Читать книгу: «Der Verrückte vom Freiheitsplatz», страница 3

Шрифт:

Truppenzeitung

Den Toten des irakisch-iranischen Krieges (1980–1988)

Wir werden auf den Friedhof gehen, ins Leichenschauhaus. Wir werden die Hüter der Vergangenheit um Erlaubnis bitten. Wir werden den Toten nackt herausholen und ihn in einen öffentlichen Park bringen. Wir werden ihn auf eine Bank setzen unter eine satt orangerote Sonne. Wir werden versuchen, seinen Kopf zu stabilisieren. Eine Fliege oder ein anderes Insekt summt um ihn herum. Doch Fliegen umsummen gerecht und gleichermaßen Lebendige und Tote. Wir werden ihn inständig bitten, uns nochmals die Geschichte zu erzählen. Man muss ihm nicht in die Eier treten, damit er ehrlich und anständig erzählt. Tote sind im Allgemeinen anständig, sogar die Schurken unter ihnen.

Danke, lieber Autor, dass Sie die Fliege von meiner Nase verscheuchen und mir diese sonnige Gelegenheit bieten. Ich bin mit Ihnen nicht einig, wenn Sie mich einen Schurken nennen und so den Lesern Furcht vor mir einflößen. Lassen Sie sie selbst entscheiden, ich bitte Sie, und werden Sie nicht zum räudigen Hund. Herzlichen Glückwunsch, dass Sie noch leben. Nur, mischen Sie sich nicht ins Wesen des Tieres, zu dessen Gattung sie gehören.

Euer Ehren, vor zehn Jahren, also bevor ich mein Leben abschloss, arbeitete ich für eine Truppenzeitung. Ich war verantwortlich für die Kulturseite, deren besonderes Interesse den Kriegsgeschichten und der Kriegspoesie galt. Ich führte ein solides Leben, hatte ein Töchterchen und eine treue Ehefrau, die hervorragend kochte und sich schließlich sogar bereit erklärt hatte, mir vor jedem Beischlaf den Schwanz zu lutschen. Meine Arbeit brachte mir zahlreiche Belohnungen und Geschenke ein, die insgesamt mehr wert waren als mein Monatssalär. Mein Chef meinte, ich wäre genial und als Einziger imstande, durch eine unermüdliche und nie erlahmende Kampffantasie die Kulturseite zu beleben. Ich erwarb mir sogar den Respekt und die Wertschätzung des Kulturministers, der mir insgeheim versprach, den Chefredakteur abzuservieren und mich an seine Stelle zu setzen. Ich war weder so genial noch so schurkisch, wie mich der Autor dieser Geschichte darstellen möchte. Ich war ein zielbewusster und ehrgeiziger Mann, der davon träumte, einmal den Posten des Kulturministers innezuhaben. Deshalb widmete ich mich in jenen Tagen voll und ganz meiner Arbeit. Im Schweiße meines Angesichts edierte, redigierte und korrigierte ich, geduldig wie ein Bäcker, meine Kulturseite. Aber nicht doch, Euer Ehren, ich habe nie Texte zensiert, wie Sie vielleicht glauben. Die schreibenden Soldaten waren immer strenger und disziplinierter als jedweder mir je bekannt gewordene Zensor. Sie haben jedes Wort präzisiert, alle seine Buchstaben unters Mikroskop gelegt. Sie waren natürlich nicht so blöd, mir weinerliches Geschreibsel zu schicken, Sätze voller Heulen und Zähneklappern. Manche schrieben, um nicht glauben zu müssen, sie könnten getötet werden, und der Krieg sei sowieso nur ein Machwerk der Presse. Andere waren an materiellen und ideellen Vorteilen interessiert. Und dann gab es welche, die zum Schreiben gezwungen wurden. All das interessiert mich jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich reue- und sogar furchtlos. Die Toten, Euer Ehren, leiden nicht mehr an ihren Verbrechen und sehnen sich, wie Sie wissen, nicht mehr nach dem Glück. Wenn wir hin und wieder das Gegenteil hören, so sind das nur törichte, religiöse, poetische Übertreibungen, lächerliche Parolen ohne Bezug zu den einfachen Tatsachen der Toten.

