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DIE GALLUSVITA UND DIE FOLGEN

Hier kommt meine Schwiegermutter dahergeschritten! Sehr fesch sieht sie aus in ihrer neuen Bluse, in der Ledermappe das Manuskript eines Vortrags, den sie im Seminar ebenjenes Professors, für dessen Redefreiheit sie und ihre Mitstudenten sich eingesetzt haben, nun zum Besten geben wird.

Am 5. Feb. hatte ich dann meinen Vortrag über die Gallusvita im Beckseminar zu halten. Dieser mit einigem Zittern und Zagen erwartete Moment ging ja über Erwarten gut vorbei. Beck war sehr zufrieden …

Tatsächlich wird ihr der Professor raten, ihre Analyse der Biografien des heiligen Gallus zu einer Dissertation zu erweitern. Ein schmeichelhaftes Ansinnen – das meine Schwiegermutter in nächste Unruhen stürzt. Und nun findet sie bei ebenjener Gruppe, der sie am Historikerabend nähergekommen war, unerwarteten Beistand.

Am 7. Februar durfte ich mit M.-Cl., H., Gian, G. und einigen andern an den Uniball … Mit H. unterhielt ich mich über die Gallusvita, erzählte ihm auch, dass Beck mir den Gedanken nahegebracht hatte, das Thema ev. zu einer Diss auszuarbeiten … Da machte H. den Vorschlag, mich »vor das gestrenge Tribunal zu zitieren«, wo ich Rede und Antwort stehen solle. Damals erfuhr ich zum erstenmal von der Existenz dieses illustren ›Vereins‹, der schon lange besteht …

Schon in der Woche darauf stellt sie mit einigen Hemmungen belastet dem Tribunal ihr Dissertationsvorhaben vor. Die meisten der Studentinnen und Studenten sind älter als sie, einige stehen schon kurz vor dem Abschluss. Und es gefällt ihr in dieser Runde!

Es gefällt ihr sogar sehr.

Der Abend war für mich ein grosses Erlebnis, weil ich hier endlich fand, was ich bis jetzt immer vermisst hatte: Freie Aussprache mit anderen intelligenten Historikern, denen man alle seine Sorgen vorlegen kann, die auch rücksichtslos, aber immer anständig und verständnisvoll kritisieren, und die vor allem durch eigene Arbeit und eigenes Denken imstande sind, ein Urteil abzugeben, das einem weiter hilft.

Kritisch waren sie allerdings. Und weitgehend unbeeindruckt vom Promotionsanliegen des Professors. Der jungen Kollegin wurde abgeraten, das Thema zur Diss zu brauchen, was sie sehr erleichtert.

Ich fühlte mich in ihrer verständnisvollen Hilfsbereitschaft gut aufgehoben.

Sie schätzt das geduldige Zuhören, die Fragen, Bedenken und Beleuchtung des Problems von ganz anderer Seite her. Und es stellt sich heraus, dass zumindest einer in der Runde weitergehende Pläne mit ihr hat.

Ungefähr gleichzeitig berichtete mir H. zum ersten Mal von den Plänen zu einer Kleinasienreise, die unter Becks Führung im Herbst durchgeführt werden sollte. Fast ohne dass ich es merkte, setzte er mich auf die Liste der Interessenten und stellte mich schon an dem Abend, als wir bei M.-Cl. zum Nachtessen eingeladen waren (17. März) als feste Teilnehmerin vor. Heinz B. war damals auch dabei, erzählte von den Reiseplänen, und ich war schon fest entschlossen, wenn irgendmöglich mitzugehen.

DAS DREIMÄDELHAUS

Der Mondmann kommt nach Hause, und wir reden in der Küche bis morgens um drei. Wir öffnen einen Rotwein, den uns jemand geschenkt hat und der sehr gut schmeckt, wie dunkler Samt.

Ich trinke Rotwein. Der Mondmann trinkt Bier.

Wir rauchen, aber ich rauche mehr als er.

