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DIE EREIGNISSE DES LETZTEN WINTERS

Zürich, 17. November 1953

Seit einigen Wochen stecke ich in einem ganz verzwickten Dilemma und will nun versuchen, durch die Niederschrift dieser Geschichte einige Klarheit über mich selbst zu erhalten.

Ich weiss nicht recht, wann die Sache begonnen hat, es ist darum am besten, etwas weit auszuholen und mit den Ereignissen des letzten Winters anzufangen.

Am letzten Historikerabend am 28. Januar 1953 kam ich zum ersten Mal etwas näher in Kontakt mit dem Kreis, in dem ich mich seither am wohlsten fühle …

Der Wirt der »Schmidstube«, Herr Brütsch, hatte ein gutes Essen für 4 Fr. offeriert. Meine Schwiegermutter war im fünften Semester und zuständig für die Organisation des Anlasses, der im Festsaal der Zunft ihres Vaters stattfand. Am »Historikerabend« traf sich die historische Fakultät Zürich einmal im Jahr zum Essen und zum Tanz. Es gab auch Darbietungen, »Produktionen«. Meine Schwiegermutter hatte zusammen mit einer Mitstudentin, Bethli Sonderegger, einen solchen Auftritt vorbereitet, ein selbst gedichtetes Chanson mit Texten von Frauen historischer Heldenfiguren, die sich über ihr Schicksal beschweren.

Gian Andri lud uns anschliessend an den Abend auf der Schmidstube zu sich ein zum schwarzen Kaffee. Beck u. Frau, M.-Cl., U. B., G. D., H. waren dabei und Beck erzählte sehr fidel von seinen Reisen nach Syrien und in die Türkei. Warum Gian Andri auch mich einlud, weiss ich nicht recht. Vielleicht hat ihnen das Chanson gefallen –

DER MONDMANN

Der Mondmann kommt ins Zimmer und schaut mir über die Schulter. Ich habe ihm erzählt, dass ich über seine Mutter schreiben will. Auch mit der älteren seiner beiden Schwestern und ihrem Mann sprach ich darüber.

»Wovon soll das Buch denn handeln?«, wollte der Mann der älteren Schwester des Mondmanns wissen.

»Ich möchte eine Geschichte über Liebe in Zürich schreiben«, antwortete ich. »Über die Art, wie sich Paare hier finden. Über Zürcher Paarungsmechanismen.«

»Oho, da wüsste ich auch einiges«, rief der Mann der Schwester vom Mondmann und fing an, von einer Studienreise nach Paris zu erzählen, wo er das Hotelzimmer meiner Schwägerin eine halbe Nacht lang belagert hatte, bis er endlich vorgelassen wurde.

Die Einzelheiten habe ich vergessen. Für mich waren sie nicht wichtig, denn schließlich habe ich nicht vor, über die Schwester des Mondmannes und ihren Mann zu schreiben, sondern über meine Schwiegermutter.

Die jüngere Schwester des Mondmannes wiederum weiß noch nichts von meinem Vorhaben. Soweit mir bekannt ist, weiß sie auch nichts von dem schwarzen Notizbuch. Ihre Geschwister vermuten, sie würde es nicht lesen wollen, selbst wenn sie davon wüsste.

Der Mondmann ist mit meinem Unternehmen einverstanden. Zum einen liest er gerne, was ich schreibe. Zum andern sagt er: »Einer muss sich ja damit befassen.«

Damit meint er den Nachlass seiner Mutter, der nicht nur aus Hausanteilen und Einrichtungsgegenständen und einer ganzen Menge Papierkram besteht.

Es gibt da noch anderes.

Die Art etwa, wie sich ein Raum mit Wärme füllte, wenn meine Schwiegermutter ihn betrat. Ihre Neugier. Ihre Ruhe. Ihr Lachen. Ihre Leidenschaft für die eigenen Themen, historische und andere, und auch für die Themen von andern – als sei das eigenständige, selbstständige Denken und Schreiben und Veröffentlichen ein vollkommen normaler Teil des Lebens einer Zürcher Frau und Mutter.

