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Archiv und Wirklichkeit

Jeder, der ins Aufnahmezentrum für Flüchtlinge kommt, hat zwei Geschichten: eine, die der Wirklichkeit entspricht, und eine andere, die fürs Archiv gedacht ist. Diejenigen Geschichten, die fürs Archiv gedacht sind, werden von den Neuankömmlingen erzählt, um als Flüchtling aus humanitären Gründen anerkannt zu werden. Diese Geschichten werden bei der Befragung niedergeschrieben und in den Personalakten abgelegt. Die eigentlichen Geschichten bleiben in der Brust der Flüchtlinge verwahrt und können von ihnen ganz im Geheimen wieder und wieder vergegenwärtigt werden. Das heißt aber nicht, dass die Grenzen zwischen den beiden Narrativen leicht zu ziehen sind. Die beiden können sich bis zur Unkenntlichkeit vermischen.

Vor zwei Tagen kam wieder ein irakischer Flüchtling nach Malmö in Südschweden. Ein hagerer Mann Ende dreißig. Man brachte ihn in die Aufnahmestation und unterzog ihn einiger medizinischer Untersuchungen. Dann wies man ihm ein Bett in einem Zimmer zu und gab ihm ein Handtuch, ein Bettlaken, Seife, Löffel, Gabel und Messer und einen Topf zum Kochen. Heute sitzt dieser Mann vor dem Beamten vom Migrationsamt und erzählt ihm, trotz dessen Bitte, doch etwas langsamer zu reden, seltsam hastig seine Geschichte:

Sie haben mir gesagt, sie hätten mich an eine andere Gruppe verkauft. Sie waren ganz ausgelassen. Die ganze Nacht haben sie Whisky getrunken und herumgelacht. Sie haben mich sogar aufgefordert, mit ihnen zu trinken. Ich habe dankend abgelehnt und ihnen erklärt, ich sei praktizierender Muslim und hielte mich an die Vorschriften. Sie kauften mir neue Kleider, kochten mir zum Abendessen ein Huhn und stellten mir Früchte und Süßigkeiten hin. Offenbar hatten sie einen guten Preis für mich erzielt. Als sich der einäugige Führer der Gruppe von mir verabschiedete, vergoss er echte Tränen und umarmte mich wie einen Bruder: »Du bist ein anständiger Mann«, brachte er hervor, »ich wünsche dir alles Gute und ein erfolgreiches Leben.«