Ich frage ihn nach seiner Mutter in dieser Zeit, die er selbst nicht erlebt hat, und er erinnert sich an das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, das Haus hinter dem Schauspielhaus. Als er Kind war, lebten dort noch die Großeltern. Sonntags ging man zum Mittagessen zu ihnen, und jedes Jahr wurde mit der größeren und kleineren Verwandtschaft in den drei Wohnräumen im mittleren Stock Weihnachten gefeiert. Der Mondmann weiß noch, wie erstaunlich albern die Erwachsenen bei diesen Feiern waren, und wie er mit Schwestern, Cousins und Cousinen im Treppenhaus hockte und durch die Luken im Geländer dem Treiben zusah.

Das waren die Vorbilder, so wollten sie sein.

Und das Haus seiner Großeltern, als dort noch drei unverheiratete Töchter lebten, zwei im Studium (Geschichte, Biologie), die Dritte dabei, das Gymnasium abzuschließen?

Der Mondmann erinnert sich an einen jüngeren Cousin seiner Mutter, dessen Augen noch Jahrzehnte später leuchteten, als er von seinem Nachhilfeunterricht bei den Schwestern erzählte. Es gibt Fotos von seinen Großeltern mit Freunden, die Herren mit Zigarren und Schnäpsen am weiß gedeckten Tisch, die Damen in hellen Kleidern auf der Terrasse. Es gibt ein gemaltes Porträt meiner Schwiegermutter als kleines Mädchen mit einem schönen, schüchternen Eigensinn, und Bilder von ihr mit ihren Schwestern, auf dem Weg von oder zu einer Veranstaltung, einer Familienfeier vielleicht, oder einem Tanztee von Nachbarn.

»Dort wollte man hin«, sagt der Mondmann.

Momentaufnahmen aus dem Fünfjahrestagebuch:

1950: Über Tage und Wochen zieht sich die Geschichte mit der neu eingestellten Köchin hin, die sich irgendwann als leider verrückt erweist, und als auch der catholische Curé nichts ausrichten kann, muss man sie wieder gehen lassen.

1951: Verschiedentlich Einträge zum Chow-Chow Haitle, der die Familie über Wochen mit ihrem Trächtigsein in Atem hielt, bis schließlich eine Scheinschwangerschaft diagnostiziert wird (wir sind alle sehr beschämt).

1950–54: Wiederkehrend der Waschtag! Alle Töchter im Einsatz (das übliche Gehetz), genauso wie sie später reihum als Sprechstundenhilfe in der Praxis des Vaters einspringen werden – bezahlt, selbstverständlich, ein Taschengeld, aber doch.

Und wer »klopft« denn heute noch Bücher? Meine Schwiegermutter tat das regelmäßig – im Elternhaus, und hin und wieder auch für die jüngere Schwester, die auf bibliophile Entstaubung keine Lust hatte. Den Brauch, heute weitgehend vergessen (oder ersetzt durch Staubsaugeraufsätze), behielt sie auch in ihrem eigenen Haushalt, unterstützt durch die Putzhilfe, bei.

»Es war eine Turnachkinder-Welt«, erinnert sich die älteste Freundin meiner Schwiegermutter. Sie wuchs als einzige Tochter einer alleinerziehenden Mutter mit der Großmutter in einer kleinen Wohnung auf. Die Großmutter war Ausbilderin am Kantonsspital, wo der Vater meiner Schwiegermutter sie als junger Assistenzarzt kennengelernt hatte. Er hieß diese Freundschaft gut, die der Mutter meiner Schwiegermutter – so die Freundin – nicht immer recht war.

Die Erlebnisse der »Turnachkinder« wiederum gibt es in zwei Bänden (»Sommer« und »Winter«), geschrieben von Ida Bindschedler, die keine eigenen Kinder hatte, aber an einer privaten Zürcher Mädchenschule eine beliebte Lehrerin war. Bootfahren auf dem Zürichsee. Zvieri mit Freundinnen. Ein Ausflug mit der Eisenbahn zu der Verwandtschaft in Winterthur. Basteln für Weihnachten! Und die Familie immer in der Nähe, ebenso wie die ins Familiensystem eingebundenen Angestellten des väterlichen Kaufmannsbetriebs. Mutproben. Kleine Verfehlungen der Kinder. Klassenfragen spielen mit. Der Sohn einer Witwe soll bei den Ritterspielen der Kinder nicht immer der arme Gefangene sein – und wenn der kleine Junge heimlich das Brot isst, das zum Spiel gehört, dann ist das in den Augen der Kinder »Diebstahl«, doch werden sie von der Mutter zum Nachdenken angehalten. Wie fühlt es sich an, wenn das tägliche Essen auf dem Tisch keine Selbstverständlichkeit ist?

