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Erhöht Arbeitszeitverkürzung die Marktmacht der Arbeit?

Wird die Arbeitszeit um zehn Prozent verkürzt, braucht man zehn Prozent mehr Arbeitnehmer, um die gleiche Arbeit zu erledigen. Bei zehn Prozent Arbeitslosen reichte somit eine Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit von 37,4 Stunden (früheres Bundesgebiet) bzw. 39,2 Stunden in den neuen Ländern auf 33,7 bzw. 35,3 Stunden aus, um zunächst einmal die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Theoretisch.

Die Praxis ist sehr viel komplizierter. Der Versuch der französischen »sozialistischen« Regierung von Lionel Jospin, mit solcher Verkürzung der Arbeitszeit das Problem Arbeitslosigkeit zu lösen, konnte nur einen begrenzten Erfolg verbuchen.

Aber immerhin: Arbeitszeitverkürzung erhöht zwar nicht die Masseneinkommen, senkt sie sogar, wenn die verkürzte Arbeitszeit nicht bezahlt wird, aber sie stärkt die Marktmacht des Faktors Arbeit, sprich der Gewerkschaften. Und diese Marktmacht könnte dann auch für das Erstreiten höherer Reallöhne eingesetzt werden. Theoretisch. Doch im offenen Weltmarkt zeigten sich deutlich höhere Reallöhne eben als eine schöne Illusion. Die Arbeitsplätze, für die diese Löhne erstritten würden, gingen bald an die Konkurrenz verloren.

Befreiung des Faktors Arbeit von den Soziallasten

Wie wir gesehen haben, legte die wohlhabende Bundesrepublik die Soziallasten allein den ohnehin durch die technische Entwicklung benachteiligten abhängig Beschäftigten auf die Schultern. Dass das ein Fehler war, ist seit mehr als 60 Jahren bekannt.96 Doch nichts geschah. Das Ergebnis war der Beginn der Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich und die Unlösbarkeit des Problems der Alters-, Arbeitsunfähigkeits-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung.97 Denn mit den Reallohnverlusten, den Massenentlassungen und Vorruhestandsvereinbarungen sanken die Beiträge und stiegen gleichzeitig die Lasten. Umsatz (Mehrwert) und Kapitaleinkommen bleiben weitgehend98 von Beiträgen zum Sozialsektor ausgenommen. Verteuerung der menschlichen gegenüber der Maschinenarbeit ist die notwendige Folge. So wird der technisch ohnehin programmierte Arbeitsplatzverlust durch Automatisierung und Verlagerung der Industrien noch beschleunigt.

Dadurch, dass die Sozialabgaben nur auf Produktionen im Inland anfallen, werden gleichzeitig die Konkurrenzprodukte aus Staaten, die kein oder nur ein schwaches soziales Netz kennen, stark begünstigt. Immer mehr werden so die aus Sozialstaaten stammenden Produkte verdrängt und in dieser Weise der weltweite Trend zum nicht-sozialen Staat verstärkt.

Sozialleistungen kürzen?

Für das Aufbringen der Sozialleistungen durch die historische Solidargemeinschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern schien einst einiges zu sprechen. Soweit die Sozialleistungen als Versicherungsleistungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber organisiert wurden, schienen sie ein unantastbarer Besitzstand zu sein. Bei durch Steuern aufgebrachten staatlichen Mitteln besteht dagegen, wie man meinte, die Gefahr, dass der Staat gerade in Notzeiten an den Sozialleistungen spart. Es schien einmal, dass dies ein starkes Argument ist. Doch es war eine Illusion. Auch die rot-grüne Regierung Schröder hat Sozialleistungen gekürzt und plant mit der Agenda 2010 weitere Einschnitte.

Kürzen der Sozialleistungen ist der Weg des geringsten Widerstands und wird von Seiten der »Habenden« und ihrer Organisationen ständig als »Aufbrechen verkrusteter Strukturen« propagiert. Doch dieses Kürzen kommt an seine Grenzen. Von »Wohlstand für alle« ist schon heute nicht mehr die Rede. Die Mittel für die Ärmsten weiter zu beschneiden wird bald zur Verletzung der Menschenwürde.