Ich glaube, bei dieser ersten Gruppe war ich nur drei Monate. Sie hatten mich in einer kalten, unheilvollen Nacht zu Beginn des Winters 2006 entführt. Wir hatten Anweisung erhalten, zum Tigris zu fahren, zum ersten Mal direkt vom Chef der Notfallabteilung im Krankenhaus. Am Ufer des Tigris standen Polizisten um sechs enthauptete Leichen. Die Köpfe hatte man in einen leeren Mehlsack gesteckt, der neben den Leichen stand. Die Polizisten vermuteten, es handle sich um religiöse Würdenträger. Wegen heftigen Regens hatten wir etwas länger gebraucht. Die Polizisten stapelten die Leichen in den Ambulanzwagen, den mein Kollege Abu Sâlim fuhr. Ich lud den Sack mit den Köpfen in mein Auto. Die Straßen waren leer, und die gespenstische nächtliche Stille Bagdads wurde nur von fernem Gewehrfeuer und dem Getöse eines amerikanischen Hubschraubers zerrissen, der über der Grünen Zone schwebte. Wir fuhren die Abu-Nuwâs-Straße entlang zur Raschîd-Straße, wegen des Regens nur mit mäßiger Geschwindigkeit. Beim Transport eines Verwundeten oder eines Todkranken ist die Geschwindigkeit des Ambulanzfahrzeugs ein Hinweis auf menschliches Verantwortungsbewusstsein. »Wenn man abgeschnittene Köpfe in einem Krankenwagen geladen hat, ist eigentlich nicht mehr als die Geschwindigkeit eines Maultierkarrens in einem finsteren Wald im Mittelalter vonnöten.« Das jedenfalls hörte man ständig vom Chef der Notfalleinheit im Krankenhaus, einem Mann, der sich selbst für einen Philosophen und einen Künstler hielt, aber, in seinen eigenen Worten, einfach im falschen Land geboren war. Trotzdem respektierte er seine Arbeit und hielt sie für die Erfüllung einer heiligen Pflicht. Die Abteilung für Ambulanzfahrzeuge in der Notfallabteilung zu leiten, hieß für ihn, Herr über die Trennlinie zwischen Leben und Tod zu sein. Bei uns hieß er immer »der Prof«, meine Kollegen mochten ihn überhaupt nicht und nannten ihn durchgeknallt. Ich wusste, woher diese Ablehnung kam. Seine unverständliche und aggressive Art zu reden machte ihn in den Augen anderer zu einem nicht ganz normalen Menschen. Doch ich hegte für ihn viel Respekt und Sympathie, weil ich seine Formulierungen faszinierend fand. Einmal sagte er: »Vergossenes Blut und dummes Gewäsch sind die Wurzeln der Welt. Wegen Brot, Liebe oder Macht zu töten, ist nicht dem Menschen vorbehalten. Auch die Tiere im Dschungel tun das auf verschiedene Art. Doch der Mensch ist das einzige Lebewesen, das um des Glaubens willen tötet.« Im Allgemeinen schloss er seine Äußerungen mit einem theatralischen Satz und wies dabei mit der Hand gen Himmel: »Das Problem des Menschen lässt sich nur durch permanente Angst lösen.« Mein Kollege Abu Sâlim war überzeugt, dass der Prof mit seinen gewalttätigen Äußerungen Verbindung zu terroristischen Gruppierungen haben müsse. Doch ich habe ihn, und zwar aus tiefster Überzeugung, immer verteidigt. Diese dämlichen Ambulanzfahrer verstanden eben nicht, dass er ein Philosoph war, der nicht wie sie den ganzen Tag nur dümmliche Witze riss. Ich prägte mir jeden seiner Sätze, jedes seiner Worte ein, gefangen von Freundschaft und Bewunderung.

Doch kehren wir zu jener Nacht zurück. Als wir Richtung Märtyrerbrücke abbogen, bemerkte ich, dass der von Abu Sâlim gelenkte Krankenwagen verschwunden war. Dann tauchte im Außenrückspiegel ein Polizeifahrzeug auf, das mich mit hoher Geschwindigkeit einholte und mitten auf der Brücke zum Halten zwang. Ihm entstiegen vier vermummte Männer in Uniformen der Sonderpolizeieinheiten, deren Anführer mir, die Pistole auf mein Gesicht gerichtet, auszusteigen befahl. Inzwischen zogen seine Kollegen den Sack mit den Köpfen aus dem Ambulanzfahrzeug.

Jetzt wurde ich entführt, und sie würden mir den Kopf abschneiden. Das war mein erster Gedanke, während sie mich fesselten und in den Kofferraum des Polizeiautos warfen. Doch es dauerte nur zehn Minuten, bis ich herausfand, was sie wirklich mit mir vorhatten. In dem dunklen Kofferraum sprach ich drei Mal den Thronvers. Ich hatte das Gefühl, meine Haut werde rissig. Aus irgendeinem Grund dachte ich in diesen finsteren Augenblicken an mein Körpergewicht. Um die siebzig Kilogramm. Wenn das Auto langsamer wurde oder abbog, wuchs meine Angst, wenn es dann wieder an Geschwindigkeit zulegte, durchzog mich ein seltsames Gefühl, eine Mischung aus Ruhe und Verunsicherung. Vielleicht dachte ich da ja an das, was der Prof über das Verhältnis von Geschwindigkeit und Tod gesagt hatte. Ich hatte nie recht verstanden, was er genau damit meinte. »Jemand, der im Wald stirbt, spürt die Angst schärfer als jemand, der in einem dahinrasenden Ambulanzfahrzeug umkommt«, sagte er immer. »Ersterer hat nämlich das Gefühl, mit der Zeit allein gelassen zu sein, während Letzterer wähnt, jemand sei mit ihm solidarisch. Gewiss ist das die Illusion von der Flucht in die Gegenrichtung.« Ich erinnere mich auch, dass er lächelnd erklärte: »Ich wünsche mir, meine letzten Züge in einem Raumschiff in Lichtgeschwindigkeit zu tun.«