(Die Mutter der Freundin meiner Schwiegermutter war keine verarmte Witwe. Ihr und ihrem Mann fehlte schlicht die gemeinsame Idee von Zukunft, weswegen sie den Vater der Freundin meiner Schwiegermutter irgendwann verließ. Dass die Mutter meiner Schwiegermutter diese Freundschaft lieber nicht gesehen hätte, war der Eindruck der Freundin. Wie über einiges andere sprach sie mit meiner Schwiegermutter darüber nie.)

Momentaufnahmen aus dem Fünfjahrestagebuch:

1951: Der Vater hatte eine Titularprofessur erhalten, und nun stand ein Festessen an. Großer Bahnhof! Mama ist es jetzt schon wind und weh in Gedanken an Samstag.

Januar 1952: Der erste eigene Ball.

Er fand in den Räumen statt, in denen auch Weihnachten gefeiert wurde, drei ineinandergehende Salons im ersten Stock mit einer verglasten Veranda. Dort wurde eine Bar eingerichtet, mit maritimen Dekorationen – (Fische, Kröten, ein Seepferd, ein Tintenfisch, ein Salamander, die sich alle sehr gut machen auf den Vorhängen) –, an denen meine Schwiegermutter und ihre Schwestern bis tief in der Nacht arbeiteten. Es sollte auch einen Cotillon aus Leuchttieren geben, der schrecklich viel zu tun gab, und für den man überdies Müsterli von allen Sorten – Zahnpasta, Seife, u.s.w. – sammeln musste.

(Wie genau das mit den Müsterli und dem Cotillon funktionierte, bleibt mir ein Rätsel.)

Sie war im zweiten Studienjahr. Ihr Fünfjahrestagebuch verzeichnet für die Woche vor dem Festanlass diverse geschwänzte Seminare, weil wir sonst nicht fertigwerden. Es wurden 55 Personen erwartet, was ihr eins der seltenen Ausrufezeichen in ihren Einträgen wert war:

55 Personen (!)

Am 12. Januar arbeiteten sie und ihre Schwestern –

den ganzen Tag über wie wild: Grammoinstallation, Fruchtsalat, Geschirr, Büffet u.s.w. Dafür bei Zeiten fertig und ein sehr gelungenes Fest, an dem sich scheints alle amüsieren.

Am 13. Januar dann die obligaten Auskünfte zum Kater –

Nachdem wir um 6:30 ins Bett gesunken, ist um 10 Uhr der Kater noch entsprechend. Dennoch räumen wir heftig auf und sind um 4h ziemlich durch.

Auch am Tag darauf hat sie –

im Griechisch noch einen schändlich dummen Kopf. Gleichzeitig strömen auch schon die Dankesbriefe.

Wir sind ganz beschämt von der Promptheit dieser Leute.

In diesem Haus war schon die Mutter meiner Schwiegermutter zur Welt gekommen, und sie starb auch darin, im Alter von 78 Jahren. Nach ihrem Tod brauchten meine Schwiegermutter und ihre beiden Schwestern ein ganzes Jahr, um das Haus zu räumen, das vom Keller bis zum Dachboden vollstand mit den Gerätschaften und abgelegten Möbeln mehrerer Generationen. Was am Ende übrig blieb, trugen der Mondmann und ich mit seinen Schwestern und Cousin und Cousine zum Flohmarkt am Bürkliplatz. Wie die Geier stürzten sich die Antiquitätenhändler bei unserer Ankunft auf die Bananenschachteln. »Wie viel? Wie viel?« Puppenstubenmöbel und alte Keramikpuppenköpfe gingen besonders gut weg, für ein altes Weinglas zahlte ein Mann die 60 Franken, die wir aus Spaß und um ihn loszuwerden, verlangt hatten. »200 Franken hättet ihr dafür nehmen können«, meinte ein Verkäufer neben uns hinterher, der sowohl über die Besonderheiten des Glases wie auch vielleicht über den Käufer Bescheid wusste.

Die Einnahmen vom Flohmarkt steckten wir in ein letztes großes Fest in dem nunmehr leeren Haus.

Wurde Walzer getanzt?

