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Noch immer sind die Fragen nicht zu entscheiden, was Thomas unter der ‘Gnade Gottes’ versteht, ob und wie der Mensch ihrer teilhaft werden kann, und wie sich ‘menschliche Freiheit’ und ‘Gnade Gottes’ zueinander verhalten. Wird die Bedeutung des in den Eingangsquästionen der IIa Pars in seiner Struktur herausgearbeiteten, vernunftgeleiteten und selbstbestimmten Handelns des Menschen etwa unter dem Primat der Gnade Gottes nachträglich doch wieder eingeschränkt und marginalisiert? Die Beantwortung dieser Fragen macht zunächst noch weitere Überlegungen erforderlich.

b) Die Rolle der Affekte für das menschliche Handeln

Menschliches Handeln ist, wie in den vorausgegangenen Abschnitten erwähnt, durch ‘Vernunftbestimmtheit und Willentlichkeit’ ausgezeichnet; mittels seiner höchsten Seelenvermögen, Vernunft und Wille, verwirklicht der Mensch sein ‘Gut’ (»bonum hominis«).122 Bislang ist auf die Bedeutung, die dem ‘niederen-sinnlichen Strebevermögen’ (»appetitus inferior; appetitus sensitivus«) bei dem Aufbau der menschlichen Handlung zukommt, nur am Rande eingegangen worden.123 Weit ausführlicher als noch im Frühwerk124 wendet sich Thomas der Frage nach der Bedeutung des sinnlichen Strebevermögens in der insgesamt 26 Quästionen umfassenden Lehre von den menschlichen Affekten bzw. Leidenschaften zu (qu. 22-48).125 In dieser sich durch einen ‘Reichtum an phänomenologischer Beobachtung’126 auszeichnenden Analyse des psychischen Affektpotentials macht Thomas deutlich: Auch und gerade menschliches Handeln gründet in den autonomen bzw. irrationalen psychischen Antrieben der Liebe (»amor«) und des Hasses (»odium«), der Sehnsucht (»desiderium«) und der Flucht (»fuga«), der Freude (»delectatio«) und der Traurigkeit (»tristitia«), der Hoffnung (»spes«) und der Verzweiflung (»desperatio«), der Furcht (»timor«) und der Kühnheit (»audacia«) und des Zornes (»ira«). Diese elf den Menschen mit den Tieren gemeinsamen127, in sich sittlich neutralen128 Affekte nennt Thomas »passiones«. Der Begriff »passio« legt vom Wortsinn her die durch ein ‘Erleiden’ (»pati«) von etwas ‘Schlechtem’ hervorgerufene körperlich-seelische Veränderung (»transmutatio corporalis«) nahe.129 Doch bezeichnet der Begriff »passio« nach Thomas jedwede Gemütsbewegung, also auch diejenigen Affekte, die mit vornehmlich positiven Konnotationen belegt sind, wie etwa die Freude oder die Liebe. Da die »passiones« gewissermaßen innerpsychische Reaktionen auf die (‘äußere’) Gegenstandswelt (wozu natürlich auch ‘ideale’ Gegenstände bzw. Güter gehören) sind, unterscheidet Thomas zwei Vermögen der »sensualitas«: den »appetitus concupiscibilis« und den »appetitus irascibilis«. Dem »appetitus concupiscibilis« gehören diejenigen Affekte an, die sich direkt auf den sie evozierenden Gegenstand beziehen, wie die Liebe (»amor«), die Sehnsucht (»desiderium«), die Freude (»delectatio«) einerseits und der Hass (»odium«), die Flucht (»fuga«) und die Traurigkeit (»tristitia«) andererseits. Demgegenüber sind dem »appetitus irascibilis« diejenigen »passiones« zugehörig, die sich auf ein schwer erreichbares ‘Gut’ bzw. auf ein nicht leicht vermeidbares ‘Übel’ beziehen, wie die Hoffnung (»spes«), die Verzweiflung (»desperatio«), die Furcht (»timor«), die Kühnheit (»audacia«) und der Zorn (»ira«).130 Die letztgenannten komplexeren, auf die Überwindung von Widerständen abzielenden Affekte des ‘irasziblen’ Strebevermögens haben hinsichtlich der ‘konkupisziblen’ »passiones« eine Schutz- bzw. Abwehrfunktion.131 Von diesen nehmen die irasziblen Affekte ihren Ausgang, und in sie münden sie zurück132