Plötzlich sah ich, vor mir aufgehäuft, all die unbekannten und verstümmelten Leichen, die ich seit dem Fall von Bagdad in meinem Krankenwagen transportiert hatte. Dann stand in der Dunkelheit, die mich einhüllte, der Prof vor mir: Er zog meinen abgeschlagenen Kopf aus einem Müllhaufen, während meine Kollegen zotig über meine Sympathie für diesen Mann witzelten. Das Polizeiauto war noch nicht weit gefahren, als es anhielt. Sicher hatten wir die Stadt noch nicht hinter uns gelassen. Ich versuchte, mich an die 55. Sure, Der Barmherzige, zu erinnern. Doch sie holten mich raus und führten mich in ein Haus, in dem es nach gebratenem Fisch roch. Irgendwo weinte ein Kind. Sie entfernten mir die Binde von den Augen. Ich befand mich in einem völlig leeren, kalten Zimmer. Dann stürzten sich drei wild gewordene Gestalten auf mich und droschen auf mich ein. Danach war alles wieder finster.

Am Anfang hatte ich den Eindruck, einen Hahnenschrei gehört zu haben. Ich schloss die Augen, konnte aber nicht schlafen. In meinem linken Ohr spürte ich einen stechenden Schmerz. Mühsam drehte ich mich auf den Rücken und schob mich zum Fenster, das frisch verbarrikadiert war. Ich hatte fürchterlichen Durst. Dass ich mich in einem Haus in einem alten Bagdader Viertel befand, war leicht am Stil des Zimmers zu erkennen, besonders an der alten Holztür. Aber um ehrlich zu sein, ich weiß nicht recht, welche Einzelheiten meiner Geschichte Sie eigentlich so interessieren, damit ich in Ihrem Land als Flüchtling anerkannt werde. Mir fällt es sehr schwer, diese grauenvollen Tage zu beschreiben. Ich will aber doch noch ein paar Dinge erwähnen, die mir auch wichtig scheinen. Ich hatte das Gefühl, dass Gott und hinter ihm der Prof sich während meiner Heimsuchung nie von mir abgewendet haben. Gott war unverbrüchlich in meinem Herzen präsent. Er gab mir Sicherheit und rief mich zur Geduld. Der Prof hielt mein Gehirn beschäftigt und half mir über die Brutalität meiner Gefangenschaft hinweg. Er war mein Trost und meine Hoffnung. Während all dieser schwierigen Monate dachte ich daran, was er von seinem Freund, dem Ingenieur Dawûd, erzählt hatte. Er schien sich dafür zu interessieren, wie in der Welt alles miteinander verbunden ist, und wo die Macht und der Wille Gottes dabei stehen. Wir tranken zusammen am Tor zum Krankenhaus Tee, und der Prof erzählte: »Während mein Freund Dawûd das Auto der Familie durch Bagdad lenkte, schrieb ein irakischer Dichter in London einen feurigen Artikel zum Lob des Widerstands, auf dem Tisch vor sich eine Flasche Whisky, die sein Herz festigen sollte. Da nun auf der Welt über irgendwelche geheimen Kanäle – Gefühle, Wörter, Albträume – alles miteinander verbunden ist, sprangen aus dem Artikel drei vermummte Gestalten und hielten das Auto an. Sie töteten Dawûd, seine Frau, seinen kleinen Sohn und seinen Vater. Seine Mutter saß zu Hause. Sie wusste weder etwas von dem irakischen Dichter noch von den drei Männern. Sie wusste aber, wie man den Fisch zuzubereiten hatte, der auf alle wartete. Der Dichter schlief volltrunken auf seinem Kanapee in London ein, während Umm Dawûds Fisch kalt wurde und die Sonne in Bagdad verschwand.«

