Читать книгу: «Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich»

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Brigitte Helbling

MEINE SCHWIEGER MUTTER DER MOND MANN UND ICH

Die Autorin und der Verlag bedanken sich für die großzügige Unterstützung bei


Elisabeth Jenny-Stiftung

Das Manuskript des Buchs wurde mit einem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

Der rüffer & rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Erste Auflage Frühjahr 2022

Alle Rechte vorbehalten

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Bildnachweis:

Cover, Innenseiten: © Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich

Porträt Brigitte Helbling: © Raoofeh Rostami

E-Book-Konvertierung: Bookwire GmbH

ISBN 978-3-906304-95-3

eISBN 978-3-906304-98-4

INHALT

1Mit Hilfe meiner Schwiegermutter

2Die Fahrt

3Der Vorfahr

4Wie man sich vereint

5Körperlichkeiten

6Die Wut der Frauen, die Angst der Männer

7Ich und der Mondmann

Anhang

DAS SCHWARZE NOTIZBUCH

Meine Schwiegermutter schlägt ihr neues, in schwarzes Leder eingebundenes Notizbuch auf, setzt den Füllfederhalter an, schreibt:

Seit einigen Wochen stecke ich in einem ganz verzwickten Dilemma und will nun versuchen, durch die Niederschrift dieser Geschichte einige Klarheit über mich selbst zu erhalten.

(Sie weiß nicht, dass sie meine Schwiegermutter werden wird.)

Ich weiss nicht recht, wann die Sache begonnen hat, es ist darum am besten, etwas weit auszuholen und mit den Ereignissen des letzten Winters anzufangen.

(Sechs Jahre nach diesem Eintrag kommt ihr Sohn zur Welt. Wieder 18 Jahre später treffen wir beide aufeinander, aber natürlich interessiert mich der Mondmann da mehr.)

Am letzten Historikerabend am 28. Jan. kam ich zum ersten Mal etwas näher in Kontakt mit dem Kreis, in dem ich mich seither am wohlsten fühle …

(Sie studierte Geschichte an der Universität und lebte noch zu Hause.)

Selbstverständlich lebte sie noch zu Hause! Sie und ihre beiden Schwestern, eine älter, eine jünger, waren in Zürich geboren und aufgewachsen. Sie besuchten hier die Schulen, einzig die Jüngste verbrachte ein halbes Jahr im Internat in Ftan, als es im Gymnasium nicht recht klappen wollte. Später wird diese Schwester sich nach Bern verheiraten – für die Zürcher Mutter beinah eine Mésalliance. Nach dem Schulabschluss führt der Weg einer höheren Tochter gerne ins Ausland, im Fall meiner Schwiegermutter zum Spracherwerb nach Paris. Die Folge: Brieffreundinnen fürs Leben! Paris beklagt sich, dass ich nicht schreibe. Danach finden wir sie wieder in Zürich, an der Universität, an geselligen Tanzete und Familienfeiern, an Zunftanlässen und bei Einsätzen als Sprechstundenhilfe beim Vater, einem Internisten. Ich mache die Sprechstunde, für die mir Papa 10 Fr. bezahlt. Die Praxis lag im Erdgeschoss der Jugendstilvilla hinter dem Schauspielhaus. Gehe mit Brigitte in das neue Stück von Frisch, »Graf Öderland«, das mir absolut nicht gefällt. Treffe im Theater Heiri Pestalozzi, der auch gleicher Meinung ist. Zum Opernhaus am Bellevue dauert es zu Fuß zehn Minuten, zur Tonhalle auf der andern Seite der Limmat zwanzig, im Schauspielhaus war sie im Handumdrehen.

Das Kino (»der Kino«, sagte man damals) wurde von meiner Schwiegermutter und ihren Schwestern gerne und häufig aufgesucht.

Äusserst amüsanter Film, den wir alle restlos goutieren.

