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Einkommensverteilung und Wirtschaftswachstum:
Hoffnung auf »trickle down«, durchsickern

Der neoliberalistische Ansatz sieht in der Vermischung von Aufwand und Erfolg im Sozialprodukt kein großes Problem. Er geht davon aus, dass durch die ungehinderte Entfaltung des Kapitals automatisch Massenwohlstand in der Welt entsteht. Was heute den Reichen nütze, komme morgen den Armen zugute (trickle down-Effect)39. Stimmt das?

Diese These kann sich auf eine geschichtliche Erfahrung stützen. Aus dem krassen Gegensatz zwischen dem Reichtum der Produzenten und der Armut des Proletariats im 19. Jahrhundert entstanden schließlich die europäischen Sozialstaaten und das »reiche Amerika«.

Doch welch gewaltige politischen Anstrengungen waren historisch notwendig, um dieses Resultat herbeizuführen! Funktioniert »trickle down« dagegen auch ganz von allein in einem freien Weltmarkt? Wirkt es weltweit? Und: Geht es auch schnell genug – denn die Bevölkerung der Erde wächst und wächst! Die Trompeter des Liberalismus in internationalen Organisationen40 und in der Presse41 verkünden Tag für Tag: Alles ist auf dem besten Wege. Die derzeitigen Probleme sind nur der unvermeidbare Preis eines für alle profitablen Übergangs, sind »schöpferische Zerstörung« und damit nach den Lehren Schumpeters geradezu notwendig. Doch so ist es nicht. Stiglitz beschreibt aus seiner Kenntnis als Berater Präsident Clintons und seiner Tätigkeit für die Weltbank die Realität so:

»Die Geschichte der letzten fünfzig Jahre hat diese Theorien und Hypothesen jedoch nicht gestützt … ostasiatische Länder – Südkorea, China, Taiwan, Japan – [zeigten], dass … schnelles Wachstum ohne eine beträchtliche Zunahme der Ungleichheit erreicht werden kann. Die Regierungen in der Region ergriffen gezielte Maßnahmen, um sicherzustellen, dass … sich Lohnungleichheiten in Grenzen hielten und dass alle in den Genuss grundlegender Bildungschancen kamen.«42

Eigentlich sollte man doch annehmen, dass die Methoden, mit denen die erfolgreichsten Volkswirtschaften dieser Erde gearbeitet haben, studiert werden, um zu lernen, wie man besser vorankommt. Der Akzent einer solchen »Ostasiaten-Wirtschaftspolitik« müsste dabei offensichtlich auf der Frage der Nettoeinkommen der abhängig Beschäftigten liegen.

Wirtschaftsziel »Wachstum der Nettorealeinkommen der abhängig
Beschäftigten« statt Wachstum des Bruttosozialprodukts?

Fast 90% aller Erwerbstätigen in der BRD sind Arbeitnehmer.43 Am Volkseinkommen sind sie mit rund 73% beteiligt.44 Der Gedanke liegt deshalb nahe, anstelle des Sozialprodukts die Einkommen dieser Arbeitnehmer zum Maßstab für Erfolg oder Misserfolg einer Wirtschaftspolitik zu machen. Und, wenn man Wohlstandseffekte messen will, die Nettorealeinkommen.

Einwand: Dieser Maßstab lässt die Arbeitslosen außer Betracht. Eine Gesellschaft, die einer »Arbeiterelite« hohe Einkommen bietet und große Teile der Arbeitsfähigen auf die Straße setzt, erscheint dann besser als eine Gesellschaft mit Vollbeschäftigung und eventuell geringfügig niedrigeren Löhnen.

Um diesen Fehler zu vermeiden, müsste man das durchschnittliche Nettorealeinkommen aller Arbeitenden und arbeitssuchenden Arbeitslosen zum Maßstab machen. Sozialleistungen für letztere Gruppen müssten dabei unberücksichtigt bleiben.

Wenn das Wirtschaftsziel nicht mehr Wirtschaftswachstum, sondern Steigerung der Einkommen, und zwar der Nettorealeinkommen der abhängig Beschäftigten, würde, dann wäre auch jede einzelne wirtschaftspolitische Maßnahme an diesem Maßstab zu messen.