Eine unstoffliche Hinterlassenschaft, die uns zwischen den Fingern zerrinnt.

Der Mondmann hat aber auch Ansichten. Zum Beispiel sagt er:

»Zu jeder guten Geschichte gehören Sex und Gewalt.«

Ich bin mir nicht sicher, wo die Gewalt (abgesehen von Dr. Kern vom Reitclub) herkommen soll in dem friedlichen Zürich meiner Schwiegermutter. Zwar finden sich in ihrem Fünfjahrestagebuch einige wenige Hinweise auf Gewaltverbrechen in der Stadt –

5. Dezember 1951: Es ist wieder ein greulicher Mord passiert in Zürich, man ist allmählich beunruhigt

– doch sind solche Einträge die Ausnahme.

In ihrem näheren Umfeld scheint es weder Raubüberfälle noch Einbrüche gegeben zu haben, auch keine Messerstecherei wie diejenige, die mein Zwillingsbruder in den 1990er-Jahren im Zürcher Niederdorf erlebte. Das war am Hirschenplatz, ganz in der Nähe der Bibliothek, in der meine Schwiegermutter schon als Studentin ständig war – man verliere dort immer schrecklich viel Zeit vermerkt sie dazu – und der damals zum Rotlichtviertel von Zürich gehörte.

An jenem Abend, als mein Bruder dort war, zog mitten auf dem Hirschenplatz ein Mann ein Messer und rammte es einem anderen in den Bauch. Der eine Mann ging zu Boden, der andere rannte davon. Mein Bruder, Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, trat dazu und leistete dem Verletzten Erste Hilfe. Später gab er der Polizei als Augenzeuge Auskunft über den Vorfall. Der Angegriffene erlag nach einigen Wochen im Krankenhaus seiner Wunde, weswegen die Staatsanwaltschaft meinen Bruder an den Tatort bestellte, wo er die Szene für die Ermittlungsbehörden nachstellen sollte.

»Um sieben Uhr in der Früh!«, sagte er zu mir.

Er sah beinah aus, als wünschte er sich, er hätte sich an dem Abend nicht eingemischt.

Es gibt Gewalt in Zürich, aber meine Schwiegermutter wirkt davon kaum betroffen. Noch viel weniger scheint sie jene andere Art von Gewalt erfahren zu haben, wie sie der Zürcher Autor Fritz Zorn 25 Jahre später als Grund für seine Krebserkrankung ausmachen sollte; in einem Buch, das so beginnt:

»Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein. – Ich bin bürgerlich erzogen worden und mein ganzes Leben lang brav gewesen …«

Auch der 32-jährige Zorn suchte in seiner Aufzeichnung Klarheit, und als er sie fand, wollte er sie verkünden. Einer, der sich von dem Ansinnen angesprochen fühlte, war der Autor Adolf Muschg, dem ein Buchhändler Zorns Manuskript zuspielte. Er schickte es an einen befreundeten Verleger, der sich zu einer Veröffentlichung überreden ließ; Zorn lag inzwischen im Krankenhaus, man wusste, dass er nicht mehr lange leben würde.

Tatsächlich starb er am Tag nach der Zusage.

»Mars« erschien 1977 und wurde zum Bestseller und einem der meistdiskutierten Bücher der Stadt. Die verklemmten Moralvorstellungen seiner großbürgerlichen Eltern und das im Hinblick auf Körperdinge nicht weniger verklemmte Zürcher Schulsystem hätten ihn, schrieb der Autor (der eigentlich Angst hieß), lebensuntüchtig, lustfeindlich und letztendlich krank gemacht.

Das wurde nicht gerne gehört.