So steht es in ihrem Fünfjahrestagebuch, das erste von insgesamt sieben, die sie ein halbes Leben lang führen sollte.

Zürich in den 1950ern. Zürich ist die Stadt, aus der fast die ganze Familie meiner Schwiegermutter stammt. Auch die Familie meines Vaters lebt schon seit Jahrhunderten hier. Der Mondmann und ich dagegen sind vor über 30 Jahren weggezogen, wir sind nicht einmal mehr in der Schweiz, doch wenn man uns fragt, wo unsere Heimat ist – nun.

Was ist ein Fünfjahrestagebuch? Jede Seite entspricht einem Kalendertag und ist unterteilt in fünf übereinanderliegende Abschnitte, Raum für Notizen zum Tagesgeschehen. Im ersten Jahr werden die obersten Abschnitte ausgefüllt, im zweiten Jahr die zweitobersten und so weiter, bis alle Abschnitte vollgeschrieben sind und sich auf jeder Seite rekonstruieren lässt, was man an einem bestimmten Tag in den vergangenen fünf Jahren gemacht hat.

Ab 1950, ihrem 19. Lebensjahr, führte meine Schwiegermutter fast 40 Jahre lang ein solches Tagebuch, anfangs gewissenhaft, später mit Lücken von mehreren Wochen, manchmal von bis zu einem Jahr. Die ersten beiden Bücher sind jedoch vollgeschrieben, was sich – ein beliebiges Beispiel – am 3. Januar der Jahre 1950–54 so liest:

1950. Dienstag: Mit Hansruedi bei Ömeli zum Mittagessen. HR lädt mich in den Film »Heinrich V« mit Laurence Olivier ein, der uns sehr gut gefällt. Glaube, dass er noch besser als »Hamlet« ist.

1951. Mittwoch: geniessen die Ferien. Nach dem Mittagessen schw. Kaffee m. Fr. Büsi bei Frl. Brunner im Büro. Den Abend mit Vre in den ausgezeichneten Film »Les Enfants du Paradis«.

1952. Donnerstag: Ich gehe am Abend mit Vre in den »Nathan«, eine sehr schöne Aufführung mit Wlach als Nathan, Carl (Recha), Römer, Waestler und Henniger (Tempelherr).

1953. Samstag. Heute beginne ich, die Literatur für meinen Vortrag zu bearbeiten, vor allem die Bücher von Zopf und Gruber, die ich nachher Ursi Burckhardt überlassen muss.

1954. Sonntag. Ömeli bleibt heute zu Hause. Wir gehen en famille in den guten Film über Toulouse-Lautrec »Moulin Rouge« und nachher zum Essen auf die Schmidstube. Es schneit unaufhörlich.

Dieses erste Fünfjahrestagebuch interessiert mich vor allem. In ihm finde ich Eindrücke von meiner Schwiegermutter in einem Alter, in dem ich sie unmöglich kennen konnte. Auch das Bild von Zürich, das ihre Kurzberichte vermitteln, ist mir fremd. Die Stadt wirkt zugänglicher, entspannter, das freundliche Habitat einer jungen Frau, die im ersten Jahr ihrer Einträge wie beschwipst wirkt von ihrem Alltag an der Schwelle zum Erwachsensein.

Die frühen Einträge prägt noch der Schulmädchenjargon ihrer Zeit – am Morgen Mathe-Ex, sehr wahrscheinlich abgeschifft –, doch entscheidet sich die Berichterstatterin bald für einen neutraleren, nicht unpersönlichen Ton.

Nachtessen bei Tante Doris, wie immer ganz toll.

Der Gesundheitszustand spielt eine wichtige Rolle:

Es scheint sich eine Erkältung zu melden – Ich habe wieder einmal einen schrecklichen Pfnüsel – ich niesse am laufenden Band.

Das tagespolitische Geschehen ist selten Thema.

Der König von England ist gestern gestorben. Die Bestürzung ist allgemein gross.

Das Wetter dagegen umso mehr:

Es regnet in Strömen – Wieder prachtvolles Wetter – Es ist sehr heiss.

Und bis auf wenige Ausnahmen –

Es ist etwas Schreckliches passiert: Dr. Kern (vom Reitclub) hat sich und seine Familie umgebracht.

– wirkt das Leben meiner Schwiegermutter wie ein ruhiger, freundlicher Fluss.

(Die Sihl, vielleicht?)

Häufig auftretende Adjektive:

gemütlich

ungemütlich

faul

ordentlich faul

verkatert

fidel

sehr fidel

äusserst fidel

gräulich

prächtig

sehr schön

Verlobungen und Hochzeiten, Todesfälle und Beerdigungen, Familientees und Freundinnentreffen werden im Tagebuch eifrig vermerkt. Ferienreisen und gelegentliche Ausflüge sind ausführlich protokolliert. Vorträge und Konzerte, Kino, Opern- und Theateraufführungen werden benannt und bewertet: Meist sind sie sehr gut, manchmal auch ausgezeichnet, zuweilen wirklich erschütternd, nur selten schauderhaft.

Im ersten Jahr ihrer Aufzeichnungen machte meine Schwiegermutter ihren Schulabschluss, die Einträge ab Herbst 1950 befassen sich zunehmend mit dem Studium. Sie hatte sich für Geschichtswissenschaften entschieden, berichtet ausführlich von Referaten und Seminararbeiten. Sie kommt vorwärts. Sie kommt nicht vorwärts. Sie verblöterlet viel Zeit in der Bibliothek, sie muss noch mal von vorn anfangen. Es ist verhext. Sie arbeitet wie wild, sie tippt bis ein Uhr nachts, ihr wird langsam etwas gschmuch. Das Ergebnis kommt besser an als erwartet. Die Semesterpreise, die sie für ihre Arbeiten erhält, einmal 50 Franken, einmal 100, sind der beiläufig erwähnte Lohn für diese Mühen und werden in Gesamtausgaben klassischer Autoren investiert.

Breiten Raum nehmen die Tanzveranstaltungen ein, die in den Wintermonaten fast jede Woche stattfinden. Da sind die privaten Tanzete, die in der Aufzeichnung auch als thé dansant auftreten; da sind die Bälle der Zünfte, der Heraldika, der Universität. In solchen Nächten kommt sie um drei, vier, manchmal auch erst um ½ 6 Uhr morgens heim. Meist unterhält sie sich gut. Sehr netter Abend. Nur selten ärgert sie sich. Hans Römer ist sehr widerlich. Der Kater am nächsten Tag wird so gewissenhaft protokolliert wie der Pfnüsel oder das Wetter. Je nach dem ist er ziemlich, ordentlich, schrecklich, gräulich.

Am Folgetag geht sie bei Zeiten ins Bett.

Eine »protestantische Beichte«, nennt das der Mondmann.

Im Januar 1994, nach einer Notiz zu einer sich ankündigenden Erkältung – habe auch Halsweh –, enden die Aufzeichnungen meiner Schwiegermutter. In den 19 Jahren danach führte sie nie wieder ein Fünfjahrestagebuch (oder wenn, dann weiß ich davon nichts). Als sie starb, fand sich in der Schublade ihres Schreibsekretärs neben den Tagebüchern eine weitere private Niederschrift: diejenige des schwarzen Notizbuchs.

Wie ein Osterei lag es da, wie eine posthume Überraschung für die Nachkommen. Auch in diesen Aufzeichnungen sind die Einträge datiert, doch gehen sie über Dutzende von Seiten. Statt der knappen Notizen der Fünfjahresbücher finden sich hier Beobachtungen und Fragen, Gefühlsbewegungen und -verwirrungen und die eine oder andere unerwartete Einsicht.

Die Schreiberin wollte Klarheit finden.

Sie sah sich vor ein Dilemma gestellt.

Es ging um die Liebe.

(Worum sonst?)

Zürich, 17. November 1953

Seit einigen Wochen stecke ich in einem ganz verzwickten Dilemma und will nun versuchen, durch die Niederschrift dieser Geschichte einige Klarheit über mich selbst zu erhalten.

Der 17. November war ihr Geburtstag.

An diesem Tag war meine Schwiegermutter 22 Jahre alt geworden.

DIE HUNDE

Meine Schwiegermutter starb im Jahr 2013. Sie hinterließ Aktien, Obligationen, Immobilienanteile, Bücher, Papier, Geschirr, Tischtücher, Silberbesteck und eine Handvoll Fragen zur Zukunft der jüngeren Tochter, die noch bei ihr gelebt hatte.

Und einen Hund.

Hunde hatte es im Umfeld meiner Schwiegermutter immer schon gegeben: Die Chow-Chows der Eltern und später, als unsere Wege sich kreuzten, die Golden Retriever. Die ältere Schwester hatte Corgis, eine Hunderasse, die auch das britische Königshaus bevorzugt. Vor Jahrzehnten gehörte der getigerte Kater Golo zum Haushalt meiner Schwiegereltern. Er trug den Namen eines prominenten Historikers und schlief gerne auf dem Schreibtisch meines Schwiegervaters. Meine Schwiegermutter dagegen kenne ich nur mit Hund – mit Hund und Leine und Mantel und Halstuch und festen Schuhen, auf Waldwegen in Zürich, auf Waldwegen im Engadin.

In dem Jahr, bevor mein Schwiegervater nach Rom ging, schenkte er seiner jüngeren Tochter einen Rauhaardackel. Sie nannte ihn Kate. Danach gab es in der Etagenwohnung zwei Hunde, die gemeinsam bellten, wenn es an der Tür klingelte. Auf Zurechtweisungen meines Schwiegervaters reagierten sie sofort, bei meiner Schwiegermutter dauerte es etwas länger. Jede andere Stimme nahmen sie nicht wirklich ernst.

Dann starb der eine Hund, und ein paar Jahre später auch der andere. Beide wurden nach einer angemessenen Zeit der Trauer ersetzt, und jeder neue Hund lernte das Lautgeben von dem, der noch da war. Kaum wurde geklingelt, bellten und kläfften und jaulten sie, rannten Besuchern im Treppenhaus entgegen und sprangen an ihnen hoch, waren laut und wurden lauter und ließen sich kaum noch beruhigen. Im Sommer leckte der Dackel den Besuchern die nackten Zehen ab. Im Winter litt der Golden Retriever an Hautausschlag.

Mein Schwiegervater war nach Rom gezogen und legte sich dort auch wieder einen Hund zu.

Es kommt die Zeit, da kauft man sich einen Hund und weiß, es wird der letzte sein. Weiß der Hund das auch – versteht er, dass es seine Aufgabe sein wird, sein Frauchen in den Tod zu begleiten?

Irgendwann in den allerletzten Jahren bellten die Hunde nur noch, wenn meine Schwiegermutter in ihrer Nähe war. War sie unterwegs, an einer Sitzung oder beim Einkaufen, blieb alles still. Ohne jedes Aufheben ihrerseits betraten wir dann das Haus und wurden in der Wohnung stumm und schwanzwedelnd von den Tieren begrüßt. Es war, kam mir in dieser Zeit vor, als sei es einzig meine Schwiegermutter, die die Hunde beschützen wollten, als hätten sie von ihr den Auftrag erhalten, die Außenwelt auf Abstand zu halten.

»Sie wollen dich doch nur begrüßen!«, lachte meine Schwiegermutter, wenn ich unten ins Haus kam und die Hunde kläffend die Treppe herunterrannten. »Schluss jetzt! Aus!«

»Sie war ein ausnehmend freundlicher Mensch«, erklärte der Mondmann in einer Rede, die er bei der Trauerfeier seiner Mutter hielt. »Doch wäre es falsch, Freundlichkeit mit Nähe zu verwechseln. Das sind zwei vollkommen verschiedene Dinge.«

Ich sehe mich im Haus meiner Schwiegermutter. Hier steige ich die Treppenstufen zu ihrer Wohnung hoch, zu der getäferten Tür mit den Jugendstil-Milchscheiben. Hier rennen mir die Hunde entgegen, über den Teppich im Treppenhaus, der damals noch grün war (jetzt ist er rot). Hier tue ich so, als würde ich sie begrüßen, ein bisschen Theater für Frauchen, keine Hundebesitzerin mag es, wenn man ihre Tiere links liegen lässt. Die Hunde täusche ich nicht, sie bellen weiter. In der Wohnungstür erscheint lächelnd meine Schwiegermutter, gibt sich den Hunden gegenüber streng – »Genug jetzt! Das reicht!« – ohne erkennbare Wirkung.

Und noch jemand steht hinter meiner Schwiegermutter in der Tür: die jüngere Schwester des Mondmannes mit ihrem besorgten Blick.

DIE ÄGYPTISCHE KATZE

Das Telefon klingelt. Meine Mutter! Sie ist über 80 und fährt weiterhin um die Welt. Südafrika, Amerika, Brasilien … Als Teenager las ich ihre Jungmädchen-Tagebücher, die im Regal neben ihrem Nähtisch lagen. Fragen ans Leben, Fragen an sich selbst, Fragen zu den vielen Männern, die meine schöne Mutter in Schaffhausen umschwärmten. Später wanderte sie für ein Jahr nach Amerika aus, ganz alleine mit dem Schiff nach New York, wo sie eine Unterkunft hatte und die Nummer einer Kontaktperson, die ihr einen Job besorgen konnte.

Es geht hier nicht um meine Mutter.

Sondern um meine Schwiegermutter, die mir als Schwiegertochter nicht (wie eine andere Schwiegermutter es mir einmal erklärte) eine »natürliche« Feindin war.

Ganz im Gegenteil.

Mich berührt die junge Frau, die meine Schwiegermutter einmal war. Mich berührt die ernsthafte Art, mit der sie sich und ihre Gefühle prüft, und die amüsierte Neugierde, mit der sie das verfolgt, was gerade mit ihr geschieht. Ihr literarischer Übermut interessiert mich. Die Spannung, die sie aufbaut, für sich und für ihre posthumen Leserinnen.

Und was geht mich das an?

Die Frage stellt sich nicht. Ich habe einen Auftrag.

Er stammt von meiner Schwiegermutter selbst.

Sie hat ihn mir in ihrem letzten Lebensjahr erteilt.

In diesem Jahr wurde der linke Arm meiner Schwiegermutter dick und immer dicker; eine Folge der Krankheit, über die wir nicht sprachen, über die sie mit uns nicht sprach. Ihr Gesicht nahm einen gelblichen Ton an, die Haut wirkte wie feines Pergament, und das Augenweiß leuchtete in einem satten Zitronengelb.

»Du siehst aus wie eine ägyptische Katze«, sagte ich in dieser Zeit einmal zu ihr.

Mir war, als sei sie dabei, sich in ein Fabelwesen zu verwandeln, mit ihrer Pergamenthaut, den Zitronen-Augen, dem Elefantenarm. Sie war sie selbst und gleichzeitig jemand anderer, und dieser Jemand war mehr als ein Mensch.

An dem Nachmittag des Auftrags saß meine Schwiegermutter als ägyptische Katze an dem runden Tisch in ihrem Wohnzimmer. Durch die Fenster schien die Sonne auf das silberne Tablett mit den Espressotassen aus Wedgewood-Porzellan, der Kaffeekanne und dem Milchkännchen aus Silber, der Wedgewood-Zuckerdose, daneben eine angebrochene Tafel dunkler Schokolade.

Immer scheint in diesem Raum in meiner Vorstellung die Sonne. Und immer blüht vor dem Fenster die Magnolie, auch wenn sie an diesem Nachmittag vielleicht gar nicht blühte, war es doch eher Herbst als Frühling.

Die jüngere Schwester des Mondmanns saß ebenfalls am Tisch und schrieb mit Bleistift in ein dickes Sudoku-Rätselheft. Meine Schwiegermutter strickte an einem froschgrünen Pullover für einen ihrer Großneffen und unterhielt sich mit mir über einen Roman, den ich geschrieben hatte. In der Geschichte dieses Romans verschwinden vier Schülerinnen aus einer fünften Klasse des Gymnasiums, das wir beide, meine Schwiegermutter und ich, besucht hatten. In ihrer Zeit waren dort nur Mädchen, und auch zu Beginn meiner Schulzeit nannte sich die Schule noch »Töchterschule«, bis die Stadt die allgemeine Koedukation einführte und in den unteren Klassen Mädchen und Jungs auftauchten, über deren Toben in den Fluren die gläsernen Schaukästen zu Bruch gingen, die davor jahrzehntelang heil geblieben waren.

In meinem Roman verlassen die vier Mädchen von einem Tag auf den andern alles, was bisher ihr Leben war. Eine wird schon nach wenigen Wochen nach Zürich zurückkehren. Von einer Zweiten erfährt man, dass sie sich in Italien dem politischen Untergrund angeschlossen hat. Die beiden Letzten bleiben verschwunden. Von ihnen verliert sich am Ende jede Spur. Sie stehen als Rätsel im Zentrum des Buches, das seinen Blick auf diejenigen richtet, die zurückgeblieben sind: Die Mitschülerinnen und Lehrer, die Eltern und Geschwister – all jene, die verlassen wurden oder sich verlassen fühlen und die sich von diesem Aufbruch der Mädchen herausgefordert sehen. Warum in seinem alten Leben bleiben, wenn man einfach so in ein anderes übertreten könnte?

Das Buch war noch unveröffentlicht, ich hatte es Freundinnen zu lesen gegeben. Die meisten erzählten mir danach, dass sie diese Sehnsucht zu verschwinden aus der eigenen Jugend kannten.

»Wie lustig!«, sagte meine Schwiegermutter.

Sie hatte nie aus ihrem Leben verschwinden wollen.

»Du könntest doch auch einmal ein Buch über mich schreiben«, sagte sie dann.

Ich war erstaunt. Das Ansinnen war ungewöhnlich persönlich.

Ich antwortete, dass ich gerne ein Buch über sie schreiben wollte, nur wüsste ich nicht recht, was drinstehen sollte.

»O, da gibt es einiges!«, lachte meine Schwiegermutter und wackelte dabei mit dem Zeigefinger in der Luft herum wie eine Figur im Kasperletheater.

In diesen Monaten vor ihrem Tod war es oft so, als würde sie ein unsichtbares Theaterpublikum anspielen, als stünde sie auf einer Bühne, als hätte sie vielleicht immer schon davon geträumt, Schauspielerin zu sein, und nutze nun jede Gelegenheit, sich den Wunsch zu erfüllen.

Ich erinnere mich nicht, dass ich nachgefragt hätte, was sie mit ihrem Auftrag meinte. Wenn es denn einer war. Was hätte sie darauf geantwortet?

Wenig später war sie nicht mehr da.

Und beim Leerräumen der Wohnung entdeckten wir zwischen den Fünfjahrestagebüchern das schwarze Notizbuch mit seinen vielen vollgeschriebenen Seiten über das Fühlen und Denken einer jungen Frau, meiner Schwiegermutter als 22-Jährige.

War es diese Geschichte, die sie erzählt haben wollte?

Oder meinte sie an jenem Nachmittag etwas ganz anderes?

(Zu spät, ich bin schon auf Seite 20.)

1 723,66 ₽
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167 стр. 12 иллюстраций
ISBN:
9783906304984
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