber war damals zwölf Jahre alt und besuchte die Knabenschule in Butzbach. Dass Friedrich Ludwig Weidig, der Konrektor dieses Institutes, dieses Pamphlet gemeinsam mit dem jungen Schriftsteller Georg Büchner verfasste, wusste damals noch niemand.

Den Pädagogen mit den sanften Gesichtszügen hat er einige Male über den Schulhof gehen sehen, aber Unterricht hatte er bei Weidig nie. Ihm hätten sie es zu verdanken, so erzählte ihm ein Klassenkamerad mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Spott, dass auf ihrem Stundenplan täglich Leibesübungen standen.

Der Konrektor verschwand kurz danach aus der Schule. Versetzt, munkelte man erst, und dann: verhaftet. Später hieß es, Weidig habe sich im Gefängnis das Leben genommen.

Was aber hat diese Flugschrift im Lehrerpult von Langenhain-Ziegenberg zu suchen? Hat Fabers Vorgänger sie etwa dort versteckt? Fragen kann er den alten Schulmeister nicht mehr: Er liegt längst auf dem Kirchhof begraben.

Eine Weile starrt Faber unschlüssig auf das Papier. „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“, steht in der Mitte der ersten Seite. Den Lesern wird ausdrücklich geraten, die Schrift sorgfältig vor der Polizei zu verbergen.

1834 war Faber natürlich noch viel zu jung, um sich für Politik zu interessieren. Für den Sohn eines Schuhmachers war es schon etwas Besonderes, dass er eine höhere Schule besuchen durfte. 1848, vierzehn Jahre später, kam die deutsche Revolution für ihn wiederum etwas zu spät. Als in Frankfurt und Gießen hunderte Studenten durch die Straßen zogen, war er bereits Lehrer und hatte dem Großherzogtum Hessen seine Treue geschworen.

Vorsichtig rollt er das Dokument wieder zusammen, wickelt die Schnur darum und legt es zurück in das Geheimfach. Was soll er auch sonst damit tun? In seiner privaten Stube im Obergeschoss will er das Papier nicht herumliegen lassen. Nicht umsonst sind viele der 48er-Revolutionäre aus Deutschland geflohen und müssen noch immer mit empfindlichen Strafen rechnen.

Auf Fabers Stirn haben sich Schweißperlen gebildet. Die staubige Luft kitzelt in seiner Nase. Höchste Zeit, endlich das Fenster aufzureißen. Fluchend rüttelt und zerrt er an den morschen Holzrahmen, bis diese ächzend nachgeben. Schwülwarme Luft strömt herein. Vorsichtig, um sein Hemd nicht zu beschmutzen, beugt er sich über die Brüstung und schaut die Hauptgasse hinunter. Kein Mensch ist um diese heiße Mittagsstunde draußen. Nur eine Postkutsche kriecht mühselig zum Schulhaus hinauf und kommt direkt davor zum Stehen.

Fliegenschwärme umkreisen die Köpfe der beiden schwitzenden Pferde, während der Kutscher wie tot auf seinem Bock hängt. Er bringe Post, knurrt er den Lehrer an, als dieser aus dem Haus tritt: Wie jede Woche die Gartenlaube. Diesmal habe er auch einen Brief.

Überrascht nimmt Faber den Umschlag entgegen. Die ordentliche Schülerinnenhandschrift lässt sein Herz sofort schneller schlagen: Ist es etwa ein Brief von Luise? Er wurde in Hamburg zur Post gegeben, soviel kann er am Stempel erkennen. Ist das Mädchen denn schon zurück aus Amerika? Oder ist Luise nie aus der Hafenstadt abgereist?

Erst oben in seiner Stube wagt er es, das Kuvert zu öffnen. Drei dünne, gefaltete Blätter fallen heraus. Nur auf einem steht sein Name.

Sehr verehrter Herr Schullehrer,

die Bleistifte leisten mir gute Dienste, jetzt wo wir in Amerika sind. Wir sind gut in Kalifornien angekommen. In New York mussten wir lange auf ein Schiff warten, weil in Amerika Krieg ist.

Ich gebe diesen Brief einem Mann in unserem Wirtshaus mit, der morgen in die Heimat aufbricht. In Bremen oder Hamburg soll er den Brief zum Postamt bringen. Ich bitte Euch von Herzen. Gebt die beiden anderen Blätter an meine Eltern und an meine Schwester. Aber an Dora nur, wenn sie in der Schule ist.

Viele Grüße von Luise

Die beiden Zeilen darunter sehen so aus, als hätte das Mädchen sie im letzten Augenblick noch dazugekritzelt.

Und wenn Ihr Post von einer Elisa Hildebrandt bekommt, bitte ich höflich darum. Hebt den Brief auf, auch wenn er schlecht geschrieben ist.

Der Lehrer dreht das Blatt mehrmals um, als müssten irgendwo noch ein paar weitere Worte verborgen sein. Besondere Worte, die ihm allein gelten.

Luise. Das schlaksige Mädchen geht ihm nicht aus dem Kopf, seitdem er in der Schulstube von ihr Abschied genommen hat. Wochenlang hat er sich nach dieser letzten Begegnung Vorwürfe gemacht: Wie konnte er sich so vergessen? Niemals hätte er wagen dürfen, die Siebzehnjährige in seine Arme zu schließen!

Anfangs befürchtete er jeden Tag, der Bauer Ludwig könnte vor dem Schulhaus erscheinen, um ihn zu verprügeln und aus dem Dorf zu jagen. Weil er es gewagt hat, sich an seinem Töchterchen zu vergreifen. Doch nichts dergleichen geschah.