(Falls überhaupt, dann nur kurz, gleichsam als Hommage an vergangene Bälle und spontane Tanzanlässe im mittleren Stock.)

Es gab auch kein aufwändiges Nachtessen.

(Stattdessen ein Buffet, zu dem jeder etwas beisteuerte.)

Niemand bastelte tagelang Meerestiere für eine maritime Dekoration der Verandavorhänge.

(Die Verandavorhänge waren ja auch gar nicht mehr da.)

Und einen Cotillon, was immer das sein mochte, hat keiner der Gäste vermisst.

Stattdessen gab es:

Eine Disco.

Eine Pianobar in den ehemaligen Praxisräumen.

Ein Spielzimmer.

Bierbänke und Tische, gedeckt mit weißem Packpapier statt mit Tischtüchern aus Damast …

Aschenbecher auf den Tischen. Noch rauchten alle wie die Weltmeister.

(Das ist inzwischen auch wieder vorbei.)

Heute ist das Haus hinter dem Schauspielhaus wieder eine Einheit. Der älteste Cousin des Mondmannes und seine Frau haben es übernommen, die Etagenwohnungen, die zwischenzeitlich eingerichtet worden waren, sind aufgelöst, die Ordnung von früher wiederhergestellt. Natürlich nicht nur. Unten im Keller gibt es jetzt einen Fitnessraum. Die Schlafgemächer sind anders, und die Bäder und die Kücheneinrichtung entsprechen dem Standard unserer Zeit. Insgesamt ist da viel Platz für zwei Menschen, die keine Kinder haben und oft unterwegs sind. Wenn man heute daran vorbeikommt, wirkt das Haus still, verwunschen oder als würde es schlafen, als träumte es davon, wie es gewesen war, als meine Schwiegermutter und ihre Schwestern und Freundinnen und Freunde durch seine Räume tobten.

»Dort wollte man hin«, hatte der Mondmann gesagt.

Damals, in der Studienzeit meiner Schwiegermutter, war das Haus eine Bärenfalle; die drei Töchter der Honig, ausgelegt für nächste Familienzweige, für den weiteren Fortbestand der Sippe, für die Zukunft der Stadt; und meine Schwiegermutter hatte dagegen nichts einzuwenden. Sie und ihre Schwestern waren der strahlende, lachende, tanzende Mittelpunkt dieses Haushalts, jedenfalls kommt mir das so vor, und das Leben darin befand sich in ständiger, froher, betriebsamer Bewegung, mit Familienausflügen und Festen, Sprechstundeneinsätzen und Waschtagen, Kino und Theater, thé dansants und Ömeli am Sonntag …

Die Bewegung war natürlich eine zentrifugale – am Ende würde sie alle drei Schwestern aus dem Haus hinaus- und in die Arme eines auserwählten Tanzpartners katapultieren, der sie im Walzertakt zum Traualtar und dann weiter in einen nächsten Haushalt führen sollte, mit eigenen Kindern, eigenen Anliegen, eigenen Freunden, gerne aber in derselben Stadt, auf dass die Verbindungen, Wert und Gut der Familien erhalten blieben.

HOW TO CATCH EINE HÖHERE TOCHTER

Das Sommersemester 1953 war das Schönste, das ich bis jetzt erlebt habe. Ich kam immer mehr in die ›Clique‹ hinein. Jeden Mittwoch steckten wir im Kolloquium zusammen. Gegen Ende des Semesters festeten wir immer häufiger: wir gingen gemeinsam ans Zürifäscht, machten einen Kegelausflug, kochten ein Nachtessen bei H., u.s.w.

Meine Schwiegermutter gehörte nun schon ganz zum illustren Verein. Einige der Studenten waren weit fortgeschritten, H. zum Beispiel, der seine Dissertation bereits eingereicht hatte. Kurz vor Semesterende schenkte er meiner Schwiegermutter ein Exemplar, versehen mit einer Widmung, die sie in ihrem Fünfjahrestagebuch vollständig und mit Nachkorrektur (eine sehr nette schöne Widmung) zitiert:

»What might have been and what has been point to one end which is always present.« (T. S. Eliot)

Es war auch H. gewesen, der meine Schwiegermutter fast ohne dass ich es merkte auf die Mitfahrliste für eine akademische Reise nach Anatolien, nach Kleinasien gesetzt hatte. Dass er sie mochte, war ihr nicht entgangen.