Wenn Sozialleistungen nicht mehr – oder zumindest nicht mehr lange – gekürzt werden können, lassen sie sich anders aufbringen als durch eine Belastung des Faktors Arbeit?

Die Entlastung des Arbeitslohns von den sozialen Kosten

Ein Stück weit könnte die Entlastung des Arbeitslohns von den sozialen Kosten helfen. Wenn es möglich wäre, die gesamten Sozialabgaben von etwa 40% (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) auf den Bruttolohn wegfallen zu lassen und dem Arbeitnehmer die »Bruttolohnkosten des Arbeitgebers« voll auszuzahlen, hätten die Arbeitnehmer (vor Steuern) 40% mehr in der Tasche. Damit könnten sie Kapital bilden, ohne durch Konsumverzicht wiederum die Konjunktur abzuwürgen. Sie wären dann sogar in der Lage, Arbeit an Unternehmen zu vergeben, statt sie selbst auszuführen, da ihr Lohn alsdann nicht mehr so tief unter dem Preis liegt, den ein Unternehmen für eine Arbeitsstunde berechnen muss.

Nur: Wie soll der Sozialetat aufgebracht werden, wem kann der Staat diese Lasten auferlegen, wenn es nicht mehr der Faktor Arbeit sein darf?

Sozialkosten auf den Konsum legen?

Wenn der Faktor Arbeit ganz oder teilweise von den Sozialleistungen befreit werden muss, die Sozialleistungen aber nach wie vor aufgebracht und verteilt werden sollen, dann steht man unausweichlich vor der Frage: Wo sollen diese enormen Summen herkommen?

Ein denkbarer Ansatz ist: Die Sozialleistungen werden nicht mehr vorwiegend über die Erwerbsarbeit, sondern über den Konsum, z.B. über die Mehrwertsteuer, finanziert. Dieser Weg ist gangbar, und er wird in manchen Ländern auch schon begangen. Allerdings stößt er an Grenzen. 1994 befürwortete ich in meinem Buch »Wohlstand für niemand?« dringend diesen Weg der Entlastung des Faktors Arbeit von den sozialen Kosten, musste aber einräumen:

»Eine Mehrwertsteuererhöhung von weiteren 15% würde heute knapp 200 Mrd. DM bringen und somit nur knapp 55% des Arbeitgeberanteils an den sozialen Kosten (Gesamtdeutschland 1992 = ca. 370 Mrd. DM99) ersetzen. Insgesamt 30% Mehrwertsteuer erscheinen aber als das Maximum des Machbaren.100 Wobei natürlich sofort klar wird, daß auch diese Erhöhung nur noch nach Abstimmung in der EG möglich ist.«101

Steuerfinanzierung der Sozialleistungen

Ein anderer Vorschlag ist die Annäherung der Netto- an die Bruttoarbeitseinkommen durch Übertragung eines Teils der Gemeinlasten auf alle Bürger. Das bedeutet: steuerfinanzierte Sozialleistungen.

Diese Vorgehensweise wird zum Beispiel in den USA und der Schweiz praktiziert. In Dänemark wird das Sozialsystem zu 80% aus Steuern finanziert. »Die Arbeitgeber tragen nur sieben Prozent bei gegenüber 41% im Durchschnitt der EG.«102 Frankreich hat seit der sozialistischen Regierung Rocard Schritte zur gleichmäßigeren Verteilung der Sozialkosten mit der Einführung der CSG103, der allgemeinen Sozialabgabe, die auf alle Einkommensarten erhoben wird, getan. Die folgenden konservativen und sozialistischen Regierungen sind auf diesem Wege weitergegangen.