Wenn man die Entstehung der einen »passio« aus der anderen nachzeichnen will bzw. - in scholastischer Terminologie gesprochen - den »ordo consecutionis« oder die »via generationis« der einzelnen Affekte nach-denkt, muß von der Liebe (»amor«) ausgegangen werden.133 Denn alle Affekte haben ihren Ursprung in der Liebe, die darum die erste »passio« des konkupisziblen Strebevermögens genannt wird. Aus der Liebe, die Thomas als affektive Einigung134, als das Gefühl einer Entsprechung (»proportio«) bzw. der Hingeordnetheit (»aptitudo«) auf ein diese Liebe provozierendes ‘Gut’ oder gar als ‘Wohlgefallen’ (»complacentia«) an diesem beschreiben kann, entspringt die Sehnsucht (»desiderium«), die ihrerseits, sobald das geliebte ‘Gut’ erreicht ist, in die Freude (»delectatio«) mündet.135 Erweist sich aber ein ‘geliebtes Gut’ als schwer erreichbar oder zukünftig, wird es zum Objekt der Hoffnung (bzw., falls unerreichbar, zum Objekt der Verzweiflung; »desperatio«). Da in der Hoffnung (»spes«) die Erlangung eines (schwer erreichbaren) ‘hohen Gutes’ (»bonum arduum«) für möglich gehalten wird, ist sie ihrerseits die erste »passio« des ‘irasziblen’ Strebevermögens.136 Wie die Hoffnung münden auch die anderen ‘irasziblen’ Affekte in die Freude bzw. in die Traurigkeit.137

Wie aber verhält sich das psychische Affektpotential zu der zuvor138 betonten Vernunftbestimmtheit menschlichen Handelns? Thomas ist zwar der Auffassung, daß Affekte sich verselbständigen, die Vernunft und Willen beeinträchtigen, ja sogar gänzlich ausschalten können, so daß eine Handlung ganz oder teilweise ‘unwillentlich’ werden kann139, doch sieht er die »passiones« grundsätzlich auf die Vernunft hingeordnet.140 “Sie sind naturale Güter, die als dynamisierende Potenzen dem Menschen mitgegeben sind und durch seine freie Verfügung der Entfaltung äußersten menschlichen Seinkönnens dienstbar gemacht werden können und sollen.”141 Obgleich sie ‘an sich’ sittlich neutral sind, haben sie dennoch dadurch sittliche Relevanz, daß sie der Vernunft unterstehen bzw. von ihr gelenkt werden können.142 So heißen Affekte ‘gut’, wenn sie vernunftgemäß sind (»secundum rationem«), und ‘schlecht’, wenn sie der Vernunft entgegenstehen (»praeter rationem«).143 Es zeigt sich, daß auch in der Affekte-Lehre die Vorrangstellung der Vernunft betont wird, indem auf die nur dem Menschen gegebene Möglichkeit der Durchdringung der Affekte durch die Vernunft hingewiesen wird. Doch bedeutet das umgekehrt nicht, daß die thomanische Lehre von den menschlichen Leidenschaften einseitig rationalistisch oder leibfeindlich zu interpretieren wäre. Thomas ist zwar der Auffassung, daß der Mensch um so vollkommener ist, je mehr sich sein höchstes, ihn auszeichnendes ‘Gut’, die Vernunft, in den Antriebskräften menschlichen Handelns auswirkt.144 Ebenso sehr wird jedoch betont, daß in einer starken Leidenschaftlichkeit ein Zeichen für die Stärke des menschlichen Willens zu sehen ist145 bzw. daß der Mangel an Leidenschaftlichkeit (»vitium insensibilitatis«146) sogar eine Sünde sein kann. So wird die Bedeutung der psychischen Antriebskräfte nicht nivelliert, wenn Thomas die Vollendung der menschlichen Seelenkräfte in einem harmonischen Ineinandergreifen von niederem und höherem Seelenvermögen verwirklicht sieht.147