Zum ersten Mal hatte ich beim Nachtessen, das wir selber bei H. kochten, das Gefühl, dass ich ihm etwas mehr bedeute. Dabei könnte ich nicht sagen, worauf dieses Gefühl beruhte, nur, dass er plötzlich ruhiger war als gewöhnlich und die andern sich fragten, was wohl mit ihm los sei …

Ihm scheint es umgekehrt egal gewesen zu sein, wer sein Interesse an ihr mitbekam. Vielleicht war es ihm sogar recht. Wie beim Vorfall am Kerenzerberg während einer dreitägigen Studienreise zum Semesterende hin –

als H. seine Balancierkünste vorführen wollte und dabei 3 Passuggerflaschen und Gläser ausgerechnet Frl. Riemenschmidt auf den Kopf fallen gelassen. Die Flaschen zerschellten mit grossem Getöse und alles lachte schallend bei dem unbeschreiblich komischen Anblick. Dieter S. machte boshafte Bemerkungen, H. aber war ganz schrecklich zerknirscht, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Dabei schämte er sich offenbar besonders vor mir. Eine entsprechende Bemerkung erregte natürlich bei den anderen einiges Aufsehen, und die daraufhin fallenden Andeutungen waren mir etwas peinlich.

So war sie – wie sie in ihrer Niederschrift festhält –

ganz froh, dass durch die Sommerferien eine Pause eingeschaltet wurde.

Und am Ende der Ferien wartete ja auch die Kleinasienfahrt, an der sie nun wirklich teilnehmen würde, und die ihr umtriebiger Professor Dr. Marcel Beck, schon zum dritten Mal mit Studentinnen und Studenten – »Scholaren« nannte er sie – durchführte.

REISEN MIT BECK

»Fahrtfreie Jahre waren … leere Jahre«, hielt der Professor in einer Erinnerungsschrift fest. Sie erschien 1978 und widmete sich den 17 »Morgenlandfahrten«, die er mit Studentinnen und Studenten gemacht hatte – dazu den weiteren Studienfahrten, die zwar nicht ins Morgenland führten, aber, so Beck mit Blick auf Hermann Hesse, trotzdem dazu gerechnet werden konnten: »Die Morgenlandfahrt ist mehr als nur eine Reise in den Nahen Osten, den wir als Morgenland zu bezeichnen pflegen … In Ephesus … Ägypten … Schwaben … Le Puy … überall taucht eine versunkene Welt auf, in der wir etwas von unserer eigenen Morgenröte verspüren. Morgenlandfahrt ist an keine Örtlichkeit gebunden.«

Ein Romantiker, der Herr Professor.

Meine Schwiegermutter sah ihn (in ihrem schwarzen Notizbuch) nüchterner:

An erster Stelle ist natürlich unser Leiter Prof. Beck zu erwähnen, meistens Marcel oder Müdür genannt. Er war sicher nicht immer leicht zu behandeln, die Last der Verantwortung setzte seinen Nerven zeitweise ordentlich zu, sodass es auch zu einigen Entladungen kam. Daneben aber führte er das ganze Unternehmen, das zu wagen allein ja schon ein grosses Verdienst ist, vorzüglich …

Die Reise in die Türkei war erst die dritte ihrer Art. Das Wagnis, das meine Schwiegermutter in ihrem Notizbuch anspricht, betraf den ambitionierten Reiseplan – er führte in Gegenden, die kaum erschlossen waren, zu Zielen, die damals nur wenige Reisende aufsuchten. Die »Scholaren« waren abseits der großen Straßen und mit einfachsten Verkehrsmitteln unterwegs, übernachteten in Pensionen und Zelten, in leeren Studentenheimen und alten Klöstern, waren Selbstversorger und kümmerten sich auch im Vorfeld der Fahrten selbst um einen Großteil der Organisation. Diese Art des Reisens war für die meisten vermutlich nichts Neues, Wanderferien mit den Eltern in der Schweiz dürften ähnlich ausgesehen haben. Das allerdings waren Kinderferien gewesen. Hier nun waren junge Erwachsene gemeinsam unterwegs.

»Wissbegierige Scholaren« … ausgestattet mit einer »gehörigen Portion Abenteuerlust« … »Ein Meerstern konnte ein Abenteuer sein, jedes Ding, das unser Staunen erregt …«

Für »Stirnrunzeln« an der Fakultät sorgte der Umstand (so erinnerte sich der Professor in seinem Buch), dass der Reiseleiter möglichen »amourösen« Verwicklungen während der Fahrt recht unbesorgt gegenüberstand. Es seien ja doch immerhin 12 »solide« Ehen dabei herausgekommen, stellte der Schreiber zufrieden fest, und verglich das ungezwungene Miteinander mit dem bäuerlichen Brauch des »Fensterlen«. »Stets nahm ich die Pärchenbildung während einer abenteuerlichen Reise als unvermeidlich, ja sogar als richtig hin.«

Anstandsdamen, oder was dafür einstehen konnte, waren immerhin dabei: Eine Cousine des Professors, die meine Schwiegermutter durch ihre immer gute Laune und grosse Reiseerfahrung beeindruckte, und dann Becks Frau, die der Reisegruppe immer sympathischer wurde, wenn sie vielleicht auch nicht immer sehr diplomatisch mit ihrem Mann umging, dem sie oft als Blitzableiter dienen musste.

Und meine Schwiegermutter? Sie reiste ebenfalls nicht ohne Schutz. Auf der Teilnehmerliste standen irgendwann auch ihre ältere Schwester und ein Vetter, der Medizin studierte und für die ärztliche Betreuung während der Fahrt zuständig war. Das Ehepaar Beck war davor zu einem Nachtessen ins Dreimädelhaus gebeten worden. So ohne Weiteres ließ man die Tochter dann doch nicht mit diesem Professor reisen. Oder war es vielleicht meine Schwiegermutter, die die Verwandtschaft zum Mitfahren überredet hatte?

Wie sie in ihren Aufzeichnungen festhielt: Die Entwicklung der Dinge mit diesem Studenten, der sie eigenmächtig für die Reise angemeldet hatte, war ihr etwas ungemütlich geworden.

Nach den Ferien, die wie jedes Jahr in den Jura führten, sorgte der Vater für den nötigen Impfschutz (Papa macht uns eine Injektion de rappel für Typhus. Schlafen beide miserabel in der Nacht), die ältere Schwester kaufte sich einen »Elcolit-Koffer« (der ja wirklich sehr praktisch ist), meine Schwiegermutter ließ sich eine neue dunkle, geschliffene Brille machen, die ihr, wie Fotos von der Reise zeigen, sehr gut stand. Außerdem war sie an der Reiseplanung beteiligt; hier kam erstmals auch Heinz B. – der sich direkt genial um die Finanzen kümmern sollte – ins Spiel.

Parallel gingen die Vorbereitungen für die Türkeireise: Türkischstunden bei Forrer, Büchersuche auf der Z.B., Zusammenkünfte mit Beck. Ich lernte nun auch Heinz B. etwas näher kennen, der mir immer sympatischer wurde. Ich freute mich, dass er und H. so gut befreundet sind.

Ganz war das Unbehagen nicht veflogen.

Wir arbeiteten ganz ordentlich, mit der Zeit aber schien mir doch eine gewisse Spannung zu entstehen, die zum grössten Teil wohl Reisefieber war. So war ich sehr froh, als wir am 5. September nachts um 0:00 Uhr zur Türkeireise starteten.

In ihrem Fünfjahrestagebuch steht nüchtern (aber unterstrichen) unter dem Eintrag für den 4. September:

Abfahrt in die Türkei punkt 24 Uhr 00

Da hat der Professor in seinem nachträglichen Bericht einiges mehr an Atmosphäre herausgeholt: »Das war die Stimmung unserer Gruppe, die einmal an einem Septembertag, kurz nach Mitternacht, der Magister und sein Weib mitsamt einem Dutzend Scholaren von Zürich aufbrach, ein Häuflein freudig winkender Verwandter und Bekannter auf dem ersten Bahnsteig unseres Zürcher Hauptbahnhofs hinterlassend, welcher uns dank seiner lockenden südlichen Abfahrtsziele der liebste ist. Jeder Teilnehmer in gespannter Erwartung, ob das ansehnliche Programm, das wir vorhatten, sich erfüllen lasse …«

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