Ich gebe ja zu, dass ich häufig in die Struktur eingriff, in Bau und Gestaltung der Erzählungen und der Gedichte, und dass ich nach Möglichkeit versuchte, die verwendeten Bilder auszugestalten, die von der Front immer mit zu viel schwarzer Fantasie kamen. Was um Himmels willen sollte es heißen, wenn einer, während wir in einem Dichterkrieg versanken, formulierte: »Ich hatte das Gefühl, dass der Artilleriebeschuss heftig wie ein Regen niederprasselte, doch wir waren furchtlos …« Ich strich das und ersetzte es durch: »Ich hatte im Artilleriefeuer das Gefühl, einem Sternenregen beizuwohnen, wir taumelten wie Liebende über die Heimaterde.« Das nur als kleines Beispiel für meine bescheidenen Eingriffe.

Die Wende kam, Euer Ehren, als in der Redaktion fünf Erzählungen eintrafen, angeblich verfasst von einem Soldaten innerhalb eines einzigen Monats, jede in ein dickes, buntes Schulheft geschrieben. Auf dem Umschlag jedes dieser Hefte waren Name, Klasse und Schule im vorgesehenen Karo ordentlich eingetragen. Dabei ging keine Klasse über die Grundschulstufe hinaus. Außerdem trug jedes Heft einen anderen Namen. Jede Erzählung bot die Geschichte eines Soldaten, der den auf dem Umschlag genannten Namen trug, und alle diese Texte waren in einer erstaunlich kunstvollen, gehobenen Sprache verfasst. Ja, ich würde behaupten, dass die internationale Romanliteratur vor diesen Erzählungen aus nichts als leerem Gefasel bestand, zwergenhaft angesichts des Grandiosen, was jener Soldat verfasst hatte. Nur, vom Krieg war darin nicht die Rede. Die Helden waren einfach friedliebende Soldaten, die Geschichten lieferten, brutal und glasklar, Einsichten in geschlechtliche Wesen aus einem Blickwinkel, der gleichzeitig kindlich und satanisch war. Man konnte darin von Soldaten lesen, die in voller Militärmontur mit ihren Schätzchen in öffentlichen Parks und am Flussufer rummachen und scherzen; von Soldaten, die die Schenkel der Huren als Marmorbögen sehen, an denen sich milchweiße, traurige Pflanzen emporranken; von Soldaten, die, den Kopf an weiche Frauenbrüste gelehnt, den Himmel in kurzen, lasziven Sätzen beschreiben. Es waren zauberhafte Hymnen an Körper, die Wasserrosen emporsickern ließen.

Ich erkundigte mich sofort und gierig nach dem Frontabschnitt, an dem dieser Soldat kämpfte, und nach der Einheit, in der er Dienst tat, und erfuhr, dass sein Bataillon, wenige Tage bevor die Erzählungen weggeschickt worden waren, einem verheerenden feindlichen Angriff ausgesetzt war und dabei schreckliche Verluste an Mannschaft und Material erlitten hatte. »Du hast ein Panzerhirn, lieber Kollege!«, meinte ein Kollege, Herausgeber der Seite »Mut und Medaillen«, bei unserer Zeitung, sooft er mich sah. Und an diesen Ausdruck erinnerte ich mich, als ich spürte, dass in den goldenen Drähten meines Gehirns eine Idee aufschien, während ich diese Wunderhefte durchblätterte. Ich beschloss, an den Soldaten zu schreiben und ihm klar und unmissverständlich zu drohen: Er stelle sich gegen die Partei und müsse dafür möglicherweise bald vor Gericht erscheinen und werde vielleicht sogar zum Tode verurteilt; seine Erzählungen wichen vorsätzlich und eindeutig von der Parteilinie über den gerechten Krieg ab. Ich wollte ihm die übliche, wohlbekannte Soldatenangst einjagen und riet ihm, die Sache mit den Erzählungen zu vergessen, sich bei mir zu entschuldigen und mich reuevoll zu bitten, das Geschreibsel zu vernichten und ihm sein schändliches Tun zu verzeihen, das nicht wieder vorkommen sollte. Ich wüsste dann schon, was mit diesen bemerkenswerten Menschenepen zu machen sei. Ich bezweifle, dass selbst ein großer Romancier von mehr als fünf Romanen dieses Kalibers, dieser Originalität auch nur träumen kann, dieser Sprache aus Traum und Wirklichkeit, die den zehnten Rang der Sprache erreicht, den Rang des Feuers, dem der Teufel entspringt.