Das Ineinandergreifen von niederem und höherem Seelenvermögen bedarf jedoch nach Thomas noch einer weiteren ‘anthropologischen Vermittlung’: Da die Affekte der Vernunft gehorchen bzw. von ihr geleitet werden können, sind sie prinzipiell auch für eine bestimmte Disponierung offen.148 Auf die Art und Weise, wie die am Aufbau des menschlichen Handelns beteiligten Seelenpotenzen (die Affekte, Vernunft und Wille) disponiert bzw. vollendet werden können, greift Thomas vor, indem er neben Vernunft und Wille auch die Affekte als Ansatzpunkte für ‘Tugenden’ bzw. als deren ‘Sitz’ oder ‘Träger’ (»subiectum«) bezeichnet.149 Mit dem somit schon in der Affekte-Lehre eingeführten ‘Tugend-Begriff’ und dem diesem vorausliegenden »habitus«-Begriff gelangt die Analyse der thomanischen Ethik zu ihren Schlüsselbegriffen, die im Blick- und Mittelpunkt der Untersuchung der I-IIae (qu. 49-71) stehen und von da an die Argumentation der gesamten Secunda Pars bestimmen.

1.3. Habituelle Dispositionen, ‘natürliche’ und ‘eingegossene’ Tugenden und ihre Bedeutung für die Erlangung der Glückseligkeit
a) »Habitus« als spezifisch menschliche Tätigkeitsvorprägungen

Der von den meisten Kommentaren150 gewählte Zugang zu dem der thomanischen Tugend- und Gnadenlehre zugrundeliegenden »habitus«-Begriff scheint zumeist nur um den Preis ‘hoher begrifflicher Abstraktion’ möglich. Gerade dadurch aber, d.h. durch einen zu frühen Rekurs auf die Kategorientafel des Aristoteles, wird m.E. das Verständnis in der heutigen Zeit eher erschwert als erleichert. Dies ist um so mehr zu bedauern, weil sich eine Hinführung151 zu dem von Thomas Gemeinten eigentlich ohne größere Umstände in direktem Anschluß an die zuvor in dieser Arbeit skizzierten Leitsätze der thomanischen Ethik ergibt: Der Mensch, so ist in den unterschiedlichsten Zusammenhängen wiederholt gesagt worden, verhält sich durch seine Seelenvermögen (»potentiae animae«), d.h. durch Vernunft, Wille und durch das psychische Triebpotential, zu seiner Um- und Mit-Welt. Indem der Mensch sich mit seiner Vernunft, seinem Willen und seinen Affekten (in Akten, bei denen diese Seelenvermögen zusammenwirken) auf seine Umwelt bezieht, ergeben sich durch den bloßen und unvermeidbaren Gebrauch (oder Nicht-Gebrauch) notwendig (An-) Gewohnheiten als Reflex und Ergebnis der jeweiligen Tätigkeiten. Und genau diese unvermeidbaren (An-) Gewöhnungen und Gewohnheiten bezeichnet Thomas als »habitus« und versteht sie als Handlungsdispositionen bzw. Tätigkeitsvorprägungen152, in denen sich die Weise der Aktuierung der oben genannten Vermögen (Vernunft, Wille, Affekte) in Bezug auf ein bestimmtes Objekt oder Objektfeld verfestigt hat. Insofern die »habitus« einem bestimmten, konstanten Objektfeld (»causa immobilis«) entsprechen, sind sie durch eine gewisse Beständigkeit153, Konstanz und Dauerhaftigkeit154 ausgezeichnet und garantieren eine grundsätzliche Befähigung zu einer prompten155 Aktuierung der entsprechenden Seelenvermögen.