So schön war Luise an diesem Sonntagnachmittag gewesen! Hoffnungsfroh kam sie ihm vor und zugleich aufgewühlt und verängstigt. Kein Kind mehr, keine Schülerin, sondern ein richtiges Fräulein mit einem lustigen Grübchen im Kinn. Eine wie sie hätte Faber sich gerne zur Frau genommen. Früher, als er noch jung war. Inzwischen war es zu spät.

Warum hatte er sich bloß in den Kopf gesetzt, ihr ein Abschiedsgeschenk mitzugeben? Nachdem er im Wirtshaus gehört hatte, dass sie fortgehen würde, konnte er an nichts anderes mehr denken. Zwei Mal war er unter dem Vorwand, seine alten Eltern zu besuchen, nach Schulschluss nach Butzbach gelaufen, war stundenlang durch die Gassen des Städtchens gestreift und hatte die Auslagen der Ladengeschäfte betrachtet. Doch er konnte sich zu nichts entschließen.

Seiner ehemaligen Schülerin Wäsche zu schenken, kam ihm unpassend vor. Und ein Buch? Ein moderner Liebesroman durfte es natürlich nicht sein. Etwas Klassisches, ein Werk von Goethe oder Schiller? Das erschien ihm zu altväterlich.

Schließlich entdeckte er bei einem Buchbinder das Album und die Stifte. Das war es! Ein noch ungeschriebenes Buch, dessen Seiten sie mit ihren eigenen Erlebnissen und Eindrücken füllen könnte!

Luise hatte sich sichtlich darüber gefreut.

Inzwischen ist ihm nicht mehr so recht wohl bei der Sache, denn sein Geschenk bezeugt seine unpassende Zuneigung zu dem Mädchen.

Es wäre besser, die ganze Geschichte schnell zu vergessen. Doch die Sehnsucht, die das Mädchen entflammt hat, brennt noch immer in ihm.

Es weiß, dass es sich nicht gehört, auch die beiden anderen Briefe zu lesen. Aber er ist ganz allein in seiner Stube. Vorsichtig faltet er das zweite Blatt auseinander.

Lieber Herr Vater und liebe Mutter,

wie geht es Euch? Mir geht es gut. Wir sind glücklich und gesund in Amerika angekommen. Von Hamburg nach New York ging es schnell, aber nach Kalifornien war es weit. Einmal hatten wir Sturm und ich war seekrank. Aber der Herr hat mich behütet.

Der Schneider ist ein guter Dienstherr. Bald reisen wir zu den Goldminen. Schneider sagt, die Arbeiter warten dort schon auf uns.

Bitte grüßt die Geschwister und den Oheim recht herzlich von mir und vergesst mich nicht.

Viele Grüße Luise

Behutsam streicht der Lehrer über das Papier. Es fühlt sich so warm und lebendig an, als hätte Luise den Bleistift gerade erst aus der Hand gelegt. Dann nimmt er das dritte Blatt mit dem längsten Brief in die Hand.

Liebe Dora

hoffentlich bist du nicht mehr böse mit mir, weil ich fort bin. Ich konnte dir nicht Lebewohl sagen, weil du auf dem Acker warst. Die Mutter hat dir bestimmt erzählt, dass ich nach Amerika in den Dienst gehe und in drei Jahren wiederkomme. Ich hoffe, du hast nicht zu viel Arbeit im Stall und auf dem Feld, seit ich weg bin und nicht mehr mithelfen kann. Vor allem wenn zu Michaelis die Schule wieder anfängt.

Ich weiß, du magst das Lernen nicht, aber lass dir von deiner großen Schwester etwas sagen. Bitte lerne soviel du kannst. Wenn du erst einmal ins Land gehst, kannst du alles gebrauchen. Ich war bis jetzt die meiste Zeit auf dem Schiff oder in einem Gasthaus. Aber alle sagen, es ist in Amerika besser als daheim. Ein Mädchen kann sich viel mehr aussuchen. Ob sie in Stellung geht oder heiratet. Junge Burschen gibt es genug. Und Frauen können viel mehr Berufe als Dienstmagd machen.

Am besten du fängst schon in der Schule mit der englischen Sprache an. Viele Leute sprechen es hier. Frag den Schulmeister, ob er ein Wörterbuch hat und dir beim Lernen helfen kann.

Weißt du noch, wie wir die Wiesen zum Fluss heruntergekugelt sind bis uns schlecht wurde?

Erzähle dem Vater nichts von meinem Brief. Wenn du mit der Schule fertig und konfirmiert bist, komme ich zurück. Vielleicht habe ich dann schon einen guten Mann mit einem schönen Haus in Amerika. Und du kannst mit mir gehen.

Viele liebe Grüße von Luise

Der Lehrer liest alle drei Briefe mehrmals durch. Dann weiß er, was er zu tun hat.

Er nimmt seine Jacke vom Haken, um dem Bauern Ludwig seine Post zu bringen. Sicher warten die Eltern schon lange auf Nachricht vom Töchterchen. Den Brief an Dora steckt er in das Geheimfach in seinem Pult.

Morgen früh wird er die erste Postkutsche nach Friedberg nehmen. Er erinnert sich noch genau an die Buchhandlung, in der er als junger Seminarist so oft war. Bestimmt kann er dort ein Lehrbuch für die englische Sprache kaufen.

Es wird jedenfalls nicht so weit kommen, dass die rotznäsige kleine Schwester von Luise danach verlangt, eine Sprache zu lernen, in der er nicht einmal „Guten Tag“ sagen kann.

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