Der Himmel war nicht fern, er trat mir rasch zur Seite. Schon nach einer Woche erhielt ich vom angeschriebenen Bataillon eine Depesche, in der mir mitgeteilt wurde, Soldat X sei bei dem jüngsten Angriff gefallen, aus seinem Trupp habe niemand überlebt. Vor Glück wäre ich fast in Tränen ausgebrochen. Was für ein Geschenk des Schicksals! In einem unbeschreiblichen Taumel las ich den Namen des gefallenen Soldaten wieder und wieder.

Euer Ehren, fünf Monate nach der Publikation der ersten Erzählung unter meinem Namen – ich hatte ihr einen neuen Titel gegeben – reiste ich durch die Länder dieser Welt, um meinen neuen Roman vorzustellen, in Studienzirkeln, wo mich die berühmtesten Kritiker und Denker einführten. Die größten internationalen Zeitungen und Kulturjournale beschäftigten sich mit mir. Ich fand nicht einmal mehr genug Zeit, alle Fernseh- und Radiotermine wahrzunehmen. Die Kritiker hierzulande schrieben lange Studien über unseren gerechten Krieg, der im Menschen eine solche schöpferische Kraft, eine solche Liebe und einen solchen poetischen Elan freisetzen könne. An verschiedenen Universitäten des Landes wurden zahlreiche Master- und Doktorarbeiten verfasst, in denen Forscher allen poetischen und menschlichen Windungen in meinem Text nachspürten. Sie sprachen über den Einklang von Munition und Sperma, vom Dröhnen der Flugzeuge und den Erschütterungen des Bettes, vom Kuss und dem Granatsplitter, vom Geruch des Pulverdampfs und dem des weiblichen Geschlechtsteils. Dies alles, obwohl im Text nirgends von Krieg die Rede war. Nach meiner Rückkehr nach Hause wurde mir im Rahmen einer prächtigen Zeremonie das Amt des Kulturministers übertragen, einfach so. Ich ließ mir Zeit mit der Publikation der vier noch verbliebenen Romane. Der erste hatte noch längst nicht ausgedient. Ich besorgte mir eine neue Ehefrau, eine neue Wohnung und ein neues Auto und beschaffte mir all die Dinge, die ich mir schon immer gewünscht hatte. Man kann durchaus sagen, dass ich mich vor dem Krieg in Ehrfurcht verneigte und dankbar meine Hände zum Himmel erhob ob der Wohltat und der unschätzbaren Gaben. Ich war überzeugt, der Nobelpreis für Literatur werde nach der Veröffentlichung der fünften Erzählung hier auf meinem Ministerschreibtisch liegen. Das Glück hatte seine Tore geöffnet, wie man so sagt.

Bis eines Tages drei große Pakete eintrafen – von der Front an meine Adresse im Ministerium. Sie enthielten zwanzig Erzählungen, und der Absender war jener selbe Soldat. Alles war wie gehabt: Schulhefte, Namen von Soldaten auf Grundschulniveau, Geschichten von Liebe und Schicksal. Im ersten Augenblick war ich völlig fassungslos, doch diese Fassungslosigkeit verwandelte sich gleich darauf in eiskaltes Entsetzen. Ich packte die Texte und verlangte vom Verantwortlichen für das Magazin des Ministeriums die Schlüssel für einen der Lagerräume, wo ich die Erzählungen klammheimlich versteckte. Danach unternahm ich verschiedene Schritte, um den Soldaten ausfindig zu machen. Alle Meldungen kamen direkt in mein Büro im Ministerium, und alle bestätigten den Tod des Mannes. Es waren schreckliche Tage. Und gleich am nächsten trafen weitere Pakete mit weiteren, noch zahlreicheren Geschichten ein. Wiederum die gleiche Art Paket, und wiederum vom selben Soldaten. Auch diese Romane deponierte ich in dem Lagerraum, an dessen Tür ich zusätzliche Schlösser anbringen ließ. Erbarmungslose Monate gingen ins Land, Euer Ehren, während derer ich vollauf damit beschäftigt war, die Hefte zu verstecken, die auf seltsame Weise unablässig hereinfluteten, und nach dem Soldaten Ausschau zu halten, von dem es frontauf, frontab keine Spur gab. Inzwischen war die zweite Erzählung erschienen, und ich erhielt sogar Anrufe vom Präsidenten, vom Verteidigungsminister und anderen hohen Politikern, die meine Aufrichtigkeit und meine Genialität in den höchsten Tönen priesen. Einladungen regneten aus dem Ausland auf das Ministerium hernieder, aber dieses Mal lehnte ich alle ab und brachte als Erklärung vor, das Land sei teurer und wichtiger als alle Preise und Kongresse dieser Welt. Unter den schwierigen gegenwärtigen Umständen bedürfe das Land aller seiner rechtschaffenen Söhne. In Wirklichkeit wollte ich nur eine Lösung für die Geschichten finden, die jeden Morgen in schwindelerregender Zahl wie ein Heuschreckenschwarm über das Büro hereinbrachen: Heute hundert, morgen zweihundert, und so fort.