Im Hinblick auf die nachfolgenden Kapitel kann nicht entschieden genug darauf hingewiesen werden, daß Thomas als »habitus« nur die spezifisch menschlichen Handlungsvorprägungen bezeichnet, also weder den dressierten Trieb bzw. Instinkt noch eine körperliche Disposition (wie z.B. Gesundheit, Schönheit, etc.), die es auch bei Tieren gibt156, sondern die durch die Tätigkeit von Vernunft und Wille - gewissermaßen freiwillig und selbstbestimmt - zustandegekommene Handlungsdisposition eines der genannten Vermögen.157 »Habitus« können den Verstand, den Willen und die Affekte auf unterschiedliche und sogar in entgegengesetzter Weise bestimmen158 und sind als Tätigkeitsvorprägungen bezüglich eines konstanten Objektfeldes somit auf ein ihnen entsprechendes ‘Tätigwerden’, auf »operationes«, bezogen.159 Zur Entstehung bzw. Ausprägung eines »habitus« bedarf es allerdings mehr als nur einer einfachen, einzelnen Aktuierung eines Seelenvermögens. Vielmehr ist er das zu einem (habituellen) Zustand ‘geronnene’ Ergebnis vieler einzelner, gleichförmiger und gerichteter Einzelakte.160

Die bisherigen Überlegungen zum thomanischen »habitus«-Begriff können wie folgt Satz zusammengefaßt werden: Ein »habitus« ist eine nur den Menschen aufgrund seines Verstandes- und Willensvermögens auszeichnende und durch vielfältige, gleichförmige Einzelakte angewöhnte Disposition eines Vermögens, wodurch dieses Vermögen gegenüber einem bestimmten Objektfeld zu konstanten, gleichförmigen Tätigkeiten befähigt wird.

Ein über das Gesagte hinausgehendes Verständnis des thomanischen »habitus«-Begriffs ergibt sich, wenn man den »habitus« in seinem ontologischen Bezug, in seiner Beziehung zur menschlichen Natur bzw. zur menschlichen Seele betrachtet.161 Weil sich die menschliche Seele vermittels der Seelenvermögen aktuiert und verwirklicht162, qualifizieren die Handlungsvorprägungen der einzelnen Seelenvermögen zugleich auch das menschliche Sein insgesamt.163 Der »habitus« ist also, weil er auch auf die menschliche Natur bezogen ist, in scholastischer Terminologie ausgedrückt, eine ‘Qualität’ der Seele, eine »qualitas«.164 Mit dieser den ontologischen Bezug des »habitus« reflektierenden Terminologie (»qualitas«; »modus et determinatio subiecti«165) gelingt es Thomas, auf zwei Hauptgedanken seines »habitus«-Verständnisses aufmerksam zu machen: Bei den »habitus« handelt es sich nicht um notwendige Entfaltungen eines inwendigen Prinzips, sondern um freie, d.h. durch Vernunft und Wille vermittelte, und insofern kontingente und akzidentielle Selbstbestimmungen des Menschen. Darüber hinaus ist es durch den Bezug der »habitus« auf die menschliche Natur bzw. auf deren Ziel(e) möglich, ‘gute’ und ‘schlechte’ »habitus« voneinander zu unterscheiden. ‘Gut’ ist nach Thomas ein durch die rationalen Vermögen des Menschen vermittelter »habitus«, der der menschlichen Natur ‘gemäß’ (»conveniens«) ist. Umgekehrt wird ein »habitus«, der der menschlichen Natur nicht entspricht, als ‘schlecht’ bezeichnet.166

Mit der - im Blick auf die menschliche Natur vorgenommenen - Unterscheidung von guten und schlechten »habitus« wird nun auch gegen Ende dieser Einftührung die Definition des »habitus« verständlich, von der Thomas seine Untersuchung direkt im allerersten Artikel der qu. 49 ihren Ausgang nehmen läßt: ‘Als »habitus« wird eine Disposition bezeichnet, durch die etwas Disponierbares gut oder schlecht disponiert wird, entweder in Bezug auf sich selbst oder zu etwas anderem.’167 Aufgrund der Unterscheidung zwischen ‘guten’ und ‘schlechten’ »habitus« kann nun zu der in qu. 55 ansetzenden Untersuchung über den Tugend-Begriff übergeleitet werden, da alle Einteilungskriterien genannt sind, nach denen die »habitus« (und im folgenden auch die Tugenden) unterschieden werden: Die Differenzierung der »habitus« erfolgt 1. nach den jeweiligen Objekten, 2. nach den sie ‘tragenden’ Vermögen und 3. nach der ‘Gemäßheit’ oder ‘Nicht-Gemäßheit’ mit der menschlichen Natur.168

b) Tugenden als ‘natürliche’ Vervollkommnungen der Seelenvermögen und als Verwirklichung der ‘natürlichen’ Glückseligkeit