Zum Beispiel die Schweiz:

»Dort zahlt jeder Arbeitnehmer nur fünf Prozent seines Lohnes an die staatliche Rentenversicherung, der Arbeitgeber gibt dasselbe dazu. Derart niedrige Beiträge sind möglich, weil in der Schweiz auch Selbstständige in die staatliche Rentenkasse einzahlen. Und weil es keine Beitragsbemessungsgrenze nach oben gibt. Wer viel verdient, muss viel zahlen. Trotzdem erwirbt er nur einen Rentenanspruch auf maximal 2060 Franken, das sind 1410 € im Monat.«104

Miegel beschreibt die Folgen für die Gesellschaft so:

»Die Erwerbstätigen zahlen im Vergleich zu Deutschland geringere Abgaben, müssen dafür aber individuell größere Rücklagen für die Wechselfälle des Lebens bilden, oft Schulgeld für ihre Kinder entrichten und das Dreifache für eine Theaterkarte oder einen Museumsbesuch aufwenden. Zwar werden dadurch die Arbeitskosten, wie gerade das Beispiel der Schweiz zeigt, nicht niedriger, [doch] … der vom Auftragnehmer verlangte Lohn ist nicht so sehr viel höher als das vom Auftraggeber erzielte Nettoeinkommen.«105

Weil der Auftraggeber für eine Arbeitsstunde des Handwerkers nicht mehr sehr viel mehr bezahlen muss, als er selbst in einer Stunde verdient, lohnt sich für ihn wieder der Ankauf von Arbeitsstunden eines Fachmanns. Das erleichtert dem Auftraggeber, so selbst zum Arbeit-Geber zu werden.

Diese Verlagerung der Sozialkosten auf die Steuer ist aus dem Katalog der hier betrachteten Maßnahmen wohl das effizienteste Mittel zugunsten des Mittelstands, insbesondere des Handwerks. Und damit auch der zur Zeit effektivste Hebel zur Minderung der Arbeitslosigkeit.

Nur, je weiter man auf diesem Wege fortschreiten will, desto höher erhebt sich drohend die Mauer: offener Weltmarkt. Michel Rocard, der die allgemeine Sozialabgabe (CSG) einst einführte, warnt:

»Das wichtigste hier zur Verfügung stehende Instrument ist die CSG. Ich habe sie eingeführt und ich kann deshalb daran erinnern, warum. Der senkrechte Anstieg der Ungleichheit, die das System, das uns besiegt hat, hervorruft, nennen wir es kurz den Kapitalismus der Aktionäre, forderte und fordert immer Korrekturen und Begrenzungen. Für die Finanzierung der Sozialausgaben müssen die Einkommen, die nicht aus Löhnen und Gehältern stammen, und vor allem die des Kapitals dazu gebracht werden, beizutragen. Aber … wir können das nicht mit nationaler Politik machen außer unter der absoluten Bedingung, unseren produktiven nationalen Apparat nicht im weltweiten wilden Wettbewerb zu schwächen. Das ist eine erlittene Bedingung, nicht eine gewählte. Diese Bedingung zu verletzen würde auf die Dauer zum Abwandern von Industrie und Arbeitslosigkeit führen.«106

Wieder begrenzt so die internationale Konkurrenz die Chancen der Entlastung der Arbeit und der Mitbelastung des Kapitals.

Andere Vorschläge

Auch andere Ansätze, die für Produktion und Beschäftigung schädlichen Auswirkungen der traditionellen Verankerung des Sozialsystems an den Kosten menschlicher Arbeit abzuwenden, wurden diskutiert. Ein Beispiel ist die »Maschinensteuer« (Sozialabgaben der Unternehmer nicht nur für bezahlte Arbeitsstunden, sondern auch für Verkaufserlöse oder Investitionen in Maschinen).107

Auch eine Besteuerung der verbrauchten Energie anstelle der Arbeitskraft wurde oft vorgeschlagen und von der rot-grünen Regierung mit der Einführung der Ökosteuer zur Entlastung der Sozialabgaben ein winziges Stück weit vorangetrieben. Aber schon dieser kleine Schritt ist beim Transportgewerbe und den Autofahrern auf so heftige Proteste gestoßen, dass sich wohl kaum noch ein Politiker findet, der diesen Weg weitergehen will. Nun ist zwar einerseits richtig, dass Begrenzung des Verkehrs durch Verteuerung aus umweltpolitischen Gründen dringend nötig wäre. Doch ist andererseits nicht zu bestreiten, dass Verteuerung des Verkehrs heute, in der Zeit der Auslagerung von Elementen der Produktion und ihrer Anlieferung »just in time«, eine Verteuerung der Produktion – und damit einen Nachteil in der internationalen Konkurrenz bedeutet. Und wieder ist die Drohung mit dem Knüppel »Arbeitsplatzverlust« eine ernstzunehmende Abschreckung.

Denkbar wäre auch, die Mehrwertsteuer für denjenigen Anteil an einer verkauften Ware oder Dienstleistung ganz oder teilweise zu erlassen, der auf bezahlter Arbeit beruht. Das könnte dadurch geschehen, dass der Verkäufer der Leistung 16% (derzeitiger Satz der MwSt) des von ihm gezahlten Arbeitsentgelts (Lohn + Arbeitgeberanteil an der Sozialversicherung) als Vorsteuer von seinen Mehrwertsteuerzahlungen abziehen könnte – beziehungsweise von seinem Finanzamt erstattet bekäme.

Die Befreiung des Faktors Arbeit von der Mehrwertsteuer ist im Effekt sicher nichts anderes als die Entlastung der Arbeitgeber von ihrem Beitrag. Der Vorteil wäre jedoch, dass das (wenn auch schwache) Argument von der Solidargemeinschaft nicht verletzt würde und so möglicherweise leichter eine Mehrheit für diesen Weg zu gewinnen wäre.

Wie dem auch sei, klar ist, dass so ein Steuerausfall von wahrscheinlich ca. 40 Mrd. Euro einträte.108 Ein Teil dieses Ausfalls könnte durch eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 16 auf einen europäischen Satz von z.B. 20% hereingeholt werden (ca. zehn Mrd. Euro). Das wäre gut tragbar. Denn der Fortfall der Mehrwertsteuer auf Arbeit würde einen Preisrutsch um etwa sieben bis acht Prozent bedeuten (die Hälfte der Mehrwertsteuer von heute), so dass die Erhöhung der allgemeinen Mehrwertsteuer um vier Prozent auf die Hälfte der Produkte immer noch zu einer Verbilligung von Gütern und Dienstleistungen führen würde. Das wiederum öffnet Raum, eine weitere Steuererhöhung – z.B. auf Energie – einzuführen, um die entstandene Lücke zu stopfen, ohne einen inflationären Preisschub auszulösen.

Private Sicherung
Vorteile und Probleme

Warum hat man den Weg der solidarischen Versicherung durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge gewählt? Geschichtliche Erfahrungen standen Pate: zwei Kriege, zwei Inflationen und eine schwere Wirtschaftskrise (1929–1932). Jedesmal gingen die privaten Vermögen verloren. Nur der Staat schien helfen zu können.

Miegel meint dagegen:

»Richtig war diese Sichtweise nie … Wieder war es Ludwig Erhard, der diese Zusammenhänge frühzeitig erkannte und es deshalb als ›geradezu verhängnisvoll‹ ansah, ›die künftige Sicherung gegen die Lebensrisiken auf einen derartigen, hoffentlich einmaligen, Zusammenbruch … abzustellen‹.

Ein Euro Privatvorsorge bringt mehr für die Alterssicherung als ein Euro Rentenbeitrag… «109

An dieser Stelle kann ich Miegel und auch Erhard nicht folgen. Richtig, eine DM Privatvorsorge brachte in den ersten 45 Jahren der Bundesrepublik mehr als eine DM Rentenbeitrag. Aber: Die Angst vor wirtschaftlichen Zusammenbrüchen in der Zukunft war 1948 keineswegs unbegründet.

Der Zusammenbruch der Weltwirtschaft 1930 war und blieb nicht einmalig. Schon Anfang der 1870er Jahre war die Weltwirtschaft mit verheerenden Folgen zusammengebrochen. Zudem: Nicht nur weltweite, sondern auch regional begrenzte Wirtschafts- oder Währungszusammenbrüche zerstören die private Altersversorgung der betroffenen Bürger. Argentinien war einst ein reiches Land. Heute ist es Pflegefall. In der Ostasienkrise verloren Millionen Menschen ihr Vermögen – und damit ihre private Altersversorgung.

Der Verfall der Aktienkurse, den wir vor kurzem erlebten, stellt ein weiteres Beispiel für die Unzuverlässigkeit privater Vorsorge zur Lebenssicherung dar: »So rasierte der Crash die Sparplan-Rendite von Aktienfonds mit Anlageschwerpunkt Deutschland bis auf minus vier Prozent im Zehnjahres-Zeitraum. Im Schnitt brachten 6000 € Einzahlung ein Ergebnis von nicht einmal 5000 €.«110 Und auch amerikanische Rentner müssen um ihre Altersbezüge bangen.111

Zu den Verdiensten der Miegelschen Arbeit gehört zweifellos, dass Miegel die Illusion ewigen Wachstums als das bezeichnet, was sie ist: eine Fata Morgana. Aber damit ändern sich auch die Voraussetzungen für die private Altersvorsorge. Die Überlegenheit der privaten Altersvorsorge zeigte sich in der Zeit des Wachstums. Welche Rentabilität Kapitalanlagen haben können, wenn eine Wirtschaft nicht mehr wächst, ist dagegen völlig offen. Häufig wird Nullwachstum mit Null-Zinsen gleichgesetzt. Fraglich ist auch, ob selbst bei einer wachsenden Wirtschaft in Zukunft mit hinreichenden Renditen gerechnet werden kann, wenn überall Pensionsfonds nach Anlagemöglichkeiten für ihr enormes Kapital suchen.112 So besteht ein hohes Risiko, dass Kapitalanlagen zur Alterssicherung sich in Zukunft nicht mehr rentieren.

Gelöst werden müsste auch ein weiteres Problem:

Wenn ein Teil der sozialen Sicherung, zum Beispiel die Differenz zwischen Grundsicherung und Lebensstandardsicherung, privat getragen werden soll, wie sind die Voraussetzungen hierfür zu schaffen? Genügt die Befreiung der Arbeitskosten von den Sozialleistungen, um genügend hohe Einkommen entstehen zu lassen, die den abhängig Beschäftigten eine hinreichende Kapitalbildung erlauben?

Und selbst wenn dieses Hindernis überwunden ist: Sehr lange geht diese Rechnung nicht auf. Schnell, wahrscheinlich sehr schnell werden die Lohnabhängigen ihren Gewinn durch den weiter sinkenden »Weltmarktlohn« wieder verloren haben. Und werden wieder vor der bekannten Situation stehen: Ihr Lohn ist gleichzeitig zu hoch (für den Weltmarkt) und zu niedrig zum Leben – und vor allem zur Altersvorsorge.

Doch so viel anders sieht Miegel die höheren Risiken privater Vorsorge letztlich auch nicht, wie sich an seinen im folgenden Kapitel vorgestellten Vorschlägen einer staatlichen, nicht aber einer privaten Mindestsicherung zeigt.

Staatlich organisierte Grundsicherung in Verbindung mit
einer vermögensfundierten privaten Vorsorge

Miegels Kernsätze sind: Jeder muss

»… im Alter über eine auskömmliche Mindestsicherung verfügen, gleichgültig wie viel oder wenig er dazu aus eigener Kraft beitragen konnte oder beigetragen hat. Denn Sicherheit im Alter ist Ausdruck von menschlicher Würde und keine Funktion von Erwerbsarbeit und schon gar nicht von abhängiger Beschäftigung. Im Rahmen dieser Mindestsicherung findet der umfassende Ausgleich zwischen Starken und Schwachen in einer solidarischen Gesellschaft statt. Zu ihrer Finanzierung tragen die Starken viel und die Schwachen wenig bei, obwohl bei Erwerbsunfähigkeit oder im Alter alle das Gleiche erhalten. Diese Mindestsicherung zu organisieren ist der Kernbereich staatlicher Alterssicherung.«

Miegel schlägt vor, diese Grundsicherung durch die Steuern zu finanzieren, damit sichergestellt ist, »dass sie von der Leistungskraft der gesamten Volkswirtschaft getragen wird«. Die Erwerbsarbeit würde so von Abgaben entlastet und daher gegenüber dem Kapital wettbewerbsfähiger, Exporte würden billiger, Importe teurer. Miegel würde den Anspruch sogar gerne im Grundgesetz verankert sehen. Anspruchsberechtigt sollte jeder sein, »der lange seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland hatte und entweder erwerbsunfähig ist oder ein bestimmtes Lebensalter erreicht hat«.113

Diesem Programm kann ich sofort zustimmen. Wenn es verwirklicht würde, könnte man mit sehr viel mehr Optimismus in die Zukunft unserer Gesellschaft sehen. Die Frage ist nur, wie kann man es verwirklichen?

Befreiung der Arbeit von den Sozialkosten –
Chance oder Sackgasse?

Wie man sich auch dreht und wendet, die Verlagerung (aller oder eines Teiles) der Sozialkosten auf den Konsum (Mehrwertsteuer) beziehungsweise auf die allgemeinen Steuereinnahmen ist eine neue, andere Umverteilung. Zwar nicht in der brutalen Form, Reichen zu nehmen und Armen zu geben, doch zumindest in der Form der Umlenkung zukünftiger Früchte der Volkswirtschaft. Im ersten Falle (Mehrwertsteuer) trifft es mehr die breite Masse, die für ihren täglichen Bedarf mehr bezahlen muss und oft am Gewinn, der Entlastung des Faktors Arbeit, nicht persönlich teilhat. Im zweiten Falle trifft es die, die die höheren allgemeinen Steuern zu zahlen haben – und das sind die oberen Einkommen der abhängig Beschäftigten und die Einkommen aus Unternehmen und Vermögen. Denn »unten« ist schon heute nichts mehr zu holen.

Doch dieser Weg führt unter den heutigen Bedingungen in eine Sackgasse. Denn der Einwand, dass höhere Steuern zur Abwanderung und Abschreckung von Kapital führen, ist im offenen Weltmarkt kein Scheinargument zur Vertuschung des Geizes der Habenden, sondern die Beschreibung einer Realität.

Die Verlagerung der Sozialkosten auf die allgemeinen Steuern setzt also voraus, dass die Kapitalflucht verhindert werden kann. Das Minimum hierfür ist, die Flucht in andere europäische Staaten zu verhindern. Das bedeutet aber eine einheitliche europäische Steuergesetzgebung.

Erreicht ist diese einheitliche europäische Steuergesetzgebung bis heute nicht. Die Hoffnung, sie zu erreichen, ist nicht ganz grundlos, doch vorläufig nur eine Hoffnung. Wird sie eines Tages erfüllt, könnten die Steuern ein Stück weit wieder in die Richtung verlagert werden, die der Steuerpolitik vor der neoliberalistischen Welle ähnelt: höhere Steuern für Vermögen, Unternehmen und obere Einkommen, niedrigere für mittlere und untere Einkommen aus abhängiger Arbeit. Doch wie weit man in dieser Richtung kommt, ist schwer vorauszusagen. Denn im offenen Weltmarkt ist diese europäische einheitliche Regelung nur eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende Bedingung. Hinreichend wäre erst eine weltweit gleiche Besteuerung – doch das dürfte eine Illusion sein. Wer darauf hofft, läuft in eine Sackgasse.

Ersatz für eine weltweite Steuerkonvention wäre aber im Fall einer europäischen Einigung über gemeinsame Steuergesetze auch ein Schutzzollwall um Europa, der dadurch das Interesse am Abwandern von Kapital mindert, dass die Einfuhr in Europa durch Zölle deutlich verteuert wird. Weltweit betrachtet wäre das ein Modell der wirtschaftlichen Regionen.

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