Euer Ehren, fast hätte mich mein Panzerhirn verlassen. Schließlich erhielt ich die Adresse vom Zuhause des Soldaten. Ich besuchte seine Familie und überzeugte mich von seinem Ableben. Die Mutter erzählte mir, sie habe gar nicht glauben können, dass er tot war. Er habe nur ein winziges Loch in der Stirn gehabt. Die Kugel eines Scharfschützen. Von seiner Frau erhielt ich die Angaben über sein Grab und ließ der Familie etwas Geld da. Weitere Lagerräume des Ministeriums füllten sich mit Heften. Wie sollte ich der Partei und der Regierung je plausibel machen, ich hätte alle diese Texte geschrieben? Und warum in Schulhefte? Und warum mit Namen von Soldaten in der Grundschule? Und warum bewahrte ich sie auf diese Weise auf? Es gab Dutzende von Fragen und keine einzige einleuchtende Antwort.

Irgendwo am Rand der Stadt kaufte ich mir alte Mehlspeicher, in der Annahme, der Zustrom von Heften werde andauern. Ich bezahlte drei Arbeitern des Ministeriums horrende Summen, damit sie mir halfen, das Grab des Soldaten zu öffnen. Er lag da, verwesend und mit einem Loch in der Stirn. Ich schüttelte ihn mehrfach, um ganz sicherzugehen, dass er tot war. Ich flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann schrie ich ihn an und beschimpfte ihn unflätig, damit er endlich den Mund aufmachte oder wenigstens den kleinen Finger rührte. Aber er war tot, mausetot. Aus seinem Nacken kroch eine Made, verfolgt von einer zweiten. Beide verschwanden rasch wieder an seiner Schulter.

Euer Ehren, vielleicht glauben Sie ja diese Geschichte nicht. Aber ich schwöre Ihnen bei Ihrer Allmacht, dass sich die Mehlspeicher und die Lagerräume des Kulturministeriums im Lauf eines Jahres mit den Texten des Soldaten füllten. Natürlich konnte ich unmöglich alle lesen. Ich fischte mir lediglich ein Spezimen aus jedem Packen heraus, und ich schwöre Ihnen, dass sie nicht nur zahlenmäßig mehr wurden, sondern auch immer brillanter und origineller. Aber ich zitterte und spürte, dass das Ende nahte, wenn diese Geschichtenflut nicht innehielt. Gewiss, ich ließ keinen möglichen oder unmöglichen Weg aus, Auskünfte einzuholen und Nachforschungen anzustellen. Ich erkundigte mich nach den Poststellen, an denen die Pakete aufgegeben wurden. Es waren, unter Verwendung des immer gleichen Namens, verschiedene Orte an der Front. Von der Person aber gab es keine Spur. Irgendwann einmal musste ich aber meine Ermittlungen einstellen, damit die Sache nicht aufflog.

Nochmals ging ich zum Grab des Soldaten und verbrannte seine Leiche. Dann trennte ich mich von meiner zweiten Frau und gab meine Arbeit auf. Ein Psychiater hatte mir attestiert, dass mein Gesundheitszustand immer mehr zu wünschen übrig lasse. Ich packte alle Hefte mit den Geschichten aus den Lagerräumen des Kulturministeriums und den ehemaligen Mehlspeichern zusammen und kaufte mir ein abgelegenes Grundstück. Dort errichtete ich mir einen privaten Verbrennungsofen, einen großen Speicher, ein Zimmer und einen Abort. Das Ganze umgab ich mit einer hohen Mauer. Ich war überzeugt, die Hefte würden weiterhin, auch an meine neue Adresse, hereinfluten. Aber diesmal war ich vorbereitet. Es geschah wie erwartet, vom ersten Morgen auf meiner »Farm« an arbeitete ich Tag und Nacht hart und intensiv daran, die Geschichten und Namen der Soldaten in den bunten Schulheften zu verbrennen, immer in der Hoffnung, einmal werde der Krieg enden und mit ihm dieser Wahnsinn aus kakifarbenem Sperma.