Was zu den »habitus« gesagt wurde, gilt gleichemaßen auch für die Tugenden.169 Auch eine Tugend (»virtus«) ist eine nur den Menschen170 aufgrund seines Verstandes- und Willensvermögens auszeichnende und durch vielfältige, gleichförmige Einzelakte171 angewöhnte Disposition172 eines Vermögens173, wodurch dieses Vermögen gegenüber einem bestimmten Objektfeld zu konstanten, gleichförmigen Tätigkeiten befähigt wird.174

Im Unterschied aber zu anderen »habitus« handelt es sich bei einer »virtus« immer um einen aufgrund eines guten Vernunfts- und Willensgebrauchs175 entstandenen ‘guten’ »habitus« (»habitus bonus«)176 und somit um eine Vervollkommnung eines Seelenvermögens (»perfectio potentiae«).177 Doch ist eine Tugend auch noch mehr als einfach nur ein Wechselbegriff für einen ‘guten’ »habitus« im Gegensatz etwa zu ‘schlechten’ »habitus« (Laster, schlechte Angewohnheiten, etc.). Sie ist nach Thomas gerade dadurch ausgezeichnet, daß sie nicht nur die ‘Befähigung zu einem guten Handeln’ (»facultas bene agendi«) verleiht, sondern sogar den tatsächlichen Gebrauch (»bonus usus«), die tatsächliche Verwirklichung der habituellen Disposition eines Vermögens garantiert178 und durch die Verwirklichung von guten Taten auch den Menschen als ganzen ‘gut’ macht.179 Zu diesem (in Anlehnung an Aristoteles180 gewonnenen) Verständnis des Tugendbegriffs gelangt Thomas vor dem Hintergrund folgender Überlegung: In erster Linie kennzeichnen die Tugenden das den Menschen auszeichnende rationale Strebevermögen, den Willen (»voluntas«). Weil der Wille, wie oben erwähnt181, alle Vermögen, die der Vernunft unterstehen, in ihren jeweiligen Tätigkeiten bedingt, ist die Verwirklichung eines guten Handelns in erster Linie auf einen ‘guten’ Willen zurückzuführen. Eine Tugend kann deshalb nur den Willen oder aber ein von diesem ‘abhängiges’ (also der Vernunft und dem vernunftgemäßen Willen unterstehendes) Vermögen vervollkommnen.182 Da nun aber an dem Aufbau der menschlichen Handlung neben dem Willen und dem (seinerseits in einen konkupisziblen und einen irasziblen Bereich unterteilten) sensitiven Strebevermögen auch der auf das Handeln bezogene Verstand (»intellectus practicus«) beteiligt ist, werden alle diese genannten Vermögen durch Tugenden vervollkommnet, die dadurch die ‘Rechtheit’ menschlichen Strebens und Handelns garantieren und verwirklichen. Die die Rechtheit menschlichen Handelns nicht nur grundsätzlich ermöglichenden, sondern tatsächlich verwirklichenden Tugenden bezeichnet Thomas als moralische Tugenden (»virtutes morales«).183