Innerhalb der Schweizer Literatur hat »Mars« ein gewisses Nachleben, etwa mit Daniel de Roulets Roman »Double«, in dem der Autor aus der französischen Schweiz sich selbst und Fritz Zorn fragt, warum der junge Mann damals all das immer weiter mit sich machen ließ? Wo doch gerade in seiner Zeit so vieles im Aufbruch war, die Jugend seit Ende der 60er auf den Barrikaden, gleichaltrige Mitstreiterinnen und Mitdenker, so weit das Auge reichte, und mehr Sex als je zuvor dank der Antibabypille?

Wer hatte ihn eingesperrt und den Schlüssel ins Klo geworfen?

In »Mars« schreibt Zorn unter anderem:

»Ich bin in der besten aller Welten aufgewachsen.«

Er meint das aber nicht so.

Meine Schwiegermutter ist in der besten aller Welten aufgewachsen. Und das meine ich wirklich so.

Wenn es in ihrer Welt einen Mangel gab, dann der, dass sie darin nicht würde bleiben können, denn darauf war ein bürgerlicher Haushalt nicht ausgerichtet. In ihrer Welt zogen die Töchter aus, manche schon zum Studium, die meisten spätestens dann, wenn sie sich selbst daran machten, eine Familie zu gründen.

Heiratet, Töchter, heiratet!

Vorläufig aber war meine Schwiegermutter noch aufgehoben im warmen Nest, half mit in der Arztpraxis ihres Vaters, rannte in die Bibliothek oder ging mit dem Hund spazieren. Und wenn sie sich am Abend ihres zweiundzwanzigsten Geburtstags hinsetzte, um schreibend Klarheit zu finden, dann wusste sie um diesen familiären Vorzug, war aber auch entschlossen, den aktuellen Gegebenheiten ins Gesicht zu schauen.

Dazu gehörte auch das, was sie das Körperliche nennt.

Von unbändigem Zärtlichkeitsbedürfnis ist in ihrer Niederschrift die Rede. Davon, dass es Mass zu halten gilt, nicht mit dem Feuer zu spielen, die Annäherung, wenn möglich, bei einem harmlosen Kuss bewenden zu lassen … Davon, dass man sich auf der Strasse ganz schamlos benommen habe …

Und wiederkehrend die rein körperliche Sehnsucht, die natürlich auch mit Monatsschwankungen zu tun habe.

Ein unverblümtes Kreisen der Gedanken und Sinne um Sex – auch wenn das nie so genannt wird.

(Ist es das, was der Mondmann lesen will?)

FRAUENRECHTLERISCHES

– vielleicht hat ihnen das Chanson gefallen, das Bethli Sonderegger und ich verfasst hatten.

An diesem Historikerabend, nach dem nichts mehr war wie zuvor, sang meine Schwiegermutter mit einer Mitstudentin das Klagelied der Frauen in d. Geschichte.

Gedichtet wurde in ihrer Familie oft. Gereimtes gab es zu runden Geburtstagen und Hochzeitsfeiern und anderen Festivitäten, und wenn es ihr nicht schnell genug ging mit den Versen, rief meine Schwiegermutter gerne ihren Vater zu Hilfe, der ein Händchen dafür hatte. Diesmal entstand das Chanson ohne seine Unterstützung. Laut Fünfjahrestagebuch meldeten sich darin die Gefährtinnen von Caesar, Ludwig d. VII, Bismarck zu Wort, außerdem von Ike – dem damaligen US-Präsidenten Eisenhower – und Dutti – Gottlieb Duttweiler, Gründer der Migros-Genossenschaft.

Musikalisch folgte die Darbietung den Walzerklängen von »Comme de bien entendu«, Titelsong der französischen Komödie »Circonstances atténuantes«. Im Fünfjahrestagebuch wird der Auftritt als grossen Succès beschrieben.

Eine Woche später vermerkt meine Schwiegermutter:

Alles hat mich am Seil wegen der vermeintlich frauenrechtlerischen Produktion am Historikerabend.