Nach langen, schrecklichen Jahren hörte der Krieg auf, Euer Ehren, aber ein neuer begann, und mir blieb keine andere Wahl, als weiter zu verbrennen. Seien Sie gnädig und nachsichtig.

Euer Ehren.

Jetzt, bevor man mich in das Leichenschauhaus zurückbringt. Ich weiß, dass Sie fähig und weise und wissend und großmütig sind, aber haben Sie auch bei einer Truppenzeitung gearbeitet? Warum haben Sie einen Brennofen für ihre Romanmenschen?

Alis Tasche

Als in Bagdad das Denkmal des Diktators stürzte, kam es im Fernsehraum zu einer bösartigen Auseinandersetzung. Sechs junge Sudanesen begannen eine Prügelei mit einer Gruppe Iraker, die den Sturz des Diktators feierten. »Die Amisoldaten werden eure Frauen vögeln. Warum freut ihr euch darüber?« Diese Äußerung eines Sudanesen namens Jûssuf hatte den Funken entzündet.

Die Afghanen und ein paar Nigerianer versuchten, die Streithähne zu trennen. Die Iraner verließen den Raum und schauten lieber durchs Fenster zu. Es floss viel Blut. Einer der Sudanesen musste bewusstlos ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem ihm jemand den Schädel eingeschlagen hatte. Als die Ordnungshüter eintrafen, stank es im Raum bestialisch und das Mobiliar war zertrümmert. Ich betrachtete, kalt und distanziert, von der Tür aus die Schlägerei. Seit über drei Jahren war ich nun schon im Aufnahmezentrum für Flüchtlinge in der kleinen italienischen Stadt und hatte schon so manche böse Streiterei miterlebt. Solche Streitereien brachen aus wegen Waschpulver oder wegen Frauenunterwäsche. Letzteres geschah beispielsweise, als die Kurdin Barwên ihren kurdischen Mitflüchtlingen erzählte, einen jungen Pakistaner dabei beobachtet zu haben, wie er ihre Unterwäsche von der Leine klaute. Das löste einen Ehrenhändel zwischen den Pakistanern und den Kurden aus, der erst nach drei Tagen zu Ende ging, nachdem der Chef des Zentrums die Polizei zu Hilfe gerufen hatte, da das Wachpersonal der Lage nicht Herr wurde.

Was bei dieser Schlägerei im Fernsehraum meine Neugier weckte, war Ali Basrâwi. Er saß, seine Tasche fest an sich gedrückt, mit einem irren Grinsen in einer Ecke des Zimmers. Dieser sanfte junge Mann hatte sich seit seiner Ankunft sehr verändert. Ich lud ihn am Abend zu einem Kaffee in mein Zimmer ein, um mehr über ihn zu erfahren und mich von ihm zu verabschieden. Er hatte beschlossen, nach Finnland weiterzuziehen, eine Entscheidung, die mich nicht so recht überzeugte. Ich riet ihm, doch lieber nach Deutschland oder in ein anderes Land zu gehen, wo die Chancen vielleicht besser wären, Arbeit zu finden. Wir unterhielten uns lange: über seine Träume, seine Ängste, seine Pläne. Er erzählte mir, er könne die Stimme seiner Mutter hören. Sie habe liebevoll zu ihm gesprochen und ihm Ratschläge erteilt, aber sie habe ihn auch dafür getadelt, was im Wald in Griechenland mit ihrem Kopf passiert sei. Auch er war glücklich, als der Diktator stürzte, doch ihn ängstigte der Gedanke, die europäischen Länder würden aufhören, irakische Flüchtlinge aufzunehmen. Ich tröstete ihn, die Verhältnisse im Land könnten sich verändern und wir alle vielleicht bald wieder nach Hause und zu unseren Familien zurückkehren. Doch dann erinnerte er mich an seine bleigraue Tasche. »Ich habe weder Familie noch Freunde, noch Hoffnung. Alles, was ich besitze, trage ich in dieser Tasche mit mir herum. Ich wünsche mir nur, meine Mutter an einen sicheren und ruhigen Ort zu bringen. Die Arme hat lange genug gelitten.«