Unter den moralischen Tugenden werden - sowohl nach formalen Gesichtspunkten als auch im Blick auf die zu vervollkommnenden Vermögen184 - vier sogenannte Kardinaltugenden hervorgehoben, da sie in besonderer Weise zur Verwirklichung eines ‘guten’ Strebens bzw. Handelns beitragen. An erster Stelle nennt Thomas die ‘Klugheit185 (»prudentia«), die den auf das Handeln bezogenen Verstand (»intellectus practicus«) vervollkommnet. Sie ist gewissermaßen ein ‘rechtes Handlungswissen’ (»recta ratio agibilium«), durch das ein Mensch sich zu seinen Handlungszielen in rechter Weise verhalten kann186, auf die er durch den ‘rechten’ Willen bzw. durch die Tugenden ausgerichtet ist. Die Klugheit wird als die ‘notwendigste’ Tugend bezeichnet, da sie die rechte ‘Wahl der dem Handlungsziel proportionierten Mittel’ (»electio eorum quae sunt ad finem«) gewährleistet und menschliches Handeln von unkontrollierter Leidenschaft oder triebhafter Impulsivität freihält.187 In der Tatsache, daß die Klugheit für die ‘Wahl der einem Handlungsziel proportionierten Mittel’ verantwortlich ist, liegt die Vorrangstellung der Klugheit unter den anderen Tugenden begründet. Denn da eine Tugend, um eine Tugend zu sein, auch ‘auswählen’ (»eligere«) muß und somit ein »habitus electivus« ist, kann es ohne die Klugheit überhaupt keine andere Tugend geben.188 Umgekehrt ist ebenso richtig, daß sich die Klugheit und die moralischen Tugenden wechselseitig voraussetzen. So ist die Klugheit von den anderen Tugenden abhängig, weil diese der Klugheit die Handlungsziele vorstellen, durch welche die ‘Wahl der Mittel’ ermöglicht wird.189 Genau diese Einsicht in die beschriebene wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Klugheit und den anderen moralischen Tugenden ist es, die Thomas dazu veranlaßt, eine grundsätzliche Verbindung der moralischen Tugenden untereinander anzunehmen.190 Denn wenn einerseits eine einzelne Tugend nur dann eine Tugend ist, wenn sie mit der Klugheit einhergeht, und wenn auf der anderen Seite die Klugheit ihrerseits nur dann vollkommen ist, wenn ihr durch die moralischen Tugenden die Handlungsziele gewärtig werden, dann kann es im strengen Sinne gar keine isolierte Tugend, sondern vielmehr alle moralischen Tugenden nur gemeinsam geben, die zusammen den Menschen ‘gut’ machen und als isolierte Einzeltugenden des Tugendcharakters ermangeln.191 So ist z.B. auch der keuscheste Mensch nur dann keusch im Sinne der Tugend, wenn diese Keuschheit nicht eine isolierte und somit äußerliche Haltungsvorprägung ist, sondern wo sie Ausdruck und integrativer Bestandteil einer allgemein den Menschen durchwirkenden Sittlichkeit, Tugendhaftigkeit und Menschlichkeit ist. Tugend, darin stimmen Thomas und Aristoteles überein, kann es nur in einem ‘tugendhaften’ Menschen geben, in dem sich Klugheit und die anderen moralischen Tugenden wechselseitig bedingen.

Wegen der beschriebenen Vorrangstellung kommt vor allem der Klugheit die Bezeichnung Kardinaltugend zu. Ebenso werden auch die Haupttugenden der anderen beiden - neben dem »intellectus practicus« - am Aufbau der menschlichen Handlung beteiligten Vermögen (das ‘rationale’ Strebevermögen bzw. der Wille und das ‘sensitive’ Strebevermögen) zu den Kardinaltugenden gezählt. Weil sich die Rechtheit menschlichen Handelns in einem vernunftgemäßen Streben bzw. In willentlichen Tätigkeiten zeigt, ist nach der Klugheit zuerst die den Willen vervollkommnende Tugend der ‘Gerechtigkeit192 zu nennen, die nach Thomas ihrerseits alle anderen moralischen Tugenden insofern übertrifft, als sie mehr als die anderen vernunftgeleitet ist.193 Die Gerechtigkeit leitet menschliches Handeln allgemein unter dem Gesichtspunkt des ‘Gerechten’ und ‘Geschuldeten’. So ist sie vor allem die Tugend des menschlichen Miteinanders und der zwischenmenschlichen Beziehungen, die durch einen ‘gerechten’ Ausgleich und ‘gerechten’ Austausch entstehen und erhalten werden.194 Weil aber alle Handlungen nicht eben nur einen Bezug zum Handelnden selbst, sondern zugleich auch einen ‘Außenbezug’ zu etwas anderem haben, zu dem sie nun entweder in einem ‘rechten’ Verhältnis oder in einem Mißverhältnis stehen, hängen sie (mitsamt den diesen zugrundeliegenden moralischen Tugenden) von der Tugend der Gerechtigkeit ab.195 Je nachdem, in welchen Beziehungen sich das ‘Gerechte’ verwirklichen soll, werden bestimmte, der Leittugend der Gerechtigkeit zugehörige Tugenden unterschieden: etwa die Tugend der Religion, in der das Gerechte Gott gegenüber sich verwirklicht, oder die Tugend der ‘Ehrfurcht’ gegenüber Eltern und dem Vaterland, etc.196

Die Vernunftgemäßheit und Rechtheit menschlichen Strebens verwirklicht sich in ‘nach außen’ bzw. ‘auf andere’ gerichteten Handlungen (»in operationibus ad alterum«), bedarf aber auch notwendig der ‘Richtigkeit’ des sensitiven Strebevermögens (Affekte; »passiones«). Aus diesem Grund zählen auch die die menschlichen Affekte in einer vernunftgemäßen Mitte haltenden und sie auf das »bonum rationis« ausrichtenden Tugenden der ‘Tapferkeit’ (»fortitudo«) und der ‘Maßhaftigkeit’ (»temperantia«) zu den Kardinaltugenden. Die Maßhaftigkeit hält die konkupisziblen Affekte (»amor, desiderium, delectatio, odium, ira, tristitia«) in gewissen Schranken und in einer vernunftgemäßen Mitte, um so ein ‘rechtes’ Handeln - gewissermaßen von innen her - zu ermöglichen. Ebenso ermöglicht auch die Tugend der Tapferkeit hinsichtlich der irasziblen Affekte der Furcht (»timor«) und der Kühnheit (»audacia«) eine ‘Rechtheit menschlichen Handelns’, indem sie ebenfalls eine regulative Funktion ausübt und eine ‘rechte’ Mitte zwischen diesen sich auf ein ‘widerstrebendes’ Gut beziehenden Affekte garantiert. Da es zur Verwirklichung der Tapferkeit mehr der Vernunft bedarf als bei der Maßhaftigkeit und die Tapferkeit so in höherer Weise auf das »bonum rationis« durchsichtig ist, darum geht in der thomanischen ‘Tugend-Hierarchie’ die Tapferkeit der Maßhaftigkeit voran.

Mittels aller moralischen Tugenden und im besonderen durch die Leittugenden der praktischen Vernunft (Klugheit) und des sensitiven und intellektiven Strebevermögens (Maßhaftigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit) verwirklicht der Mensch die spezifisch menschlichen Handlungsziele. Als feste Handlungsvorprägungen zum ‘Guten’ garantieren die Tugenden konstante und prompte197, der Vernunft gemäße Tätigkeiten, so daß der Mensch insgesamt zu einem ‘guten’ Menschen wird. Spontaneität und nicht ein ‘Pathos mühevoller Angestrengtheit’ kennzeichnet die Aktuierung der Tugenden. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt198, daß die für das thomanische Tugendverständnis charakteristische Spontaneität mit einem gefühlsmäßigen Erleben gekoppelt ist; denn die Tugenden werden in sich als freude- und glückbringend erlebt.199 Mit Aristoteles ist auch Thomas der Auffassung, daß der Mensch in seiner Tugendhaftigkeit zugleich auch die spezifisch praktische Glückseligkeit verwirklicht200. Zusammen mit der Glückseligkeit, die dem Menschen in den intellektiven ‘Tugenden’ zuteil wird, ist somit das Gesamt der Glückseligkeit angesprochen, die der Mensch ‘aus sich’, ‘mit eigenen Kräften’ erreichen kann. Doch - wie nun bereits mehrfach angedeutet - steht diese Form der unvollkommenen Glückseligkeit (»beatitudo imperfecta«) ganz im Schatten derjenigen (vollkommenen) Glückseligkeit, die den menschlichen Handlungskräften unerreichbar201 und dennoch durch göttliche Hilfe (menschen-) möglich ist202.

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