Die Tür ging auf, ein groß gewachsener, bleicher junger Mann kam herein. Er brachte etwas zum Frühstück, das er mir lächelnd hinstellte. Zunächst wusste ich nicht recht, was ich sagen oder tun konnte. Ich warf mich ihm zu Füßen und flehte unter Tränen: »Hören Sie, ich bin Vater von drei Kindern. Ich bin ein gottesfürchtiger Mensch und befolge die religiösen Pflichten. Ich habe nichts mit der Politik und nichts mit den religiösen Gruppierungen zu tun. Gott schütze euch! Ich bin nichts als ein Ambulanzfahrer, schon immer, vor der Besetzung Bagdads und seither. Ich schwöre es bei Gott und seinem edlen Propheten.« Der junge Mann legte den Finger auf den Mund und ging hinaus. Jetzt ist es aus mit mir, davon war ich überzeugt. Ich trank das Glas Tee und verrichtete mein Gebet, in der Hoffnung, Gott werde mir meine Sünden verzeihen. Bei der zweiten Niederwerfung hatte ich das Gefühl, ein eisiger Schwall überspüle mich. Fast hätte ich einen Angstschrei ausgestoßen. In diesem Augenblick öffnete der junge Mann wieder die Tür. Diesmal trug er einen Scheinwerfer auf einem Ständer. Er war in Begleitung eines Jungen mit einer Kalaschnikow, der neben mir Stellung bezog, die Waffe auf meinen Kopf gerichtet. So blieb er unbeweglich stehen. Ein fetter Mann in den Vierzigern kam herein, der aber überhaupt keine Notiz von mir nahm. Er hängte ein schwarzes Tuch an die Wand, auf dem ein Koranvers stand, der die Muslime zum Dschihâd aufrief. Dann kam eine weitere vermummte Gestalt mit einer Videokamera und einem kleinen Laptop herein. Ihm folgte ein Junge, der ein Holztischchen trug. Der Vermummte schäkerte mit ihm, kniff ihn in die Nase und dankte ihm. Er stellte den Laptop auf das Tischchen und machte sich daran, seine Kamera gegenüber dem schwarzen Transparent aufzustellen. Der hagere junge Mann testete drei Mal hintereinander sein Beleuchtungsgerät, dann ging er hinaus.

»Abu Dschihâd …! Abu Dschihâd …!«, schrie der fette Mann.

»Einen Augenblick!«, hörte man den jungen Mann außerhalb des Zimmers rufen. »Ich komm gleich, Abu Arkân!«

Dann kam er zurück, diesmal beladen mit dem Sack mit den Köpfen, den sie aus dem Ambulanzfahrzeug geholt hatten. Der Gestank war bestialisch, alle hielten sich die Nase zu. Der fette Mann befahl mir, mich vor das schwarze Transparent zu setzen. Meine Beine versagten den Dienst, aber der fette Mann zerrte mich am Kragen hoch. Dann kam noch jemand herein, ein einäugiger Mann, eine mächtige Gestalt mit einer Uniform über dem Arm. Er befahl dem Fetten, mich sofort loszulassen, setzte sich neben mich und legte mir wie ein Freund den Arm um die Schulter. »Keine Angst«, sagte er. Sie würden mich nicht abschlachten, ich würde ja mit ihnen zusammenarbeiten und hätte ein gutes Herz. Ich verstand nicht recht, was das heißen sollte, ich hätte ein gutes Herz, aber er versicherte mir, in ein paar Minuten sei alles vorbei. Der Einäugige zog einen Zettel aus der Tasche und gab ihn mir zum Lesen. Währenddessen machte sich der Fette daran, die übel riechenden Köpfe aus dem Sack zu holen und sauber vor mir aufzureihen. Auf dem Zettel stand, ich wäre Offizier in der irakischen Armee, und diese Köpfe da gehörten anderen Offizieren. Ich wäre mit meinen Kollegen in fremde Häuser eingedrungen, wir hätten Frauen vergewaltigt und unschuldige Bürger gequält. Von einem hohen Offizier in der amerikanischen Armee hätten wir Tötungsbefehle erhalten, und zwar gegen eine stattliche Belohnung. Der Einäugige hieß mich die Uniform anziehen, und der Fotograf befahl allen, sich hinter die Kamera zurückzuziehen. Dann machte er sich daran, meinen Kopf zurechtzurücken wie ein Friseur, danach auch die Köpfe, die vor mir lagen. Schließlich bezog er hinter der Kamera Stellung und rief: »Aufgepasst!«