Ich habe mir oft vorgestellt, mein Leben damit zu verbringen, all die skurrilen Geschichten niederzuschreiben, die ich auf den geheimen Pfaden der Emigration erlebt hatte. Das ist mein Krebs, von dem ich nicht weiß, wie ich von ihm geheilt werden kann. Ich fürchte, ich könnte ein so seltsames Ende finden wie der irakische Schriftsteller Châlid Hamrâwi, der sein ganzes Leben lang über die Leute des einfachen Markts unweit seines Hauses geschrieben und, als der Markt abgerissen und an seiner Stelle ein großer Wohnblock errichtet wurde, Selbstmord begangen hatte. Er hinterließ sechs Bände mit Geschichten, die alle vom Weben und Leben auf diesem Markt erzählen. Einmal unterhielt ich mich mit einem jungen deutschen Romanautor über meine persönlichen Erfahrungen als klandestiner Emigrant und meine Vorstellungen darüber, wie das Erlebte fiktional zu gestalten sei. Als dann der junge Deutsche von sich zu reden begann, gab er zu, noch nie etwas Substanzielles geschrieben zu haben. Der Grund dafür, glaubte er, liege in seinem jugendlichen Alter und seinem geringen Erfahrungsschatz. Ich hatte fast das Gefühl, er beneide mich um all meine seltsamen und schmerzhaften Lebenserfahrungen. Doch statt mir darauf etwas einzubilden, schämte ich mich. Seine Bemerkungen hatten mir wieder einmal gezeigt, was für ein zerstörtes und orientierungsloses Etwas ich war. Bittere Scham ergriff von mir Besitz, die Scham jenes Mannes, von dem Andrej Tarkowskij erzählt: Ein Mann hat auf der Straße einen Unfall, bei dem ihm ein Arm abgetrennt wird. Als sich Passanten versammeln und auf den Krankenwagen warten, zieht er ein Taschentuch hervor, um seinen Arm vor den Blicken der anderen zu verbergen.

Doch Ali Basrâwis Geschichte niederzuschreiben lockte mich die ganze Zeit, obwohl sie voller Elend und Tristesse war und auch noch einige wenige Drittweltelemente enthielt, die sich an die Gefühlswelt westlicher Leser richten. Seine Geschichte hat mir immer die Poesie des menschlichen Gesichts verdeutlicht, das wie ein Juwel unter Millionen Tonnen von Trivialmüll dieses Lebens verborgen ist. Vielleicht weil ich ein Dichter bin und als Flüchtling an einem solchen Ort wohne, einem Kuhstall, habe ich ein verhärtetes Herz oder vielleicht ein Gehirn, das nicht ohne die albernen Weisheiten des Nihilismus auskommt, ein Gehirn, das versucht, mit dürftigen Worten gleichzeitig seinen Zorn über und seine Leidenschaft für die menschliche Angst auszudrücken. Aber jedes Mal, wenn ich einen Baum anschaue oder über eine Nacht voller Wölfe des Zweifels nachdenke, reißt in meinem Herzen eine Quelle aus simpler, kindlicher Traurigkeit auf. Ich bin überzeugt, dass das Schreiben sich nicht behindern lassen darf durch das demütige Gefühl Massen von Menschen gegenüber, aus deren Hemden der Schweiß dampft und die sich ähneln wie die Klos in einer Toilette. Doch Alis Geschichte sickerte in mein Blut und drängte mir viele Nächte lang Tränen in die Augen. Ich weinte über mein verhärtetes Herz. Ich weinte, weil die Welt um vieles reiner und schöner sein könnte.

Als Ali Basrâwi im vergangenen Jahr ins Aufnahmezentrum kam, gab es viel Unruhe. Die anderen Bewohner machten einen Riesentumult. Es wurde viel gelacht und gewitzelt, was wohl in seiner bleigrauen Tasche war, einer Reisetasche im Stil der 1950er-Jahre. Gleich nach seiner Ankunft wurde Ali von der Polizei vorgeladen und drei Tage einbehalten. Danach ließ man ihn gehen, gab ihm aber seine Tasche erst drei Monate später zurück. Während dieser Zeit wurde sie in den Labors der Hauptstadt untersucht. Und der Direktor des Aufnahmezentrums war schockiert, als Ali schließlich seine Tasche mit dem gesamten Inhalt zurückerhielt.