Die Verse, die damals entstanden, sind nicht überliefert. Das Konzept dahinter – den Frauen hinter den großen Männern eine Stimme zu geben – war vielleicht eher literarisch als politisch gemeint. Schließlich ging es bei dem Unterfangen um einen humoristischen Einblick in Privathaushalte, nicht um die Auseinandersetzung mit der Frage, wie zum Beispiel ein Land, das Freiheit und Gleichheit auf seine Fahnen geschrieben hatte, seit bald 150 Jahren der Hälfte seiner eingebürgerten Bevölkerung elementare staatliche Grundrechte vorenthalten konnte. Jede Zürcher Tochter wuchs in dieser Zeit Anfang der 1950er im klaren Bewusstsein auf, aus Blick der Schweizer Verfassung und des Gewohnheitsrechts, das daraus abgeleitet wurde, weniger zu zählen als ein Zürcher Sohn. Von ihr wurde erwartet, dass sie sich der »ureigenen weiblichen Sphäre«, Haushalt und Kindern, widmete. Wer als Frau dagegen aufbegehrte, galt schnell als »Männerhasserin«. Wer gar wie die Baslerin Iris von Roten 1958 in »Frauen im Laufgitter« über 600 Seiten mit klugen, spitzen, visionären und wütenden Analysen zur »Stellung der Frau in der Schweiz« füllte, wurde an den Pranger gestellt. »Das falsche Buch zur falschen Zeit!«, befand ein Zeitgenosse im Pressewesen, der für viele sprach, die vielleicht nicht das Buch, aber doch den Titel zur Kenntnis genommen hatten (und dazu zählten auch jede Menge Schweizerinnen).

Meine Schwiegermutter hatte keine Brüder. Es gab nur sie und ihre Schwestern, und ihnen wurde von den Eltern einiges zugetraut. Dafür spricht ihr Fünfjahrestagebuch, dafür spricht die Art, wie sie später mit ihren eigenen Kindern und Kindeskindern umging. Als vermeintlich frauenrechtlerisch wurden die Verse des Chansons von außen eingeordnet; von denjenigen vielleicht, die die Gedanken darin lieber nicht so gewitzt und deutlich (und musikalisch eingängig) vorgetragen haben wollten.

Doch wurde am Historikerabend nicht nur gesungen, sondern auch getanzt! Von eifrigem Walzer ist die Rede, der auf die Produktionen und das gute Essen für 4 Fr. folgte. Meine Schwiegermutter stelle ich mir strahlend vor, wie sie sich bis tief in die Nacht von verschiedenen Tanzpartnern im Kreis herumwirbeln lässt.

War es vielleicht auch ihr Talent zur Freude, zum sich Freuen, der den Kreis um Gian Andri auf sie aufmerksam gemacht hatte?

DIE »CAUSA BECK« UND DIE FOLGEN

Allerdings hatte meine Schwiegermutter im Laufe ihrer ersten beiden Studienjahre schon einige Male von sich reden gemacht. Zweimal hatte sie Semesterpreise für eine Hausarbeit erhalten. Und wenige Monate vor dem Historikerabend hatte sie sich als Sprecherin des Fachbereichs in einem medial viel beachteten Vorfall eingesetzt, der Zürich über Wochen beschäftigen sollte.

Aus dem Fünfjahrestagebuch.

27. August 1952, Mittwoch:

Heute ist den ganzen Tag die Hölle los. Ich komme nicht vom Telephon weg. Endlose Palaver mit Tagesanzeiger, NZZ (Dr. Richner persönlich!), Silberschmidt u. immer wieder mit den anderen Studenten …

Was war geschehen?

Angefangen hatte das Ganze am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag. Es ging um die offizielle Festrede der Stadt Zürich, die gehalten wurde von dem Mittelalterhistoriker Prof. Dr. Marcel Beck – derselbe Professor, der spätnachts beim schwarzen Kaffee noch so fidel von seinen Reisen nach Syrien und in die Türkei erzählen sollte. Wie damals üblich, wurde der Text der Ansprache im Vorfeld der Neuen Zürcher Zeitung übergeben. Dort entdeckte die Redaktion, dass der Professor vorhatte, das Schweizer Neutralitätsprinzip infrage und den Eintritt in ein westliches Verteidigungsbündnis zur Diskussion zu stellen.

(»Da wir keine Kriegshelden sein konnten, wollten wir wenigstens die Helden des Kalten Krieges sein«, schrieb der Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt 15 Jahre später in seiner »Dramaturgie der Schweiz«.)

Die NZZ, die eine »Schädigung der Landesinteressen« und ein »aussenpolitisches Debakel« befürchtete, schlug Alarm.

Natürlich nicht öffentlich.

Vielmehr wandte sie sich an den Erziehungsdirektor, den Arbeitgeber des Professors, der diesem die Streichung der anstößigen Passage nahelegte. Der Professor gehorchte, ersetzte die Stelle jedoch durch eine andere, in der von »dunklen Mächten« die Rede war, welche die obersten Behörden kontrollieren würden – »heissen sie nun Elektrizitätswirtschaft, Verbände oder Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung«.

Großer Spaß war nun auf allen Seiten zu haben!

Ziemlich scharf, aber berechtigt, nannte meine Schwiegermutter in ihrem Fünfjahrestagebuch die Ansprache des Professors, die sie sich auf dem Bürkliplatz angehört hatte. Abends genoss sie von Fluntern aus die Feuer und fuhr tags darauf wie jeden Sommer mit der Familie für drei Wochen in den Schweizer Jura. Aus dieser Zeit lesen wir von wechselnden Wetterlagen, dem Toben des Chow-Chows Haitle über die Wiesen und einer ganzen Reihe von Gästen, die sich abends zu der Familie gesellten. Auch übte meine Schwiegermutter mit ihrem Vater Pistolenschiessen

Ich schiesse mit aufgelegter Hand, es geht ganz ordentlich.

In Zürich unterdessen lieferte sich die Presse eine Schlammschlacht, die vielleicht auch ein wenig der sommerlichen Nachrichtenflaute geschuldet war. Während die eine Seite »einschränkende Maßnahmen zum Schutze der Landesinteressen« für gerechtfertigt hielten, sah die andere darin Zensur und damit ein »Redeverbot«, das einem freiheitlichen Staat schlecht anstehe. Zu den Publikationen, die sich im Laufe des Augusts zu Wort meldeten, gehörte auch das »Schweizer Frauenblatt«, das sich in einem leidenschaftlichen Leitartikel für die Geistesfreiheit einsetzte. Der Chefredakteur des sozialdemokratischen »Volksrecht« schrieb daraufhin spöttisch: »Kratze einen Professor, und eine Schwiegermutter kommt hervor« (tatsächlich war Beck der Schwiegersohn der Schreiberin). Die Redaktion des »Schweizer Frauenblatt« distanzierte sich in einem Leserbrief an die NZZ »in aller Form« von ihrer Autorin in der Hoffnung, die »sehr geehrten Herren« würden die »impulsiven Meinungsäußerungen der geschätzten Journalistin« nicht auf die »Frauenbewegung als solche« übertragen.

Einige von Marcel Becks Studenten hatten sich ebenfalls zu Wort gemeldet. In einem Brief beklagten sie im Namen des Fachbereichs den Umgang der NZZ mit ihrem Professor. Auch ihr Schreiben erschien auf der Leserbriefseite und wurde von der Redaktion mit einer eher herablassenden Richtigstellung versehen: »Es ist bis zu einem gewissen Grade begreiflich, dass sich ein paar Geschichts-Studenten um ihren in der Öffentlichkeit kritisierten Lehrer scharen und frisch von der Leber weg einen wortstarken Protest verfassen, kann doch von ihnen nicht erwartet werden, dass sie subtile politische Zusammenhänge erkennen und leidenschaftslos bewerten.«

Unterdessen war meine Schwiegermutter aus den Ferien zurückgekehrt. In ihren Tagesnotizen berichtet sie kurz nach der Ankunft in Zürich von einer erregten Historikerversammlung –

die darüber verhandelt, ob nach der Antwort der NZZ auf die Stellungnahme der Studierenden zu Beck noch eine Erwiderung nötig sei.

Die Erwiderung, die daraufhin beschlossen wurde, verfasste sie am nächsten Tag gemeinsam mit Margrit Koch und Boris Schneider. Gegen Mittag wurde das Schreiben an alle Zeitungen verschickt, am Nachmittag ging sie mit Dorothea Kühn Boot fahren auf dem Zürichsee. Für Rückfragen hatten die Verfasserinnen und Verfasser die Telefonnummer des Elternhauses meiner Schwiegermutter angegeben.

Wir sind gespannt, was weiter passieren wird.

Erstaunlich, wer alles sich tags darauf bei meiner Schwiegermutter meldete – Dr. Richner persönlich!, der Chef der NZZ Inlandsredaktion, der vermutlich auch die Antwort der NZZ geschrieben hatte. Große Kanonen für eine kleine studentische Spatzenschar, so kann das einem heute vorkommen – schließlich gab es in dieser Zeit gerade mal 100 Studierende im Fachbereich Geschichte.

(Lag es vielleicht auch daran, dass die Tochter eines bekannten Zürcher Internisten am Telephon saß und die Anrufe der Presse entgegennahm?)

Am Folgetag ging das Geschelle, allerdings vermindert, weiter. Inzwischen war klar, dass die NZZ auf weitere Polemik verzichten würde. Noch mal einen Tag später, ein Freitag, war der Geburtstag der Mutter. Das Fünfjahrestagebuch vermerkt zahlreiche Teevisiten. Ein kleiner Nachtrag hält fest:

Endlich hat das Gestürm etwas abgeflaut. Bin noch ganz erschlagen.

Am Samstag ging meine Schwiegermutter nachmittags ins Kino, »Der Schuss von der Kanzel«. Am Sonntag fuhr sie mit einem Mitstudenten zur 4. Volksversammlung gegen das geplante Kraftwerk in Rheinau, ein weiteres Anliegen des streitbaren Professors. Dort hörte sie einige scharfe, aber gute Reden.

Und am Montag?

1. September 1952, Montag: Trage mich mit dem Gedanken, eine Bluse mit ¾ Ärmeln zu nähen.

Was sie dann auch tat.

Aus grünem Wollstoff.

Eine ganze Woche lang war sie damit sehr beschäftigt. Wie die Bluse wohl ausgesehen haben mag?

MEINE SCHWIEGERMUTTER ALS GEHEIMAGENTIN

Tara-tara – Tusch – Musik!

Herren in Anzügen. Damen in Ballkleidern. Frauenrechtlerische Chansons, politischer Aktivismus – und Waffen (Pistolen).

Eine geheimnisvolle Gruppierung um Gian Andri (M.-Cl., U. B., G. D., H …) ist dabei, meine Schwiegermutter zu rekrutieren!

Es geht um Wahrheit. Gerechtigkeit. Und Freiheit.

Es reicht!

Und zwar schon lange.

In ihrer Tarnidentität als Zürcher Partygirl, das nebenbei ganz ausgezeichnet Walzer tanzt, wird meine Schwiegermutter fortan ganz andere Parkette zum Erzittern bringen.

Wehe, wehe, wehe Zürich!

So wie es bisher war, kann es nicht weitergehen. Und wer wäre als Undercover-Agentin besser geeignet als diese junge Frau, bewaffnet, furchtlos und allzeit bereit, für ihre Ansichten einzustehen, Redakteure in Grund und Boden zu reden, und nur wenige Tage später eigenhändig eine Bluse mit ¾ Ärmeln zu nähen?

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9783906304984
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