Die Stimme des Kameramannes war Balsam für meine Ohren. Sie klang wie die eines bekannten Schauspielers oder wie die des Profs, wenn er sich Mühe gab, ruhig zu reden. Nach der Videoaufnahme sah ich erst einmal niemanden mehr aus der Gruppe außer dem jungen Mann, der mir Essen brachte und mir verbot, Fragen zu stellen. Jedes Mal, wenn er mit etwas Essbarem kam, wusste er einen neuen Witz über Politiker oder religiöse Führer zu erzählen. Mein einziger Wunsch wäre gewesen, mit meiner Frau zu telefonieren. Ich hatte für den Fall der Fälle etwas Geld beiseitegelegt und so versteckt, dass es nicht einmal ein Dschinn finden würde. Doch sie blieben unerbittlich. Der einäugige Anführer der Gruppe hatte mir erklärt, alles Weitere hänge vom Erfolg des Videos ab. Und dieser stellte sich tatsächlich zur allgemeinen Überraschung umgehend ein. Al-Dschasîra sendete das Video. Ich durfte es sogar im Fernsehen anschauen. Alle hopsten vor Freude herum. Der Fette küsste mich sogar auf den Kopf und versicherte mir, ich sei ein hervorragender Schauspieler. Wütend machte mich aber, dass der Nachrichtensprecher bei al-Dschasîra seinen Zuschauern weismachte, der Sender habe sich über verlässliche Quellen von der Authentizität des Films überzeugen können. Das Verteidigungsministerium habe das Verschwinden der Offiziere bestätigt. Nach dem Erfolg der Ausstrahlung des Videofilms behandelten sie mich mehr als gut. Sie sorgten sich um mein Essen und meine Schlafstätte und erlaubten mir, mich zu duschen. Ihre Krönung erfuhr diese zuvorkommende Behandlung in der Nacht, als sie mich an eine andere Gruppe weiterverkauften. Drei Vermummte aus jener Gruppe kamen ins Zimmer und fielen, nachdem sich der Einäugige herzlich von mir verabschiedet hatte, über mich her und verprügelten mich. Danach fesselten und knebelten sie mich und stopften mich in den Kofferraum eines Autos, das losraste.

Diesmal fuhren wir lange. Möglicherweise bis in die Außenbezirke von Bagdad. Jedenfalls holten sie mich in einem tristen Dorf, in dem überall jaulende Hunde herumstreunten, aus dem Auto und sperrten mich in einen Stall. Zwei Männer bewachten mich abwechselnd Tag und Nacht. Ich weiß nicht, warum sie mich, offenbar vorsätzlich, hungern ließen und mich demütigten. Sie waren völlig anders als die erste Gruppe. Dauernd vermummt, sprachen sie kein einziges Wort mit mir und verständigten sich untereinander mit Zeichen. Auch aus dem Dorf vernahm man während des ganzen Monats, den ich in diesem Stall zubrachte, keinen einzigen menschlichen Laut. Nur das Kläffen der Hunde war zu hören. Die Stunden vergingen schwer und zäh. Ich wünschte mir, irgendetwas würde geschehen und ein wenig Abwechslung in diese endlose Gefangenschaft mit drei Kühen bringen. Bald hörte ich auf, darüber nachzudenken, welcher religiösen Gruppierung oder welcher politischen Partei diese Leute angehörten. Ich hörte auf, mein Schicksal zu beklagen. Was sich da ereignete, musste ich schon einmal erlebt haben, und zwar vor gar nicht so langer Zeit, ja, nur vor einem Weilchen. Doch diesmal schien alles so langsam und durcheinander. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, einen Fluchtversuch zu unternehmen oder auch nur zu fragen, was sie eigentlich von mir wollten. Ich hatte da offenbar eine Aufgabe zu erfüllen, eine schwere Aufgabe, der ich mich völlig hingeben musste. Vielleicht gab es ja wirklich eine verborgene Kraft, die sich mit einer menschlichen Kraft zusammenspannte bei der Abwicklung eines geheimnisvollen Spiels, dessen Ziele jenseits der Vorstellungskraft eines einfachen Menschen wie mir lagen. »Jeder Mensch hat neben einer menschlichen Aufgabe auch eine poetische«, wie der Prof immer sagte. Wenn das aber stimmte, wie konnte ich hier so einfach die Grenzen zwischen menschlicher und poetischer Pflicht erkennen? Mir leuchtet beispielsweise ein, dass die Sorge für Frau und Kinder zu den menschlichen Pflichten gehört, die Ablehnung des Hasses dagegen zu den poetischen. Aber warum hat dann der Prof immer gesagt, dass wir die beiden Pflichtarten durcheinanderbringen und nicht zugeben wollen, dass der satanische Teil beide treibt. Denn zu den satanischen Pflichten gehört die Fähigkeit, einem Menschen gegenübertreten zu können, wenn er seine Menschlichkeit zum Abgrund stößt. Das ist zu viel für einen einfachen Geist wie mich, der mit Mühe einmal seine Mittelschule abgeschlossen hat, glaube ich wenigstens.

