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Die Jungfrau und der Soldat

Im After der Leiche steckte eine Schnapsflasche, von der rechten Hand waren drei Finger abgeschnitten, und es gab weitere, bestialische Verunstaltungen, als ob Wölfe, nicht Menschen am Werk gewesen wären. Es war die Leiche eines Mannes Mitte dreißig. Er gehörte aber nicht zu den Opfern der konfessionellen Auseinandersetzungen, die in Bagdad im Jahr 2006 an Heftigkeit zugenommen hatten. Obwohl die Leiche damals auftauchte. Offenbar hatte irgendein Fuß die Flasche in den After des Mannes geschoben oder sie war sorgfältig eingeführt worden. Der Mann war weder ein Polizist noch ein Übersetzer, ein Verräter, der mit der amerikanischen Armee kollaborierte. Er war auch weder Journalist noch Milizenboss. Er war nicht einmal ein unbeteiligter Bürger. Er war einfach ein Mann, Opfer einer gruseligen Geschichte. Die Leiche war diejenige von Hamîd al-Sajjid, einem Mann, der entlassen worden war, als die Regierung kurz vor der Besetzung Bagdads im Jahr 2003 die meisten Gefängnisse leerte.

Hamîd al-Sajjid wäre berühmt geworden, wenn die Zeitungen zehn Jahre zuvor berichtet hätten, was ihm in der Uniformenschneiderei geschehen war, die dem Amt für Militärproduktion unterstellt war. Doch damals verdunkelten alle betroffenen Stellen die Vorkommnisse, und jede Seite hatte einen Grund dafür. Die Regierung des Diktators betrachtete alles außerhalb der großen nationalen Fragen als bedeutungslos und trivial. Und es galt nicht als nützlich, dass sich das Volk für Dinge und Fragen interessierte, die vom wahren Kampf gegen die Mächte des niederträchtigen Kolonialismus und des Zionismus ablenkten, besonders wenn man im Kampf gegen den brutalen Wirtschaftsboykott stand, den die Vereinten Nationen nach dem zweiten Golfkrieg verordnet hatten. Auch Hamîds Familie verhielt sich stumm, zunächst aus Furcht, dann aus Scheu. Die anderen Wölfe waren Hamîd al-Sajjids Spur während der vergangenen zehn Jahre gefolgt, und als seine ältere Schwester seinen Leichnam zu Gesicht bekam, wusste sie sofort, wer ihren Bruder ermordet hatte. Die drei abgeschnittenen Finger waren ein Hinweis auf die Identität des Mörders.

Die Geschichte begann im Jahr 1996 in der Karâma-Schneiderei, wo Uniformen hergestellt wurden. In einem Raum dort stießen die Inspektoren der Vereinten Nationen auf Hamîd und ein totes Mädchen. Die eigentliche Geschichte hatte am letzten Tag vor den unheilvollen Ferien der Werkstatt begonnen. Vielleicht hatte sich Gott ja direkt in die Ereignisse jenes Tages eingeschaltet, oder das, was geschah, war Machwerk der Satane aus dem Reich des Zufalls. Vielleicht war aber alles bloß das schmutzige Wirken von Menschen.

Eine freundliche, kleine, aber vorsichtige Geste: Fâtin zwinkert einem Soldaten zu, der, mit einem Packen Papier beladen, verängstigt und besorgt vorbeigeht. Dann beugt sie sich wieder über ihre Nähmaschine, um auf die Tasche einer Soldatenhose ein militärisches Abzeichen in Form eines roten Dreiecks zu nähen. Kurz darauf kommt der Soldat, Hamîd al-Sajjid, zurück. Er durchquert die Halle der Schneiderinnen in der Mitte zu der kleinen Eisentreppe, die zum zweiten Stock hinaufführt. Doch dieses Mal erhält er von Fâtin kein Zwinkern, denn die Augen aller sind scharf wie Kameralinsen. Ein Fehler in einer Werkstatt wie dieser kann teuer zu stehen kommen. Das war der kleine Krieg des Hamîd al-Sajjid. In seinem Büro stellte er die Rechnungen für die Werkstatt aus und lauschte dem Geräusch der Nadeln an den Nähmaschinen. Er war in Fâtin verliebt oder »tödlich verliebt«, wie er seiner Lieblingsschwester Sâhira erzählte. Doch bisher hatte er noch keinen geeigneten Weg gefunden, um sie außerhalb der Werkstatt zu sehen. Hamîd lebte in einem einfachen Viertel auf der Russâfa-Seite von Bagdad, Fâtin zusammen mit ihren drei Brüdern und deren Ehefrauen weit weg im Polizeiviertel. Sie dürfte etwa zweiundzwanzig Jahre alt gewesen sein, und ich bin nicht sicher, ob sie die einzige Unverheiratete in der Werkstatt war. Sainab behauptete, es gebe in der Werkstatt wohl nur etwa fünf noch nicht Verheiratete. Übrigens hatte der Inhaber der Werkstatt vorgeschlagen, diese in Führer-Uniform-Schneiderei umzubenennen. Er hatte sich diesbezüglich schriftlich an das Amt für Militärproduktion gewandt. Die Karâma-Fabrik sollte ab dem nächsten Tag für zwei Wochen urlaubshalber schließen, eine Gunst, so erzählte man den Arbeiterinnen, seitens seiner Exzellenz, des Herrn Ministers. Für Hamîd wären diese Urlaubstage grässlich und lang wie ein Jahrhundert gewesen. Fâtin erinnerte ihn in ihren Briefchen immer wieder an ihre Brüder, wenn er versucht hatte, sie zu einem Rendezvous außerhalb der Fabrikmauern zu überreden: Hamîd, wenn meine Brüder davon Wind bekommen, schlachten sie mich ab wie eine Henne. Du bist wahnsinnig. Ich gehe nicht einmal an die Haustür. Hamîd wusste nicht, wie er diese Ferien ohne Fâtins Lächeln ertragen sollte, das er jeden Tag mit sich nach Hause nahm und lange Stunden betrachtete und dann küsste. Danach schlief er ein.

An jenem Tag hatte der Direktor der Werkstatt telefonisch nach Abu Fâdil verlangt. Dieser hatte rasch die Zeitung, auf der er seine Mahlzeit, Auberginen und Zwiebeln, zu sich nahm, zusammengefaltet und sich den Mund mit dem Ärmel abgewischt. Ein Mann Ende fünfzig, der so furchterregend hager war, dass er gerade dem Grab entstiegen zu sein schien. Er war Herr über den »ersten Schlüssel«, auf den sich der Verdacht richtete. Niemand hatte Abu Fâdil, den Türhüter der Werkstatt, je mit einer anderen als einer grauen Stoffhose gesehen. Seine aschgraue und zu weite Uniform sah so elend aus wie die alten Stadtteiltore. Abu Fâdil kannte die Namen aller Frauen, die in der Werkstatt arbeiteten. Das war eine bemerkenswerte Leistung. Die Namen der Soldaten waren leicht zu behalten. Es gab in der Werkstatt nur sieben davon. Außer dem Direktor, Oberst Sahrân, und dem Türhüter Abu Fâdil waren das: Hamîd und Rachmân bei der Buchführung und Sâdik und Umar, die beiden Lkw-Verantwortlichen, die am Hinterausgang des Gebäudes die fertigen Uniformen in Empfang nahmen. Dann gab es noch Unteroffizier Dschâssim Chudair samt seinen beiden Assistenten Chalaf und Marwân. Dieser Unteroffizier war verantwortlich für die Instandhaltung der Nähmaschinen. Die restlichen Angelegenheiten lagen in der Hand von Arbeiterinnen. Doch Oberst Sahrân war der einzige Mann in der Fabrik, der die Frauen die ganze Zeit betrachten konnte. Er saß in einem Zimmer mit Glaswänden im ersten Stock und mit Blick direkt auf die Produktionshalle. Im zweiten Stock befanden sich das Buchführungszimmer und drei weitere kleine Räume, in denen Nähbedarf gelagert war, daneben die Treppe, die hinunterführte. Die Fabrik war klein, aber produktiv, spezialisiert ausschließlich auf die Herstellung von Uniformen für hohe Offiziere. Heute liegt das Gebäude in Trümmern, zerbombt von amerikanischen Flugzeugen noch vor der Besetzung Bagdads.

Im Zimmer des Direktors erklomm Abu Fâdil einen Stuhl, um das Bild des Präsidenten von der Wand hinter dem Schreibtisch zu nehmen. Der Oberst gab ihm ein neues Bild desselben Präsidenten. Auf dem alten trägt der Präsident arabische Kleidung, auf dem neuen eine Uniform. Der Oberst dankte Abu Fâdil. Dann holte er aus einer Schreibtischschublade einen Bund Schlüssel, löste einen kleinen daraus und gab ihn Abu Fâdil, der ihn mit einer ehrerbietigen Verbeugung entgegennahm und an seine Schlüsselkette hängte und danach den Raum verließ.

Würden wir jetzt hinaus in die Arbeitshalle der Schneiderinnen gehen, könnten wir den »zweiten Schlüssel«, denjenigen von Sabrîja, der verantwortlichen Aufseherin über die Schneiderinnen, sehen. Sabrîja schritt unablässig zwischen den Nähmaschinen umher und spielte dabei mit dem Schlüsselring. Gleichzeitig beobachtete sie jegliche Bewegung in der Werkstatt. Niemand konnte diese »fruchtlos-trockene Sabrîja«, wie die Mädchen ihre Aufseherin nannten, leiden. Ohne ihr langes, schwarzes Haar hätte nichts darauf hingedeutet, dass sie eine Frau war. Das jedenfalls war die Einschätzung des Soldaten Rachmân. Und es stimmte. Die Frau glich einem Schwergewichtsringer. Übrigens, Sabrîja und eine Minderheit unter den Mädchen trugen ihr Haar in der Werkstatt offen, die große Mehrheit trug ein Kopftuch und dunkelblaue Arbeitskleidung. Sabrîja gehörte zur Generation der Siebzigerjahre und hatte sich noch nicht mit der Rückkehr des Kopftuchs und dem Bedeutungsgewinn des Religiösen abgefunden. Doch sie war auf widerliche Art eifersüchtig und neidisch. Sie beobachtete jede Bewegung, jedes Lachen, jedes Tuscheln der Mädchen mit Argusaugen.

Im zweiten Stock würden wir auf den »dritten Schlüssel« stoßen, denjenigen des Soldaten Rachmân. Doch seine Rolle verstehen wir nicht ganz. Vielleicht war es ja einfach ein privater Schlüssel. Rachmân arbeitete mit Hamîd al-Sajjid im Buchführungsbüro zusammen. Hamîd fürchtete die Zunge Rachmâns, dem durchaus einmal ein Wort über seine Beziehung zu Fâtin entschlüpfen könnte. Vor dem Gefängnis hatte Hamîd keine große Angst, was ihn aber beunruhigte, war die Furcht davor, der Fabrikdirektor, Oberst Sahrân, der Hamîd für einen vorbildlichen, aufrechten Soldaten und einen anständigen Menschen hielt, könnte ein schlechtes Bild von ihm bekommen. Schon einmal hatte der Oberst Hamîd geraten, er solle ernsthaft über das Heiraten nachdenken und damit »seine Religion vollenden«. Er forderte ihn auch auf, ab sofort der Pflicht des Gebets nachzukommen und sich Gott zuzuwenden. Diese Welt sei vergänglich. Hamîd verschaffte sich das Schweigen seines Kollegen, indem er ein Auge zudrückte, wenn jener jede halbe Stunde aufs Klo ging. Rachmân nutzte die Tatsache, dass die Klos im ersten Stock gleich neben der Treppe waren. Rechts das für die Frauen, links das für die Männer. Rachmân weidete gern seine Blicke an den Gesichtern der Mädchen und atmete den Geruch ein, der ihren verschwitzten Körpern entströmte, für ihn paradiesischer Duft. Dann ging er ins Klo, um jedes Mal die gleiche Bewegungskombination durchzuführen: Er kramte in seinen Taschen und holte, schon eine Zigarette zwischen den Lippen, aus seiner hinteren Hosentasche eine Schachtel Streichhölzer. Aus einer anderen Tasche holte er ein Bild. Dabei fiel ein kleiner Schlüssel zu Boden, den er wieder aufhob und sich seine Zigarette anzündete. Es war das Nacktfoto einer berühmten türkischen Schauspielerin, mit der Rachmân jetzt seinen imaginären Beischlaf vollzog. Er schürzte seine Lippen und starrte auf das Poloch der Türkin, bis sich das Sperma über seine Hand ergoss.

Sainab Mansûr bewegte ihre Hand am Reißverschluss der Militärhose auf und ab wie ein Mann, der onaniert, dann verpasste sie dem Hintern der Hose einen theatralischen Fußtritt. Die Mädchen brachen in schallendes Gelächter aus. Sainab ist die Inhaberin des »vierten Schlüssels« und Assistentin der fruchtlos-trockenen Sabrija und durfte sich als solche überall in der Werkstatt frei bewegen. Sie war die engste Freundin von Rachmâns älterer Schwester Sâhira. Während der Arbeit fungierte sie als Briefträgerin zwischen Fâtin und Hamîd. Wenn sie in den zweiten Stock hinaufging, um Nähutensilien zu holen, überbrachte sie schriftliche Botschaften. Sie war ein heiteres, intelligentes Mädchen, einige der Kolleginnen hielten sie für lesbisch. Eines Tages lachte Sainab lange, als sie Unteroffizier Chudair zuhörte, der allen Ernstes von der Störung bei Nähmaschinen sprach, als wäre er ein Biologieprofessor. Er erklärte ruhig, gravitätisch und ein wenig gelangweilt: »Die Nadel kann bei der Arbeit aus verschiedenen Gründen brechen. Der Fuß steht vielleicht nicht fest an seiner Stelle, das Schiffchen ist vielleicht nicht solide eingelegt, oder der Stoff wird zu heftig gezogen. Der Faden reißt an der Nadel, wenn er nicht gut läuft oder nicht genügend gezogen wird oder weil die Zähne des Kammes unsauber und schadhaft oder weil die Stiche ungleichmäßig sind. Obwohl sie durchaus professionelle Schneiderinnen sind, machen die Mädchen doch häufig Anfängerinnenfehler.« Sainab lauschte Unteroffizier Chudair heiter, während er ihr drei Schlüssel reichte, die sie in der Tasche ihres Arbeitsanzugs versenkte, ohne dass sein Redefluss stoppte.

Es könnte noch andere Schlüssel geben, aber ich habe nur diese gewählt, um den Rhythmus der Geschichte zu erhalten, die Sainab erzählte.

Am Morgen des ersten Tags der Ferien der Karâma-Fabrik tourte am Himmel droben ein amerikanischer Spionagesatellit, um Bilder unterschiedlicher Größe von der kleinen Fabrik aufzunehmen, die der Inspektionskommission der Vereinten Nationen, die überall nach verbotenen Waffen suchte, Kopfzerbrechen bereiteten. Die Regierung führte die Inspektoren bewusst an der Nase herum und erlaubte ihnen den Besuch der Fabrik nur ein Mal. Dahinter stand die Absicht, bei den Inspektoren den Argwohn zu wecken, die Fabrik könnte zu verbotenen militärischen Zwecken verwendet werden. Der Lage der Fabrik in den Außenbezirken von Bagdad auf einem verlassenen, kahlen Stück Land kam dabei eine besondere Rolle zu. Vielleicht wurde die Anlage früher wirklich einmal für geheime militärische Zwecke gebraucht. Ihre ursprüngliche Ausgestaltung deutete nicht darauf hin, dass bei der Errichtung an eine Näherei gedacht war. Die schweren Eisentüren an den kleinen fensterlosen Räumen im zweiten Stock machten einen verdächtigen Eindruck. Von den Bodenplatten im Nähsaal hätte man auf eine Verwendung als Labor schließen können, jedenfalls eine Aktivität, bei der viel Wasser zum Einsatz kam. Die nächste asphaltierte öffentliche Straße war fünf Kilometer entfernt. Die Fabrik besaß zwei Hauptportale: ein hinteres, durch das die Lastwagen fuhren, und ein vorderes, durch das die Arbeiter ein und aus gingen. Dort stand auch das Wächterhäuschen des Türhüters Abu Fâdil, der nach Arbeitsschluss das Tor verschloss.

An jenem Morgen zeigten die amerikanischen Aufklärungsbilder natürlich nicht das Schreien im zweiten Stock. Es war gedämpft und verzweifelt und kam vom Ende einer Welt in Todesangst. Es erreichte den leeren Nähsaal, der so trist wirkte wie eine Geisterstadt bei Sonnenuntergang. Fâtin schrie und weinte die ganze Nacht wie ein Tier auf der Schlachtbank. Sie weinte und greinte und entfachte mit ihrem Geschrei das Feuer in der Kammer für Nähutensilien, während Hamîd in einer Ecke hockte und versuchte, seine Hände unter Kontrolle zu bekommen, die zitterten wie ein Ast im Sturm. Auch meine Tante Sainab weinte bitterlich, jedes Mal, wenn sie die Ereignisse jenes Tages wiedererzählte. Sie beschuldigte alle, dann bat sie Gott um Verzeihung für ihren Argwohn. »Wir hatten unsere Arbeit abgeschlossen«, erzählte sie. »Die Mädchen waren im Umkleideraum. Einige zogen sich rasch um und verschwanden. Ich hatte während der letzten Arbeitsstunde Fâtin einen Brief von Hamîd gebracht, in dem er sie zu einem Gespräch im zweiten Stock bat, während sich die anderen umzogen. Fâtin war, mit der Entschuldigung, sie leide an Durchfall, aufs Klo gegangen. Ich hatte angenommen, Hamîd wollte sich mit ihr nur ein paar Minuten lang unterhalten. Fâtin musste einen der Busse erreichen, die uns in die Stadt brachten. Natürlich ging es an jenem Tag in den Bussen besonders laut, lustig und lachend zu. Schließlich hatte es überraschend Ferien gegeben. Warum Fâtins Kolleginnen nicht merkten, dass sie nicht da war? Gott allein weiß es. Ich habe dir gesagt, dass ich einen anderen Bus genommen habe. Glaubst du etwa, Rachmân hätte dieses Verbrechen begangen? Nein, nein und nochmals nein, nicht Rachmân. Er war zu feige. Aber was, wenn der Oberst selbst sich an den beiden rächen wollte? Abu Fâdil behauptete, er habe wegen der Ferien die Türen im Oberstock nicht geschlossen, und Sabrîja bestätigte das. Die Türen zu den Räumen mit den Nähutensilien blieben im Allgemeinen offen. Außerdem dauerten die Ferien nur zwei Wochen. Warum, mein Gott nochmal, sind die Inspektoren nicht schon am zweiten oder dritten Tag gekommen? Was für ein finsteres Schicksal die geliebte Fâtin getroffen hat. Die Inspektoren kamen erst zwei Wochen nach Beginn der Ferien in die Fabrik. So ist die Welt. Begreif’s, wer’s begreift! Die Leute haben Angst.«

»Warum hast du ihnen nicht die Wahrheit gesagt?«

»Welche Wahrheit?«

»Von dem Brief. Vielleicht hätte dann jemand vermutet, Fâtin und Hamîd wären noch in der Fabrik.«

»Als Fâtins drei Brüder zu uns kamen und mit meinem Mann sprachen, habe ich ihnen die ganze Geschichte zwischen den beiden erzählt. Und da glaubten alle, sie wären in eine andere Stadt geflohen. Es gab sogar das Gerücht, sie hätten das Land verlassen.«

Hamîd nahm Fâtin, die an der Wand lehnte, bei der Hand. Er versuchte, sie zu einem Rendezvous während der Ferien zu überreden. Aus dem Umkleideraum waren die Stimmen der Mädchen zu hören. Hamîd öffnete die Tür zur dritten Kammer mit Nähutensilien, zog Fâtin hinein und schloss leise die Tür. Mitten im Raum lag ein großer Haufen Uniformen, die wegen irgendwelcher Schnittfehler nicht zu gebrauchen waren. Sonst gab es nur noch ein paar Schachteln mit Nähutensilien: Fäden, große Stoffscheren und verschiedene Kleinigkeiten. Fâtin ließ sich auf die Uniformen fallen und Hamîd bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen, deren Genuss Fâtin sich hingab, immer darauf bedacht, ihre Seufzer zu unterdrücken. Plötzlich hörte sie Schritte, die sich auf dem Gang näherten.

Auch er habe die Schritte gehört, erzählte Soldat Hamîd al-Sajjid dem Militärgericht, und sich gemeinsam mit Fâtin unter dem Uniformenhaufen versteckt. Dann hätten die Schritte innegehalten, die Tür habe sich ein wenig geöffnet, eine Hand habe sich hereingeschoben, ohne dass jemand hereingekommen sei. Sie habe das Licht im finsteren Zimmer angemacht und danach gleich wieder gelöscht.

»Haben Sie die Hand gesehen? War es die Hand eines Mannes?«

»Das weiß ich nicht, ich habe die Hand nicht gesehen.«

»Woher wissen Sie dann, dass niemand ins Zimmer kam?«

»Ich habe das angenommen wegen dem Licht, das vom Flur hereinkam.«

»Und was geschah dann?«

»Jemand drehte den Schlüssel im Schloss und ging.«

»Und nun sagen Sie mir in Gottes Namen, wenn Sie denn einen Gott haben, haben Sie sie vergewaltigt?«

»Ich schwöre bei Gott, meinem allmächtigen Herrn, dass ich sie nicht vergewaltigt habe. Am dritten Tag waren wir am Verdursten. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, die Tür aufzubrechen. Und sie sagte, den Raum zu verlassen würde für uns ebenso den Tod bedeuten, wie darin zu bleiben. Wir müssten so oder so sterben. Dann bat sie mich, mit ihr zu schlafen.«

»Wussten Sie, dass sie noch Jungfrau war?«

»Ja, das wusste ich.«

»Hören Sie! Sie sind ein Satan, ein Mörder, ein Hund, ein Hurensohn. Sie hätten dort, in diesem Raum da, verdursten und verhungern sollen. Aber Satane wie Sie haben Glück. Ich könnte Ihnen hier und jetzt eine Kugel durch den Kopf jagen, und niemand würde mich zur Rechenschaft ziehen. Sie haben vom Fleisch und Blut einer Toten gelebt. War sie noch am Leben, als Sie Ihr zweites ekelerregendes Verbrechen begingen?«

»Ich schwöre Ihnen, Herr Richter, ich war nicht bei Bewusstsein. Sieben Tage waren wir schon in dem Zimmer eingesperrt. Und Fâtin lag tot da, mitten im Raum.«

»Aber der medizinische Bericht sagt, dass sie noch nicht tot war, als Sie ihr die Finger abgeschnitten haben.«

»Ich schwöre Ihnen, sie war tot. Ich war zu jenem Zeitpunkt vor Hunger, Durst und Erschöpfung nicht mehr in der Lage, die Augen zu öffnen. Ich habe versucht, etwas Urin zu trinken, aber …«

»Aber was? Sie haben von ihrem Blut getrunken. Nehmen wir an, Sie wären ein Mensch aus Fleisch und Blut, warum in Gottes Namen haben Sie dann gerade drei Finger von ihr gegessen? Warum nicht irgendeinen anderen Teil ihres Körpers?«

»Ich habe gedacht, vielleicht empfindet eine Tote ja auch noch Schmerz, dann aber vielleicht noch am wenigsten an den Fingern.«

»Hamîd al-Sajjid, haben Sie Fâtin Kâssim drei Finger von ihrer Hand abgeschnitten?«

»Ja, Herr Richter.«

»Haben Sie diese drei Finger mit einer Stoffschere abgeschnitten?«

»Ja, Herr Richter.«

»Haben Sie diese drei Finger gegessen?«

»Ja, Herr Richter.«

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