In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts lebte Ali mit seinen sieben Brüdern, alle älter als er, in einem elenden Viertel in Bagdad. Sein Vater arbeitete als Nachtwächter für mehrere Läden in der Stadtmitte. Seine Mutter war, wie die meisten irakischen Mütter, ein Wesen, über das man den Morast der Traurigkeit, der Ungerechtigkeit und der Einsamkeit ausschüttete. Man könnte leicht die Existenz Gottes leugnen, wenn man auch nur einen Tag im Leben einer irakischen Mutter erlebt hat. Natürlich könnten Regungen dieser Art als simple, romantische Gefühlsaufwallungen abgetan werden, doch wenn es geheime Kameras gäbe, die der Welt zeigten, was eine Frau in irakischen Häusern zu ertragen hat, würden Steine reden und die Verhältnisse und ihre Verursacher anprangern. Alis Brüder hatten von ihrem Vater die zwanghafte Neigung geerbt, die Mutter für alles Unheil und alle Probleme, für Armut und Schicksalsschläge verantwortlich zu machen. Beim trivialsten Anlass wurde sie geschlagen, und die Mutter haderte mit ihrem Herrn, dass er ihr keine Tochter geschenkt hatte, dir ihr im Haushalt beistehen und Sympathie für sie haben könnte. Ali konnte nie den Tag vergessen, an dem sein ältester Bruder die arme Frau mit Händen und Füßen traktierte, bis sie ohnmächtig zusammenbrach, und das nur, weil sie ihn nicht geweckt hatte, damit er auf dem Markt Arbeit suchen konnte. Die Reaktion der Mutter auf all die Gewalt und Demütigung war immer dieselbe: Sie setzte sich neben den alten Kleiderschrank und weinte; sie beschwor die Gott wohlgefälligen Heiligen, sie aus ihrer Lage zu erlösen. Ali war damals noch ein kleiner Junge. Die Mutter schloss ihn in die Arme und drückte ihn schluchzend an die Brust. Und vielleicht umarmte sie ja einen Sohn, der, einmal erwachsen, sie auch schlagen würde.

Wenn sie ausgeweint hatte, erzählte Ali, holte sie ihre kleine Tasche aus dem Kleiderschrank, das Einzige, was sie besaß: eine alte Reisetasche, darin ein Holzkamm, ein Spiegel und ein Bild von Imam Ali, außerdem ein Koranexemplar, das in ein grünes Tuch gewickelt war, und ein Schwarz-Weiß-Foto von ihr selbst als junges Mädchen mit ihrem Vater am Flussufer. Sie löste ihr schwarzes Kopftuch und kämmte eine volle Stunde völlig stumpfsinnig ihr Haar. Dazu summte sie ein altes Lied, in dem es um die Liebe zur Mutter ging. Vielleicht fand ja die ständig wiederholte Bitte der Frau um Erlösung aus diesem Leben bei den Satanen des Himmels schließlich Gehör. Sie starb völlig überraschend an einem Gehirnschlag. Ali musste nach ihrem Tod noch Jahre warten, bis er sich an seinen Brüdern und seinem Vater rächen konnte, der wie ein Stück Dreck gelähmt auf seinem Rollstuhl saß.

Ein Jahr lang bereitete Ali alles aufs Genaueste vor. Er hatte beschlossen, zuerst nach Iran zu fliehen. In der Nacht, in der er aufbrechen wollte, ging er ins Zimmer seiner Mutter und nahm ihre Tasche, danach schlich er sich aus dem Haus. Sein Freund Adnân erwartete ihn am Ende der Gasse mit Hacke und Schaufel, in einem Sack versteckt. Die beiden Freunde zündeten sich eine Zigarette an und marschierten zum Friedhof. Der Himmel war klar, und der Mond, groß wie Alis Schmerz, erleuchtete das Grab, das die Freunde öffneten. Mit einem orangen Tuch säuberten sie die Knochen seiner Mutter und legten sie in die Tasche.