Mein bisheriger Bericht hat aber nichts mit meinem Gesuch um Anerkennung als Flüchtling zu tun. Was Sie interessiert, ist ja das Entsetzen. Und wenn der Prof hier wäre, würde er behaupten, dass das Entsetzen im einfachsten Rätsel verborgen ist, das in einem kalten Stern am Himmel über dieser Stadt leuchtet. Schließlich kamen sie einmal nach Mitternacht. Einer der beiden Vermummten breitete in einer Ecke des Stalls einen prächtigen Teppich aus. Sein Kollege hängte ein schwarzes Transparent auf, auf dem stand: Gemeinschaft Islamischer Dschihâd. Irakischer Zweig. Dann kam der Fotograf mit seiner Kamera herein, und ich hätte schwören können, dass es derselbe war, der mich schon bei der ersten Gruppe gefilmt hatte. Er machte genau dieselben Handgriffe. Aber auch er verständigte sich, wie die anderen, nur mit Zeichen. Sie verlangten von mir, eine weiße Dischdâscha anzuziehen und mich vor das schwarze Transparent zu setzen. Man reichte mir ein Stück Papier und befahl mir, vorzutragen, was darauf stand: dass ich zur Armee des Mahdi gehörte und ein berühmter Schlächter wäre, der schon Hunderte von sunnitischen Männern geköpft hat. Wir würden iranische Unterstützung erhalten. Doch noch bevor ich den ganzen Text vorgetragen hatte, muhte eine der Kühe laut und deutlich, weshalb der Kameramann eine Wiederholung der Aufnahme verlangte. Einer der Männer trieb die drei Kühe hinaus, damit wir die ganze Prozedur ungestört durchziehen konnten.

Erst später wurde mir klar, dass mich alle meine Käufer über die Märtyrerbrücke fuhren. Warum, weiß ich nicht. Die einen brachten mich nach Karch am Westufer, die anderen zurück nach Russâfa am Ostufer. Ich glaube aber, so wird meine Geschichte nie enden, und fürchte, Sie werden darauf reagieren wie andere zuvor. Darum scheint es mir am besten, die Geschichte für Sie zusammenzufassen, ehe Sie mir vorwerfen, ich hätte sie erfunden: Sie haben mich an eine dritte Gruppe weiterverkauft. Das Auto raste ein weiteres Mal über die Brücke. Ich wurde in ein unanständig reiches Haus gebracht. Diesmal war mein Gefängnis ein Schlafzimmer mit einem hübschen, bequemen Bett dieser Art, wie sie von Filmhelden zur Abwicklung ihrer Sexualaktivitäten verwendet werden. Meine Angst verzog sich, an ihre Stelle trat der Gedanke an eine geheimnisvolle Pflicht, für die sie mich ausersehen hatten und die ich erfüllte, um nicht meinen Kopf zu verlieren. Ich dachte aber auch daran, sie zu testen. Nach der Aufnahme eines weiteren Videos, auf dem ich von meiner Zugehörigkeit zu den sunnitisch-islamistischen Gruppierungen erzählte und davon, wie ich Moscheen und Märkte in einfachen schiitischen Vierteln hatte hochgehen lassen, bat ich sie um ein paar Groschen Honorar. Ihre klare Antwort darauf war eine Tracht Prügel, die ich nicht so rasch vergessen werde. Von meiner Entführung an wurde ich anderthalb Jahre von Unterschlupf zu Unterschlupf gebracht. Man nahm Videos von mir auf, in denen ich von meiner Zugehörigkeit zu den verräterischen Kurden, den gottlosen Christen oder den saudischen Terroristen, den baathistisch-syrischen Geheimdiensten oder gar zu den iranisch-zoroastrischen Revolutionsgarden erzählte. Auf diesen Filmstreifen tötete, mordete und brandschatzte ich, ich ließ Häuser hochgehen und beging Verbrechen, die sich kein normaler Mensch vorstellen kann. Und alle diese Videoclips wurden auf den Fernsehkanälen der Welt ausgestrahlt. Experten, Journalisten und Politiker diskutierten, was ich gesagt und getan hatte. Ein einziges Mal hatten wir Pech: mit der Aufnahme des Videos, in dem ich als spanischer Soldat auftrete, dem ein Widerstandskämpfer ein Messer an den Kopf hält und von den spanischen Einheiten verlangt, aus dem Irak abzuziehen. Alle Fernsehstationen verweigerten die Ausstrahlung, denn die spanischen Einheiten hatten das Land schon ein Jahr zuvor verlassen. Fast hätte ich den Preis für diesen Schnitzer zahlen müssen. Die Gruppe wollte mich aus Rache für das Geschehene umbringen. Doch dann rettete mich kein anderer als der Kameramann, der ihnen einen weiteren großartigen Vorschlag machte. Das war zugleich der Abschluss meiner Videorollen: Sie ließen mich die Uniform eines Afghanistankämpfers anziehen, stutzten mir den Bart und setzten mir einen schwarzen Turban auf. Fünf stellten sich hinter mich. Sie brachten sechs Männer, die, vergeblich, schrien und Gott und den Propheten und dessen Familie um Hilfe anflehten. Sie wurden vor meinen Augen wie Schafe abgeschlachtet, und ich hatte zu erklären, ich wäre das neue Oberhaupt der al-Kâïda-Organisation im Zweistromland. Außerdem stieß ich Drohungen gegen alle und jeden aus.

Irgendwann mitten in der Nacht brachte mir der Fotograf meine alten Kleider wieder und führte mich zu dem Ambulanzfahrzeug, das vor der Tür stand und in das sie einen Sack mit den sechs abgeschlagenen Köpfen warfen. Während ich die Bewegungen des Videofilmers beobachtete, war ich plötzlich fast überzeugt, dass er für alle Gruppen arbeitete. Vielleicht war er ja gar der führende Kopf bei diesem schrecklichen Spiel. Ich setzte mich hinters Steuer, meine Hände zitterten. Da kommandierte der Fotograf hinter seiner Vermummung hervor: »Du kennst den Weg … Über die Märtyrerbrücke … zum Krankenhaus.«

Wegen allen beantrage ich in Ihrem Land Asyl. Sie alle sind Mörder und Verschwörer, meine Frau und meine Kinder, meine Nachbarn und meine Kollegen, Gott, sein Prophet, die Regierung und die Presse, auch der Prof, den ich für einen Engel hielt, obwohl ich mich jetzt frage, ob er nicht sogar der Fotograf dieser terroristischen Gruppierungen war. Seine mysteriösen Sentenzen waren vielleicht nichts als ein Hinweis auf seine dreckige Zusammenarbeit. Alle behaupteten, ich wäre keine anderthalb Jahre von meiner Arbeit weg gewesen, sondern am Tag nach dieser regnerischen Nachtschicht zur Arbeit zurückgekehrt. »Die Welt ist nur eine virtuelle blutige Geschichte. Wir sind darin alle Mörder und Helden«, dozierte der Prof, »und diese sechs Köpfe da sind kein ausreichender Beweis für das, was du erzählst, und auch nicht dafür, dass sich die Nacht nicht am Abend herniedersenkt.«

Drei Tage nachdem diese Geschichte im Archiv des Migrationsamtes deponiert worden war, brachte man ihren Erzähler in die psychiatrische Klinik, und noch bevor der Arzt beginnen konnte, ihn nach Erinnerungen aus seiner Kindheit zu befragen, fasste der Fahrer des Krankenwagens seine wirkliche Geschichte mit vier Worten zusammen:

»Ich möchte gern schlafen.«

Er sagte es bittend, ja demütig flehend.

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