Wäre man in den letzten 30 Jahren in der Bundesrepublik nach diesem Maßstab verfahren, so hätte man das Abnehmen des »Wohlstandswachstums« schon in den 70er Jahren konstatieren müssen. Man hätte auch bemerkt, dass alle getroffenen »Wirtschaftsförderungsaufwendungen« nur eines bewirkten: Sie begleiteten das ehemals erfreuliche »Wohlstandswachstum« (der durchschnittlichen Nettorealeinkommen) auf dem Weg in Nullwachstum – bis es sich in den 90er Jahren dann in negatives »Wachstum« verwandelte. Am deutlichsten würde dieses Versagen, wenn man die 4–4,5 Millionen Arbeitslosen mit ihrem Arbeitsverdienst »o« in diesen Durchschnittsverdienst mit einrechnete. Denn dann ergäbe der so errechnete »durchschnittliche Nettorealverdienst«, der schon nach der klassischen Berechnung seit Jahren leicht sinkt, noch um 10–12% niedrigere Werte.45 So berechnet hätte er im Jahre 2000 statt beim Dreifachen des Wertes von 1950 nur beim 2,6-fachen gelegen (wie die grüne Linie in Grafik C auf dem Lesezeichen und die Sternchenlinie unten auf S. 32 zeigen. Das entspräche einem Rückgang etwa auf das Niveau von 1969/70.

Einkommenschancen im Wandel
Wovon hängt das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft ab?

Ein sehr interessanter Ansatz findet sich wieder bei Meinhard Miegel:

»Politiker und Professoren, Lehrer und Polizisten, Schauspieler und Musiker, Busfahrer und Köche, Bademeister und Masseure und viele andere leisten beispielsweise in Deutschland und Polen so Unähnliches nicht. Aber … warum kann für einen Haarschnitt in Düsseldorf mit Erfolg das Zehnfache verlangt werden wie in Danzig? Die immer gleiche Antwort: Weil in der einen Volkswirtschaft viel und in der anderen wenig Wissen und Kapital die Produktivität antreiben.«46

»Warum verdient ein Busfahrer in Deutschland das Mehrfache von einem Busfahrer in Indien?« Diese alte Miegelsche Frage hat mich stets fasziniert. Seine Darstellung scheint mir in weiten Teilen zutreffend. Aber es bleibt ein Problem: Wenn das Einkommen des Busfahrers nur von den durch Kapital, Wissen und Gestaltungskraft der Unternehmen bestimmten Werten abhängt, warum sinkt dann seit Jahren das Einkommen der Busfahrer47 – obwohl gleichzeitig die Bedingungen für das Kapital durch Steuersenkungen verbessert wurden, die Einkommen der über Kapital Entscheidenden explodiert sind und der deutsche Export zu den noch intakten Teilen der Wirtschaft gehört?

Ein Beispiel von vielen:

»Deutschlands Busfahrer beschleicht in diesen Tagen das Entsetzen: In Eisenhüttenstadt legen sie den kommunalen Verkehrsverbund lahm, weil ihr Arbeitgeber sich mit der angebotenen Lohnsenkung um neun Prozent nicht zufrieden geben will. Das Angebot des Verkehrsverbundes: zwölf Prozent weniger Lohn… «48

Die Folgerung aus diesen empirischen Daten kann eigentlich nur sein: Das Einkommen der Busfahrer, Friseure usw. hängt nicht nur von der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, sondern auch davon ab, wie viel verfügbares Einkommen in der Masse der Bevölkerung angekommen ist. Denn diese Masse ist es, die die Dienstleistungen der Friseure, Busfahrer usw. nutzt. Und da bei dieser Masse seit 20 Jahren nicht mehr viel Einkommen angekommen ist, ihre Nettoeinkommen eher zurück gehen, gehen die Einkommen der Busfahrer ebenfalls zurück – unabhängig davon, wie stark Wissen, Kapital und Einkommen des oberen Drittels der Gesellschaft auch gestiegen sein mögen. Denn eine Gesellschaft, in der nur noch das obere Drittel im Wohlstand lebt, kann weder Busfahrern noch Friseuren gute Einkommen bieten. Dieses obere Drittel fährt weder mit dem Bus, noch kann es sich so oft die Haare schneiden lassen, dass davon die ganze Zunft leben kann.

Die Ungleichheit der Einkommen

40% der Erwerbstätigen in der BRD hatten 1998 ein Nettoeinkommen von weniger oder sehr viel weniger als 1100 € pro Monat.49 Mehr als drei Millionen Menschen müssen in unserer Republik von Sozialhilfe leben.50 Und in den anderen Industriestaaten der Welt sieht es ähnlich aus.

Wie es Menschen mit monatlich maximal 1100 € geht, hängt von vielen Faktoren ab.51 Gut geht es ihnen jedenfalls nicht. Aber wie es auch im Einzelfall aussehen mag: Auch die heutigen Einkommen im unteren und mittleren Bereich sind unsicher. Aufhebung der Flächentarifverträge, Betriebsvereinbarungen statt Tarifvertrag, Leiharbeit statt feste Anstellung, Ausgliederung eines Teils des Betriebs in eine neue Gesellschaft, die niedrigere Löhne zahlt, stärkerer Druck auf Arbeitslose, auch schlecht bis miserabel bezahlte oder weit vom Wohnsitz entfernte Arbeitsplätze anzunehmen. Die Fantasie sprießt, findet immer neue Wege. Doch das Ziel bleibt dasselbe: Lohnsenkung. Und das nicht ohne Grund. Denn gerade die unteren Einkommensschichten sind in der Weltmarktfalle. Ihre Einkommen sind es, die immer stärker bedroht sind. Ihre Löhne sind tatsächlich sehr oft zu hoch für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt.

Dieses Sinken der Lohneinkommen ist für die Ökonomie auch keine Überraschung. Es ist seit Jahren vorausgesagt worden. Herbert Giersch, ein bedingungsloser Verfechter des Liberalismus, beschrieb die langfristige Wirkung weltweiten Freihandels schon 1994 so:52

»… im Extrem kann einfache Arbeit in Deutschland nicht höher entlohnt werden als in Tschechien, auf Dauer auch nicht höher als auf dem indischen Subkontinent…«

Diese Tendenz zum weltweiten Gleichstand der Entlohnung nennt man in der Ökonomie das Theorem vom »internationalen Faktorpreisausgleich durch Handel« (Stolper-Samuelson-Theorem der klassischen Außenhandelstheorie). Dieses Theorem überlagerte sich in den vergangenen Jahrzehnten mit der »natürlichen« Entwertung des Faktors Arbeit durch die technische Entwicklung. Betrachten wir die Auswirkungen beider Phänomene zusammen am Beispiel der Bundesrepublik genauer: Bis in die 70er Jahre stiegen die Nettorealeinkommen aus abhängiger Tätigkeit (grüne Linie auf dem Lesezeichen; Sternchenlinie Grafik C) in der BRD – wie auch in den anderen europäischen Industrienationen nicht viel langsamer als das Sozialprodukt (BIP, blaue Linie auf dem Lesezeichen, schwarze Linie Grafik C). Doch in der Phase der neoliberalen Ordnung seit Ende der 70er Jahre zeigen die Kurven eine geradezu explodierende Ungleichheit der Erträge des Wachstums. Selbst das durchschnittliche monatliche Bruttolohneinkommen (gelbe bzw. gepunktete Linie) konnte mit der Steigerung des Bruttosozialprodukts (blaue bzw. schwarze Linie) nicht mehr mithalten.


Die Ursache ist eine starke Kombination aus den beiden Faktoren: Dem Weltmarktdruck auf die Löhne und der Verschiebung des Anteils am Sozialprodukt: weg von der Arbeit, hin zum Kapital.

Die zunehmende Arbeitsproduktivität und die damit verbundene wachsende Kapitalintensität verlagern das aus der Produktion entstehende Einkommen zwangsläufig immer mehr auf Einkommen aus Vermögen und Unternehmen. Bei 60% Arbeitsintensität bei einem Produkt mit einem Verkaufswert von einer Million Euro entstehen 600 000 € Lohn oder, anders ausgedrückt: 600 000 € Massenkaufkraft der Beschäftigten. Bei nur noch zehn Prozent Arbeitsintensität entstehen beim gleichen Warenwert aber nur noch 100 000 € Arbeitseinkommen. 900 000 € verbleiben dem Unternehmen für Sachaufwendungen, die Zinsen für das Kapital, das für die teuren Maschinen aufgewandt wurde, sowie Unternehmensgewinn. Und bei drei Prozent Arbeitsintensität sind es dann nur noch 30 000 € Lohn.

Das ist ein völlig natürlicher Prozess – und hat mit »Ausbeutung« oder wildem Kapitalismus nichts zu tun.

Man könnte denken, dass es in einem Sozialstaat als selbstverständliche Aufgabe betrachtet worden wäre, diese Entwicklung durch Steuern, Sozialabgaben und andere Lenkungsmittel zumindest teilweise auszubalancieren. Doch Fehlanzeige! Grafik C (links und auf dem Lesezeichen) zeigt:

Die Durchschnittseinkommen nach Abzug der Soziallasten und Steuern (Nettoeinkommen – grüne bzw. Sternchenlinie) entwickelten sich nicht günstiger als die gelbe bzw. Punktelinie der Bruttobezüge, sondern im Gegenteil drastisch schlechter. Seit mehr als 20 Jahren steigen diese Nettoeinkommen überhaupt nicht mehr. Seit einiger Zeit sinken sie sogar. Und, nicht repräsentiert durch diese Einkommenslinien, kommt für die abhängig Beschäftigten heute die Drohung des Absturzes in die Arbeitslosigkeit und der Verlust der Arbeitslosenversicherung und Teile der Altersrente durch »Reformprogramme« hinzu.

Dagegen hat sich die Summe der Einkünfte aus Unternehmen und Vermögen (rote bzw. graue Linie) seit 1980 mehr als verdoppelt, seit 1950 ist sie auf das 11- bis 12fache dieser Einkünfte im Jahre 1950 gestiegen. Was ist der Grund für diese Diskrepanz?

Weltmarkt und Staat

Besteuerung von Unternehmen und Kapital schadet im weltweiten Wettbewerb dem »Standort Deutschland«. Da dieser Einwand für jedes Land der Welt gilt, ist der Steuerwettlauf nach unten programmiert. Die Bundesrepublik liegt in diesem Wettlauf nach unten weit vorne. Sie hatte mit 21,7% im Jahr 2001 die niedrigste Steuerquote in Europa. In einem Vergleich mit den Industrieländern lag nur die Quote Japans mit 17,2% niedriger. Und die Bundesrepublik will weiter rennen: Für die Jahre 2004 und 2005 sind weitere Steuersenkungen im Umfang von 23 Milliarden Euro geplant.53

Eine Studie des Internationalen Währungsfonds zeigt: Eindeutig ist, dass weltweiter Steuerwettbewerb dazu führt, dass die Steueraufkommen weltweit negativ beeinflusst werden.

»Eine weit verbreitete Ansicht ist, dass Steuerwettbewerb die Möglichkeit der Regierungen herabsetzen würde, den Wohlfahrtsstaat weiter zu finanzieren«.

Und zu dem Problem der Steuern auf Unternehmenseinkommen meint die Studie des IWF:

»Manche Autoren haben die Möglichkeit genannt, dass in längerer Zukunft die Steuereinnahmen aus Unternehmen auf Null getrieben werden…«54

Spielraum ist hier kaum noch. Zwei grundsätzliche Entscheidungen haben die Ohnmacht der Politik besiegelt: Die Öffnung unserer Volkswirtschaft zum Weltmarkt und die Einführung des Euro vor einer Einigung in der EU über eine gemeinsame, für alle gültige Besteuerung. Die Öffnung zum Weltmarkt zwang zum weltweiten Wettbewerb und damit zum Wettlauf der Modernisierung, also der Freisetzung von Arbeit durch »schlanke Produktion«, zur schnellen Rationalisierung mit Ersatz von Arbeit durch Kapital und zum weltweiten Steuersenkungswettbewerb. Die Einführung des Euro ohne gemeinsame Steuerpolitik sicherte dann diesen für die Staatsfinanzen ruinösen Wettbewerb auch noch innerhalb der EU ab. Inwieweit diese beiden Entscheidungen korrigiert werden können und sollen, ist eine der über die Zukunft Europas entscheidenden Fragen. Wieweit die EU-Einigung über die Besteuerung von Zinseinkünften vom 21.1.2003 etwas ändern kann, ist mehr als zweifelhaft. Es ist nicht einmal sicher, dass so die Zinseinkünfte wirklich in großem Umfang besteuert werden können.55 Und der Standortwettbewerb wird von dieser Einigung überhaupt nicht betroffen.

Der Politologieprofessor und ehemalige Planungsstabsleiter im Pariser Außenministerium, Jean-Marie Guéhenno, sieht deshalb »eine Welt kommen ohne Entscheidungszentrum und ohne Souverän, ohne Bürger und ohne Volksherrschaft«56. Er schreibt:

»Wenn (ein Staat) keine Kapital- und Talentflucht ins Ausland provozieren will, darf er die Steuern nicht über das Niveau vergleichbarer Länder anheben. Man kann in diesem Zwang die gelungene Übertragung marktwirtschaftlicher Gesetze auf den Bereich der Politik sehen. In Wahrheit, da die Inanspruchnahme zahlreicher Kollektivleistungen (wie Sicherheit, Infrastrukturen, Rechtsprechung u.a.) nicht an den Ort der Steuererhebung gebunden ist, werden viele Unternehmen in der Lage sein, ihre Steuerlast zu begrenzen, während sie sich gleichzeitig in den Staaten niederlassen, die die besten Kollektivleistungen bieten. Die Erschütterung der territorialen Besteuerungsgrundlage reicht daher in ihren Folgen sehr viel weiter, als uns ein oberflächlicher Liberalismus glauben macht. Sie bedeutet, daß die Nationalstaaten nicht mehr in der Lage sind, Kollektivleistungen durch die Steuern zu finanzieren. Entweder kommen Staaten mit vergleichbaren Leistungen überein, sich gegenseitig keine ›Steuerkonkurrenz‹ zu machen und Ausgleichsmechanismen in Gang zu setzen, oder aber die Staaten reduzieren die ›kostenlosen‹ Kollektivleistungen und ersetzen sie durch kostenpflichtige Leistungen bzw. durch individualisierte Versicherungssysteme.

In beiden Fällen ist die Nation als natürlicher Raum der Solidarität und der politischen Kontrolle in Gefahr.«57

Der Staat war der letzte Garant für einigermaßen gleiche Lebensbedingungen von Arm und Reich. Abbau des Staates ist Abbau zu Lasten der Armen und zu Gunsten der Reichen. Der Ruf nach dem »schlanken Staat« – möglichst so schlank wie Heinrich Hoffmanns Suppenkaspar auf den letzten Bildern, als er »wog vielleicht ein halbes Lot und war am fünften Tage tot!« – ist deshalb von Seiten derjenigen, die heute mit fetter Beute außer Landes in ihre Oasen fliehen, sehr verständlich. Auch Bankräuber würden die Abschaffung der Polizei lebhaft befürworten.

Naturgegeben ist dieses Verhalten nicht. Die Wohlfahrtsphasen in Amerika und Europa kannten dieses Dilemma nicht. Und so wird man Lester Thurow korrigieren müssen, der meinte: »Der Kapitalismus hat der Arbeiterklasse den Krieg erklärt, und er hat ihn gewonnen.«58 Nicht der Arbeiterklasse, sondern der solidarischen Gesellschaft und der auf ihr aufbauenden Demokratie galt der Krieg. Und die Demokratie ist anscheinend dabei, ihn zu verlieren.

2 Wer trägt die Lasten: Kapital oder Arbeit?
Die Erwerbsarbeit – Vom Schützling zum
Opferlamm des Sozialsystems

Dass die Einkommen aus Unternehmen und Vermögen gestiegen sind, ist weder verwunderlich noch zu bedauern. Im Gegenteil, in dieser Zunahme zeigt sich der Weg aus der Armut der Nachkriegszeit in eine Wohlstandsgesellschaft.

Aber warum brachen die Nettorealeinkommen der abhängig Beschäftigten derartig ab, sanken noch weit unter die »natürlich« abgehängten Bruttoeinkommen, die der Markt diktiert hatte? Die erste Antwort führt auf einen fast unglaublichen Fehler unserer Republik:

Die gepunktete Linie der Bruttoeinkommen in Grafik C (gelbe Linie auf dem Lesezeichen) weist aus, wie der Faktor Arbeit durch Weltmarkt und technische Entwicklung geschwächt wurde. Doch statt zu versuchen, diese Schwächung durch Steuern oder andere Abgaben abzufedern, wurde die Arbeit auch noch mehr und mehr mit den Sozialkosten beladen. Heute liegt die gesamte Last des sozialen Sicherungssystems fast ausschließlich auf dem Faktor Arbeit. Zu diesen Soziallasten kam dann noch die Integration der »fünf neuen Länder«.59

Das Ergebnis: Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile, die zusammen mehr als 40%60 der Netto-Arbeitskosten betragen, verteuern die legal eingekaufte Arbeitsstunde um mindestens 40%.

Miegel:

»Eine Gesellschaft, welche die Arbeitsflotte mit Soziallasten überfrachtet, muss damit rechnen, dass das eine oder andere Boot untergeht. Deshalb gleicht ihr Jammern über die Arbeitslosigkeit dem Jammern eines Kettenrauchers über seine morgendlichen Hustenanfälle.«61

Aber damit nicht genug: Auch die Steuern wurden sukzessive auf die Arbeitnehmer verlagert.

Die Verschiebung der Steuerlast auf die Arbeit
in der neoliberalistischen Phase

Sinkende Einkommen, aber steigende Steueranteile am Sozialprodukt der Lohnabhängigen einerseits, steigende Einkommen und sinkende Steuerquoten für Einkommen und Unternehmen andererseits sind für das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts typisch.

Seit 1975 hat sich der Anteil der Einkommens- und Körperschaftssteuer am Sozialprodukt etwa halbiert – wobei das Jahr 2001 mit seiner negativen Körperschaftssteuer noch nicht einmal berücksichtigt ist. Andererseits hat sich der Anteil der Lohnsteuer am Sozialprodukt vervierfacht. Der Wendepunkt findet sich um 1970. Steigende Steuerquoten der Lohnabhängigen und sinkende Steuerquoten für Einkommen und Unternehmen sind so mit dem immer weiter abnehmenden Wachstum des letzten Viertels des vorigen Jahrhunderts korreliert. Die These vom steigenden Wachstum durch Senken der Unternehmens- und Einkommensteuer kann auf diese Daten wirklich nicht gestützt werden.62


Bis etwa 1970 betrugen die Steuern auf Unternehmen etwa vier Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) oder mehr. Heute liegen sie bei etwa zwei Prozent. Lägen sie immer noch bei vier Prozent des Bruttosozialprodukts, wären die Steuereinnahmen aus diesen Quellen im Jahre 2000 um 80 Mrd. DM höher gewesen.63 Eine Krise der öffentlichen Hand wäre noch nicht eingetreten.

Die Bundesrepublik steht mit dieser Fehlentwicklung nicht allein.

»Die EU-Kommission führt den Steuerwettbewerb als wesentlichen Grund dafür an, dass die Arbeitnehmer in der EU im Jahre 1995 im Schnitt um 20% stärker belastet waren als im Jahre 1981, die Selbstständigen und Unternehmen dagegen um 22% geringer. Zum einen können sich Unternehmen dem heimischen Finanzamt über die Grenze hinweg entziehen. Zum anderen haben so gut wie alle EU-Länder die Steuern auf Unternehmensgewinne gesenkt, um die Betriebe im Land zu halten. Als Ausgleich trieben die Finanzminister die Lohnsteuern hinauf.«64

Ob man es glaubt oder nicht: Zur Steuerflucht brauchen die großen Unternehmen noch nicht einmal ein Ticket ins Ausland. Es genügt eine Fahrt nach Norderfriedrichskoog bei Husum.

»Seit Jahrzehnten erhebt das Dorf keine Steuern. Keine Grundsteuer, keine Hundesteuer und keine Gewerbesteuer. Laut Handelsregister haben sich deswegen inzwischen 514 steuerflüchtige Firmen aus dem ganzen Land im Koog angesiedelt, darunter namhafte und weltweit agierende Konzerne…

Natürlich steht im Telefonbuch nicht ›Eon‹ oder ›Deutsche Bank‹, sondern ›VR Telecommunications GmbH&Co KG‹, ›DB Enterprise‹ oder ›DB Value‹ … Wenn Dividende ausgeschüttet oder Anteile verkauft werden, bleibt das alles wunderbar steuerfrei.«

Selbstredend findet das Beispiel der Gemeinde Nachfolger. »Im Wettlauf um Firmen und Investitionen senken immer mehr Gemeinden die Gewerbesteuer auf null – und tricksen ganz legal den Fiskus aus.«65

Niemand weiß genau, wie viele Millionen oder Milliarden Gewerbesteuern inzwischen in Norderfriedrichskoog und anderen Gemeinden »gespart« werden… »Aber als zum Beispiel Unilever nur seinen Bereich Bestfoods (Knorr, Pfanni, Mondamin, Maizena) in Monda umtaufte und in die ausgebaute Scheune von Dieckstraat 13 steckte, fehlte der Heilbronner Stadtkasse plötzlich ein zweistelliger Millionenbetrag.«66

Nun muss Heilbronn an allen Ecken sparen. Wo? Überall, vor allem aber an den Beschäftigten. Die Beamten diskutieren zur Zeit (2003) gerade einen Verzicht auf 30% des Weihnachtsgeldes. Auch andere Sparprogramme liegen für sie und die städtischen Angestellten in der Luft.67 Denn eines ist allen klar: »In dieser schwierigen Lage müssen wir alle unser Schärflein beitragen!«

Alle?

Die Umverteilung der Steuerlasten zuungunsten der Arbeit und zugunsten des Kapitals fällt zeitlich zusammen mit einem drastischen Verlust des Anteils des Faktors Arbeit am Sozialprodukt zugunsten des Faktors Kapital. Weniger Arbeitsertrag muss so mehr Steuern aufbringen. Das traurige Resultat von 30 Jahren derartiger Umverteilung von Lasten und Chancen zeigte die gelbe bzw. Sternchenkurve in Grafik C (S. 32): Die durchschnittlichen Nettoeinkommen der (noch) nicht arbeitslosen abhängig Beschäftigten haben sich seit 1950 nur verdreifacht. Das Sozialprodukt stieg auf das Siebenfache und die Summe der Einkommen aus Unternehmen und Vermögen auf das 11,5fache, also fast viermal so stark wie die Einkommen der abhängig Beschäftigten.

Und noch etwas zeigt sich an dieser gelben bzw. Sternchenkurve der Grafik C: Seit Mitte der 70er Jahre steigen die durchschnittlichen Nettorealeinkommen der abhängig Beschäftigten nicht mehr. Aber das Sozialprodukt, die Summe aller erzeugten Güter und Dienstleistungen, verdoppelte sich. 34,5 Millionen abhängig Beschäftigten stehen aber nur rund vier Millionen Selbstständige und mithelfende Familienangehörige gegenüber. Deren (gestiegene) Einkommen reichen nicht hin, die verdoppelte Produktion auch abzunehmen, zu kaufen. Aber wenn die Nachfrage dem Angebot nicht mehr folgt, entsteht Rezession. Zu den strukturell Arbeitslosen gesellen sich so die konjunkturell Arbeitslosen.

Steuersenkungen für Unternehmen und obere Einkommen (Senkung des Spitzensteuersatzes) und die daraus zwangsweise folgende Suppenkaspar-Sparsamkeit der »öffentlichen Hände« können in einer solchen Situation nur noch mit Dantes »Lasst, die ihr einkehrt, alle Hoffnung fahren!« kommentiert werden.

Steuererhöhungen für die Wirtschaft und die Besserverdienenden dagegen würden der bisherigen schiefen Verteilung entgegenwirken. Dabei ist dann nicht einzusehen, warum der »Spitzensteuersatz« wie bisher bei 53% liegt, noch, warum er schon ab ca. 50 000 € gelten soll. Und erst recht nicht, warum man ihn bis 2005 noch auf 43% senken will. Der Spitzensteuersatz inklusive aller lokalen und regionalen Abgaben liegt in den Vereinigten Staaten inzwischen bei immerhin gut 46%.68

Ein von 10 000 € an von einem auf z.B. zehn Prozent abgesenkten Eingangssatz linear ansteigender Steuersatz, der bei 50 000 € vielleicht 30% erreicht und der bis zu einem zu bestimmenden Grenzwert weiter steigt, würde einer großen Zahl von bisher benachteiligten Menschen mehr von dem, was sie in der Wirtschaft verdient haben, lassen. Und würde so verfügbares Einkommen gerade da sichern, wo die größte Chance besteht, dass es in Konsum und damit Nachfrage umgesetzt wird: im unteren und mittleren Bereich der Einkommen. Gerade hier ist höheres Einkommen auch für die breite Vermögensbildung, die angesichts des Absinkens des Faktors Arbeit immer wichtiger wird, dringend nötig. Und gerade in diesem Bereich ist das Argument, man solle nicht die »Leistungswilligen« bestrafen, nicht ganz falsch. Dieses Argument verliert jedoch immer mehr an Gewicht, je höher die Einkommen im Millionenbereich liegen.

Wie hoch kann und soll aber dieser Spitzensteuersatz liegen? Hohe Spitzensteuersätze sind zum Tabu geworden. Das ist eine Ideologie, die das Umsteuern der Wirtschaft erschwert.

Robert Reich, der erste Arbeitsminister der Administration Clinton, meint, dass Solidarität einst auch die Voraussetzung für das Überleben der USA im Pionierzeitalter war. »Es war eine Solidarität aus wohlverstandenem Eigeninteresse, wie Alexis de Tocqueville beobachtete.«69 In dieser so verstandenen Solidarität konnte der Steuersatz 1935 auf 79% gesteigert und mit einer Steuer auf Erbschaften verbunden werden. Woodrow Wilson steigerte den Spitzensteuersatz auf 83%.

»Als F. D. Roosevelt sagte, niemand solle mehr verdienen können als 25 000 $, was heute 200 000 $ im Jahr entspricht, hat ihn niemand bezichtigt, verrückt geworden zu sein oder seine politische Zukunft aufs Spiel zu setzen.«70

Dass hohe Spitzensteuersätze der Wirtschaft schaden, das Wachstum hemmen, die Arbeitslosigkeit vergrößern, ist eine Aussage, die je nach den konkreten Bedingungen stimmt oder nicht stimmt. Sie hat im Amerika der 30er, 40er und 50er Jahre nicht gestimmt. Sie stimmt heute, weil die weltweite Öffnung aller Grenzen dem Kapital Fluchtmöglichkeiten bietet und die Öffnung der Märkte erlaubt, sich der Solidarität mit den anderen Bürgern des Staates zu entziehen. Auf Solidarität, die nicht auf Eigeninteresse gegründet ist, ist eben kein Verlass.

Doch ohne höhere Spitzensteuersätze ist eine Umkehr der Verteilung von oben nach unten nicht möglich. Und ohne diese Umkehr wird die Gesellschaft so desolidarisiert, dass sie zerbrechen muss. Denn die Verlagerung des erarbeiteten Mehrwerts von der Arbeit zum Kapital ist unaufhaltsam. Selbst in einem geschlossenen Wirtschaftsraum könnte Politik sie allenfalls verlangsamen. Da die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktionskapital nur langsam voranschreitet und in absehbarer Zeit immer nur relativ kleine Teile der Bevölkerung erfasst, ist Umverteilung von oben nach unten und vom Kapital zur Arbeit für den Erhalt der Gesellschaft unverzichtbar geworden.

Aber nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen muss die Umverteilung von unten nach oben umgekehrt werden. Genau so gewichtig, wenn nicht noch wichtiger sind wirtschaftliche Zwänge: Denn ohne die verschiedenen Formen der Umverteilung des erarbeiteten Mehrwerts zur Arbeit und insbesondere »nach unten« fehlt wegen des weltweiten Drucks auf die Löhne schließlich weltweit die kaufkräftige Nachfrage, die zur Abnahme der wachsenden Produktion notwendig ist. So entpuppt sich das neoliberale System letztendlich als wirtschaftsfeindlich.

Schon heute nähert sich die Krise in den Industrienationen bereits dem Mittelstand. »Angst vor dem Absturz – Das Dilemma der Mittelklasse« nannte Barbara Ehrenreich71 ihr 1992 auf Deutsch erschienenes Buch, in dem sie die grassierende Furcht des amerikanischen Mittelstands vor diesem Desaster beschrieb. Eine Furcht, die durch die großen Vermögensverluste beim jüngsten Aktiencrash nur noch verstärkt wurde. Auch in der Bundesrepublik ist die Krise mittlerweile längst beim Mittelstand angekommen. Immer mehr kleine Unternehmer fallen durch den scharfen Konkurrenzkampf aus der »Gewinnerstraße«, die die rote Kurve der Grafik C auf dem Lesezeichen bzw. die graue Kurve der Grafik C auf S. 32 zeichnet, heraus. Im besten Fall konnten sie etwas Vermögen retten, von dem sie jetzt leben. Im schlechtesten Falle sind sie mittel- und arbeitslos. Das betrifft kleine Einzelhändler ebenso wie Handwerksbetriebe oder selbstständige Ärzte, aber auch immer mehr mittlere Betriebe müssen aufgegeben.

Sogar die oberen Spitzen hat die Wirtschaftskrise schon erreicht. »Selbst die Reichsten werden ärmer«, meldet die Welt:

»… ihr Geld zerrinnt mit jedem Zittern der Börse, mit der Talfahrt der Konjunktur, mit der schlechten Laune der Verbraucher. Millionen schmelzen dahin, und die Zahl der Milliardäre nimmt von Jahr zu Jahr ab … «72

Nicht die schlechte Laune der Verbraucher, sondern ihre sinkenden Einkommen sind in der Bundesrepublik die Ursache für die schlechte Konjunktur. Und so zeigt sich: Es ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, für hinreichende Einkommen der großen Masse der Bevölkerung zu sorgen. Hinreichende Masseneinkommen sind auch die Voraussetzung dafür, dass die großen und kleinen Unternehmen ausreichende Gewinne machen können. Ohne diese Gewinne gedeihen die großen Vermögen auch nicht. Denn große Vermögen entstehen durch Verkauf von Massen an Gütern oder Dienstleistungen. Und nur Massen von kaufkräftigen Kunden kaufen Massen von Gütern und Dienstleistungen. Ohne millionenfache, ja milliardenfache hinreichend kaufkräftige Nachfrage wäre Bill Gates heute nicht der reichste Mann der Welt, und die Brüder Albrecht (Aldi) gehörten nicht zu den reichsten Deutschen.

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