Ali nahm seine Mutter in der Tasche mit auf seine Flucht nach Iran, glücklich über seine Rache. Er stellte sich die leichenblassen Gesichter von Vater und Brüdern vor, wenn sie die Sache entdeckten. Die Knochentasche verließ ihn auch während seiner zweiten Etappe über das Gebirge in die Türkei nie. Er schlief in Tälern mit anderen Flüchtlingen, die Tasche fest an sich gedrückt wie etwas Geliebtes, etwas Geheiligtes. Diese seltsame Tasche und Alis übertriebene Aufmerksamkeit dafür wurden Anlass zu Spott und Belustigung, was ihn aber nicht kümmerte. Und nie offenbarte er irgendjemandem ihr Geheimnis. Ein Jahr lang arbeitete er in Istanbul in einer Ballonfabrik, um seine Reise auf den geheimen Pfaden der Emigration fortsetzen zu können. Und während dieses Jahres unterhielt sich Ali bei Nacht mit seiner Mutter über das ferne Land, in dem er in Frieden wohnen wollte, auch über seinen Wunsch, ein neues Leben zu beginnen und die Pein zu vergessen. Doch immer schmerzte es ihn, dass er seine Mutter in eine Tasche hatte stopfen müssen.

Als es in Istanbul bitterkalt wurde, vereinbarte Ali mit einem Schlepper, sich von ihm über die türkisch-griechische Grenze bringen zu lassen. Der Winter ist die geeignetste Jahreszeit für solche Unternehmungen, weil die Grenzwächter ihre täglichen Patrouillen etwas weniger ernst nehmen. Ali hatte zwar Angst vor der Flussüberquerung, doch der Schlepper beruhigte ihn und versicherte ihm, diese erfolge in einem Boot mit genügend Platz für alle. Im kalten Wasser könne man sowieso nicht hinüberschwimmen. Trotzdem besorgte sich Ali Plastiktüten, um die Gebeine seiner Mutter darin zu verstauen.

Kaum hatte sich die Gruppe hinter dem Schlepper im Wald in Bewegung gesetzt, tauchten auch schon griechische Grenzsoldaten auf. Sie sollten stehen bleiben, wurde ihnen befohlen. Doch der Schlepper forderte sie auf, ihm durch den dichten, dunklen Wald zu folgen. Sie rannten los. Äste zerschrammten ihnen die Gesichter und zerrissen ihnen die Wintermäntel. Die Tasche fest an die Brust gedrückt, rannte Ali, so schnell er konnte, dicht hinter dem Schlepper her, um sich nicht zu verirren. Doch dann stieß er gegen einen Baumstamm, prallte zurück und fiel zu Boden. Die Gebeine seiner Mutter flogen in alle Richtungen und verteilten sich im Dunkeln auf dem Waldboden, er selbst blutete an der Stirn. Entsetzt und verwirrt sammelte er die Knochen ein, tastete sie sorgsam ab und legte sie zurück in die Tasche. Dann wischte er das Blut von seinen Augen und nahm torkelnd seine Flucht wieder auf. Von Zeit zu Zeit war in der Ferne noch das Rufen der Grenzpolizisten zu hören.

Wie durch ein Wunder und dank ihres intelligenten Schleppers, der den Weg durch den Wald kannte, gelang es der Gruppe, sich in Sicherheit zu bringen. Nur ein junger Iraner und ein junger Kurde verloren den Anschluss und wurden möglicherweise festgenommen. Die Übrigen erreichten wohlbehalten Athen und wurden einem alten griechischen Schlepper übergeben, der sie übers Meer nach Italien bringen sollte.

Während seines Aufenthalts in einem Versteck für Flüchtlinge in Athen untersuchte Ali den Inhalt seiner Tasche. Die Gebeine seiner Mutter, der Spiegel und der hölzerne Kamm, das Bild von Imam Ali und das Koranexemplar – alles war da. Es fehlte einzig der Kopf, der einst seinen Kopf berührt und sich zärtlich über ihn geneigt hatte.

Gewiss wird Ali seine Tasche an einen sicheren Ort bringen und für die Gebeine ein Grab finden, zu dem kein anderer den Weg kennt. Und vielleicht wird er dort, allein, eines der Lieder seiner Mutter hören, deren Kopf in jenem Wald verloren ging.

1 531,18 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
291 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783956140778
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают