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Schlüsselmoleküle des Lebens

Es dauerte nur zehn Jahre bis der „aperiodische Kristall“, mit der Doppelhelix-Struktur der Desoxyribonukleinsäure (DNA) – dem Watson-Crick-Modell –, seine adäquate Identität fand, und das Gen, lange Zeit nur ein abstrakter Begriff, endlich die gesuchte molekulare Basis erhielt (Abbildung 1).


ABBILDUNG 1: DNA-Doppelhelix (Watson-Crick-Modell).

Innerhalb von weiteren zehn Jahren wurde sowohl der molekulare Mechanismus der Vererbung, die semikonservative Verdopplung der DNA, als auch der genetische Code aufgeklärt. Maßgeblichen Anteil an der Aufklärung des nicht-überlappenden Triplett-Codes hatte Francis H. Crick (1916 - 2004), der zuvor die Adapter-RNA (Transfer-RNA, tRNA) postuliert hatte.26 Damit rückte die DNA in das Zentrum der Molekulargenetik, und in den 1970ern in den Fokus der Zell- und Entwicklungsbiologie. Das DNA-zentrische Bild der Lebensprozesse fand seinen klarsten Ausdruck in dem von Francis Crick im Jahre 1958 formulierten zentralen Dogma der Molekularbiologie, welches die Richtung des genetischen Informationsflusses zum Ausdruck brachte: Die Information „fließt“ bei der Expression proteincodierender Gene – der Transkription („Umschreiben“ in Boten- oder Messenger-Ribonukleinsäure, mRNA) und nachfolgenden Translation („Übersetzen“ in ein Protein) – von der DNA-Sequenz über die mRNA zum Protein, (fast) niemals zurück. Information wurde zu einer Schlüsselmetapher der Molekularbiologie.27

Zentrales Charakteristikum des universellen genetischen Codes: Je drei Nukleotidbasen (Triplett) der DNA codieren eine Aminosäure, bilden ein Codon. Nicht-überlappende Sequenzen von Codons sind die molekularen Träger der genetischen Information für die Erzeugung korrespondierender Aminosäuresequenzen – Polypeptide oder Proteine. Paradoxerweise sind es von der codierenden DNA determinierte Enzyme, welche die Biosynthese der Nukleinsäuren (DNA, mRNA et cetera) bewerkstelligen. Die von Erwin Schrödinger ausgeklammerten Enzyme kamen so schließlich doch noch ins Spiel. Weder die DNA noch die Boten-RNA sind autarke Makromoleküle; sie müssen vielmehr synthetisiert, modifiziert, ediert und repariert (DNA) werden. Diese mannigfaltigen Funktionen üben, im Zusammenspiel mit regulatorischen Proteinen, Multiprotein- und Ribonukleoproteinkomplexe aus, insbesondere Motorenzymkomplexe. Für uns ein Grund, das Kapitel 3 den Proteinen und Nukleinsäuren sowie deren Komplexen zu widmen.

Und hierfür gibt es noch einen weiteren Grund. Mit den enzymatischen und regulatorischen Funktionen von Proteinkomplexen, vor allem in den zentralen molekulargenetischen Prozessen, taucht das statistische Paradoxon Schrödingers in modifizierter Form wieder auf, unbeachtet, da sich die Diskussionen in der „goldenen Ära“ der Molekularbiologie auf regulatorische Aspekte – und die scheinbar alles klarstellenden molekularen Mechanismen – konzentrierten. Schließlich war ja der gesuchte Hauptmechanismus für die Stabilität der Vererbung gefunden: Die identische Verdopplung (Replikation) der DNA ist matrizengesteuert. Als Matrizen für die Synthese der komplementären Stränge dienen die Einzelstränge der Doppelhelix, desgleichen bei der Transkription der DNA in die komplementäre mRNA. Dieses Prinzip findet sich in modifizierter Form auch bei der Proteinbiosynthese: Die zu den Codons der mRNAs komplementären Anticodons spezifischer tRNAs gewährleisten die Zuordnung der Aminosäuren. Hierbei wird der genetische Code umgesetzt, indem jeweils bestimmte Aminosäuren an den spezifischen tRNAs gebunden vorliegen.28 Die mechanistischen Details dieser „Ordnung aus Ordnung erzeugenden molekularen Prozesse der Replikation und Genexpression sind in bewunderungswürdigem Ausmaß aufgeklärt worden; dabei trat zunehmend die atemberaubende Komplexität und Vernetzung der zellulären Prozesse zutage.

Doch wie bei Schrödingers ursprünglicher „Beobachtungstatsache“ liegen die DNA-Moleküle (oder RNA-Moleküle bei bestimmten Viren und Phagen) und die mRNAs – und folglich die makromolekularen Matrizen – jeweils nur in einer oder wenigen Kopien vor. Und wie sieht es mit den enzymatisch oder regulatorisch aktiven Proteinkomplexen aus, die in diesen „Ordnung aus Ordnung“ erzeugenden molekularen Kernprozessen involviert sind? – Wie groß ist deren Anzahl? Wenn Schrödingers „statistischer Mechanismus“, der auf dem Gesetz der großen Zahlen beruht, den hochpräzisen Ablauf der Nukleinsäure- und Proteinbiosynthesen und vieler anderer enzymatischer Reaktionen und nicht-enzymatischer Interaktionen in der Zelle sicherstellen müsste, wäre eine sehr große Anzahl von all den verschiedenen interagierenden hoch- und niedermolekularen Molekülen nötig – und entsprechend große Zellvolumina.

Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Bakterien und viele eukaryotische Zellen sind außerordentlich klein. Das Darmbakterium Escherichia coli (E. coli), benannt nach seinem Entdecker, dem Kinderarzt Theodor Escherich (1857 - 1911), ist etwa 2 bis 3 Mikrometer (µm) lang, bei einem Durchmesser der stäbchenförmigen Zelle von rund 1 µm (siehe Abbildung 2); hieraus resultiert das winzige Volumen von etwa zwei Femtoliter (2·10-15 Liter). Selbst vergleichsweise große Zellen wie die Eizellen der Säugetiere haben einen Durchmesser von gerade einmal 1/​10 Millimeter.29 Und wie wir noch sehen werden, sind beispielsweise regulatorische Proteine wie die Transkriptionsfaktoren oft nur in wenigen Kopien vorhanden, desgleichen bestimmte essentielle Enzyme wie DNA-Polymerasen und mit diesen assoziierte Motorenzyme.

In der Evolution der Zelle wurde auch dieses scheinbare Dilemma gelöst: Proteine und Nukleinsäuren, vor allem die einzigartigen Eigenschaften und interaktiven Funktionen der molekularen Motoren, sowie funktionelle Mikrokompartimente ermöglichen es, das Gesetz der großen Zahlen (und die korrespondierenden großen Volumina) zu umgehen.

Molarer Determinismus

1946 erschien ein Buch mit dem Titel „The chemical kinetics of the bacterial cell“ von Cyril Hinshelwood (1897 - 1967). In diesem Buch wurde der Versuch unternommen, die Prinzipien der klassischen chemischen Kinetik auf Reaktionen in der Bakterienzelle anzuwenden. Ist das gerechtfertigt? – Hinshelwood nahm an, dass Bakterien keine Grobstruktur haben, eine Ansicht, die sich bis in die 1990er Jahre wiederfindet. Aber er äußerte die vorausschauende Ansicht, dass die Zellprozesse eine raum-zeitliche Organisation aufweisen. Ferner diskutierte er die „Autosynthese“ von Makromolekülen – Proteine, Polysaccaride und Nukleinsäuren –, wobei man von Letzteren „allgemein annahm, dass sie eine Schlüsselrolle in den Zellprozessen spielen.“30


ABBILDUNG 2: E. coli-Bakterien (elektronenmikroskopische Aufnahme).

Freilich dauerte es noch mehr als ein Jahrzehnt, bis fundierte Ergebnisse zunehmend an die Stelle von Vermutungen traten. Inzwischen ist unbestritten, dass nicht nur eukaryotische Zellen, sondern auch Bakterien eine komplexe, dynamische Organisation aufweisen. Darüber hinaus unterscheiden sich die Reaktionsbedingungen in Bakterienzellen fundamental von denen im Reagenzglas.

Im Folgenden werden wir auf einige grundlegende physikochemische Begriffe und Theorien eingehen, die für das Verständnis der molekularen Zellprozesse unentbehrlich sind, und die uns zum Leitthema des Buches – Stochastizität von Zellprozessen – zurückführen werden. Da ist zunächst der Begriff der Konzentration. Konzentrationen der Reaktionspartner erscheinen als unabhängige Variable in den kinetischen Gleichungen chemischer Reaktionen. Gleiches gilt für die Beschreibung des chemischen Gleichgewichts – auch hier gehen die Konzentrationen der Reaktionspartner ein, die üblicherweise in Mol pro Einheitsvolumen ausgedrückt werden. Ein Mol eines Stoffes enthält die gigantische Zahl von circa 6,022·1023 Atomen oder Molekülen, als Avogadro-Konstante bekannt, weshalb hier das Gesetz der großen Zahlen beziehungsweise Schrödingers „statistischer Mechanismus“ der Ordnung greift. Der gesetzmäßige Zusammenhang für das chemische Gleichgewicht wird als Massenwirkungsgesetz (MWG) bezeichnet; er wurde erstmals in den Jahren 1864 bis 1867 auf der Grundlage von kinetischen Überlegungen (Betrachtung der Hin- und Rückreaktionen) von dem Mathematiker Cato M. Guldberg (1836 - 1902) und seinem Schwager, dem Chemiker Peter Waage (1833 - 1900), formuliert, später von Josiah W. Gibbs (1839 - 1903) aus den thermodynamischen Potentialen für das chemische Gleichgewicht abgeleitet.31

Die klassischen Theorien der chemischen Kinetik und der phenomenologischen Thermodynamik, speziell das MWG, verkörpern den makroskopischen Determinismus; sie repräsentieren (nahezu) exakte Gesetze und ermöglichen genaue Voraussagen. So sind beispielsweise die das dynamische chemische Gleichgewicht charakterisierenden Konstanten durch den Quotienten der molaren Konzentrationen der Ausgangs- und Endprodukte gesetzmäßig festgelegt. Max Planck, der einen Großteil seiner aktiven wissenschaftlichen Laufbahn thermodynamischen Untersuchungen widmete, benutzte hierfür den Ausdruck Determinismus in der Molarwelt. Weiterhin konstatierte er, dass

Größenordnungsgebiete niemals durch scharfe Grenzlinien getrennt sind, sondern stets allmählich ineinander übergehen. Wir wissen aus der Kolloidchemie und aus der Biochemie, daß es unmöglich ist, molare und molekulare Vorgänge prinzipiell voneinander zu unterscheiden.32

Diese Feststellung wurde durch spätere biophysikalische Untersuchungen bestätigt: Zwischen die makroskopischen und mikroskopischen Systeme schiebt sich die, speziell für intrazelluläre Prozesse, äußerst bedeutsame „Mittelwelt“ der kleinen Systeme. Prozesse auf der physiologischen (interzellulären) Ebene, aber auch eine Reihe von intrazellulären Prozessen, sind im Rahmen des deterministischen Paradigmas beschreibbar. Doch sind es gerade die intrazellulären Kernprozesse, die als stochastisch erkannt wurden.

Zellprozesse in der „Mittelwelt“

Den Gegenpol zu makroskopischen physikalischen oder chemischen Systemen, die durch deterministische Gesetze beschrieben werden, bilden mikroskopische Systeme. Mikroskopische Systeme sind Gegenstand der Quantenmechanik und der statistischen Physik. Und: Ereignisse in der Quantenwelt sind unbestimmt. Dagegen treten – wie durch Zauberei – infolge des Zusammenwirkens einer sehr großen Zahl von Atomen oder Molekülen Gesetzmäßigkeiten und Muster auf, gleichsam „Ordnung aus dem Chaos“. Die sich nach 1900 entwickelnde Theorie stochastischer Prozesse eröffnete noch eine weitere Möglichkeit, nämlich Systeme von „mittlerer Größe“ quantitativ zu beschreiben; hier liegt die Zahl der Moleküle weit unterhalb der Avogadro-Konstante, aber hoch genug, damit die Beschreibung durch Mittelwerte charakteristischer Systemeigenschaften möglich wird. Solche Systeme werden als klein oder mesoskopisch bezeichnet. In mesoskopischen Systemen treten Fluktuationen (Schwankungen) um die Mittelwerte in Erscheinung, die in makroskopischen Systemen wegen ihrer geringen Größe vernachlässigbar sind.33

Viele Prozesse der Zelle gehören zur „Mittelwelt“ mesoskopischer Größenordnung; sie laufen in Zellkompartimenten ab. Zu den Zellkompartimenten zählen unter anderem der Zellkern, die Mitochondrien, die umgrenzenden Membranen und das Zytoplasma. Zur „Mittelwelt“ gehören insbesondere auch die oben angeführten „molekularen Motoren“, die wesentlich für die Durchführung der vitalen Kernprozesse der Zelle sind.

Einen wegweisenden, wenngleich fast 20 Jahre unbeachtet gebliebenen, Beitrag zur stochastischen Kinetik veröffentlichte Max Delbrück im Jahre 1940; als Erster behandelte er die Fluktuationen einer biochemischen Reaktion – die autokatalytische Bildung von proteinspaltenden Enzymen (Proteasen) aus deren inaktiven Vorstufen, den Proenzymen. Diese Reaktion ist zugleich geeignet, Schrödingers „statistischen Mechanismus“, die Abnahme der relativen Fluktuationen mit der Quadratwurzel der Molekülzahl, zu veranschaulichen (Abbildung 3).34


ABBILDUNG 3: Autokatalytische Umwandlung inaktiver Proenzymmoleküle in aktive Enzymmoleküle. Der Kurvenverlauf beschreibt das bekannte Quadratwurzel-Gesetz: die Abnahme der relativen Streuung (Variationskoeffizient) der Zahl gebildeter Enzymmoleküle mit zunehmender Anzahl der initial vorhandenen aktiven Moleküle – minimal ein Molekül. Hierbei wird angenommen, dass die Proenzymmoleküle in großem Überschuss vorliegen (Delbrück, 1940).

2 Molekulare Fluktuationen und Interaktionen

Die wahre Logik dieser Welt ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung.

James Clerk Maxwell 1

Brown’sche Molekularbewegung

Der stochastischen Behandlung biochemischer Reaktionen zeitlich weit voraus ging die theoretische Beschreibung und experimentelle Bestätigung einer der bedeutendsten molekularen Fluktuationserscheinungen – der Brown’schen Molekularbewegung.

Die Wärmebewegungen der Atome und Moleküle sind ein fundamentales physikalisches Phänomen. In Wasser suspendierte Partikel oder gelöste Moleküle erfahren in jeder Sekunde die unvorstellbar große Anzahl von 1021 Stößen durch die sie umgebenden Flüssigkeitsmoleküle. Sichtbaren Ausdruck finden diese Kollisionen in den andauernden, unregelmäßigen Bewegungen, welche die suspendierten Partikel ausführen. Die erratischen Partikelbewegungen werden nach dem Botaniker Robert Brown (1773 - 1858) als Brown’sche Bewegung bezeichnet.2 Auch die (Makro-)Moleküle und makromolekularen Komplexe der Zelle unterliegen diesem Schwankungsphänomen. Dies mag paradox erscheinen, stehen doch die Wärmebewegung und die aus ihr resultierende Brown’sche Molekularbewegung für Unordnung – Chaos und Zufall – schlechthin. Doch wir werden sehen, dass keine Zelle, kein Organismus ohne Brown’sche Bewegung existieren könnte, zumindest keine der derzeit bekannten, terrestrischen Lebensformen.

Die Brown’sche Bewegung war noch lange Zeit nach ihrer sorgfältigen Untersuchung in den Jahren 1827 bis 1829 durch Robert Brown ein Kuriosum. Und Brown war nach eigenem Bekunden keineswegs der Erste, der die eigenartigen Zitterbewegungen beschrieb.3 Robert Brown war leidenschaftlicher Botaniker, der bedeutendste seiner Zeit. Sein Lebenswerk wurde aber nachfolgend durch Charles Darwin überschattet. Wie die mehrere Jahrzehnte jüngeren Naturforscher Charles Darwin und Gregor Mendel, war Brown Autodidakt; er hatte weder einen regulären Universitätsabschluss noch später eine Lehrfunktion an einer Universität.

Im Jahre 1827 beobachtete Brown Pollen der Atlasblume (Clarkia pulchella) unter dem Mikroskop. Hierbei fielen ihm innerhalb der Pollen Partikel von „ungewöhnlich großen Abmessungen“ auf. Als er die Form dieser in Wasser suspendierten Partikel untersuchte, bemerkte er, dass diese sich permanent bewegten. Bei weiteren Untersuchungen stellte sich dann heraus, dass nicht nur die Pollenpartikel oder „Moleküle“ – wie er sie nun auch nannte – anderer Pflanzen, sondern auch „Moleküle“ anorganischen Ursprungs wie Mineralien die imposanten Bewegungen vollführten. Selbst in ölumschlossenen Wassertropfen, die oft nur eine Partikel enthielten, war deren ununterbrochene Bewegung zu beobachten.

Nach einer anfänglichen Begeisterung für Browns Beobachtungen flaute das Interesse in den nächsten 30 Jahren indessen fast völlig ab. Erst nach Browns Tod, in den 1860ern, wurden Argumente vorgebracht, die Brown’sche Bewegung auf die Wärmebewegung der Flüssigkeitsmoleküle zurückzuführen. Trotzdem sich nun auch Physiker in die Diskussion einschalteten, dauerte es noch bis 1905, ehe die erste experimentell überprüfbare Theorie der Brown’schen Molekularbewegung von Albert Einstein (1879 - 1955) vorgelegt wurde. Nur ein Jahr später erschien in den Annalen der Physik von Marian von Smoluchowski (1872 - 1917) ebenfalls ein Artikel zur Theorie der Brown’schen Molekularbewegung.4

Wie bereits erwähnt, ist die Diffusion ein Fluktuationsphänomen. Die Ausgangs- oder „Startposition“ ist die wahrscheinlichste, mittlere Lage. Schwankungen um den Mittelwert, beobachtbar als Verschiebungen von der „Startposition“, werden durch ein Streuungsmaß – die Varianz – beschrieben. Wenn wir uns eine eindimensionale Diffusion entlang der x-Achse vorstellen, ergibt sich die Streuung oder Varianz als die mittlere quadratische Verschiebung von der Startposition. Die Beziehung des mittleren Verschiebungsquadrats zur Zeit leitete als Erster Einstein, in seiner Arbeit von 1905, ab. Entsprechend der Einstein’schen Gleichung ist die mittlere Verschiebung von der Startposition proportional zur Quadratwurzel aus der verflossenen Zeit. Mit Hilfe dieser Beziehung kann der Diffusionskoeffizient, der die diffusive Beweglichkeit charakterisiert, experimentell bestimmt werden. Theodor H. Svedberg (1884 - 1971) und nachfolgend, ab 1908, die Arbeitsgruppe um Jean-Baptiste Perrin (1870 - 1942) haben zunehmend präzisere Messungen vorgenommen; diese ermöglichten die Bestimmung der Anzahl der Moleküle in einem Mol, die Avogadro-Konstante, zu 6,4·1023; der gegenwärtig akzeptierte Wert beträgt circa 6,022·1023 mol-1·4.

Albert Einstein und Marian von Smoluchowski erkannten auch den Zusammenhang zwischen der Brown’schen Molekularbewegung und der makroskopischen Diffusion: Letztere ist die Überlagerung (Superposition) der unabhängigen Brown’schen Bewegungen einer großen Zahl von Teilchen. Das war eine fruchtbare theoretische Einsicht, die eine Brücke zur mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie und zur statistischen Physik schlug. Die Diffusion einzelner Teilchen oder (Makro-)Moleküle kann mit einer formal ähnlichen Differenzialgleichung beschrieben werden wie die makroskopische Diffusion; hierbei tritt an die Stelle der Konzentration die Wahrscheinlichkeit beziehungsweise Wahrscheinlichkeitsdichte. Überdies sind Verallgemeinerungen wie der Einfluss von Kraftfeldern oder die Einbeziehung von Konvektion (Strömung) leicht möglich.

Schließlich war es nun prinzipiell möglich, bei längerer Verfolgung aus den von einem diffundierenden Teilchen oder (Makro-)Molekül während gleicher Zeitintervalle zurückgelegten Teilstrecken, die mittlere quadratische Verschiebung – und aus dieser den Diffusionskoeffizienten – zu bestimmen, sofern ausreichend empfindliche und genaue Nachweismethoden vorhanden sind.5

Irrfahrt und Diffusion in der Zelle

Es sind sowohl neue theoretische Ansätze als auch experimentelle Methoden, welche die Naturwissenschaften vorantreiben. Im Falle der Diffusionserscheinungen und deren Analyse ging die Theorie voran. Kongeniale biophysikalische und molekulargenetische Methodenentwicklungen ermöglichen es seit Mitte der 1990er Jahre, effektive Diffusionskoeffizienten auch in prokaryotischen Zellen wie E. coli und in eukaryotischen Zellen sowie deren Organellen experimentell zu bestimmen.6

Für die Beschreibung von diffusionsabhängigen molekularen Interaktionen und Transportphänomenen in der lebenden Zelle und ihren Kompartimenten brachten namentlich zwei methodische Entwicklungen den Durchbruch: die gentechnische Isolierung des Gens eines grün fluoreszierenden Proteins (GFP) und die Entwicklung leistungsfähiger Fluoreszenzmikroskope. GFP erwies sich als ein äußerst nützliches „molekulares Werkzeug“ zum Studium der Genexpression, der Lokalisierung und der Interaktionen von Proteinen in einzelnen Zellen. Sogar einzelne makromolekulare Komplexe, die sprichwörtlichen Nadeln im Heuhaufen, konnten nun in lebenden Zellen lokalisiert und zeitlich „verfolgt“ werden. Den entscheidenden Anstoß lieferte eine 1994 erschienene Arbeit, in der gezeigt wurde, dass GFP auch bei der rekombinanten Expression, als fusioniertes Protein, in verschiedenen Zelltypen, unter anderem in E. coli, intensive, direkt sichtbare Fluoreszenz zeigt.7 Das aus 238 Aminosäureresten bestehende GFP stammt ursprünglich aus einer lumineszierenden pazifischen Qualle, Aequorea victoria. Hier bezieht das GFP die Anregungsenergie strahlungsfrei aus der weniger effizienten Chemilumineszenz-Reaktion des Photoproteins Aequorin und emittiert diese Energie längerwellig als grüne Fluoreszenzstrahlung mit hoher Quantenausbeute von ungefähr 70 %.

GFP ist ein kompaktes, außerordentlich stabiles Protein, aber nicht sonderlich leuchtstark. Durch Mutationen des gfp-Gens wurden Varianten erhalten, die eine vielfach höhere Fluoreszenzintensität und ein verringertes Photobleichen zeigen, und damit ein verbessertes Signal-Rausch-Verhältnis.8

Die Fusion von Proteinen mit GFP, EGFP oder anderen GFP-Varianten eröffnete neue Möglichkeiten für die Untersuchung intrazellulärer Prozesse. Eines der beeindruckendsten Beispiele ist die Aufklärung der Dynamik des Min-Systems, bestehend aus den Proteinen MinC, MinD und MinE, welches die korrekte Positionierung des Z-Rings in der Mitte eines teilungsfähigen E. coli-Bakteriums bewirkt. Die Bildung des Z-Rings aus dem bakteriellen „Zytoskelettprotein“ FtsZ geht der Zellwandbildung zeitlich voran; die Konstriktion des Z-Rings leitet die Zellteilung ein. Das Fehlen des Min-Systems führt zu einem großen Prozentsatz von asymmetrischen Zellteilungen in der Nähe der Pole, wodurch Tochterzellen mit zwei Chromosomen und „Minizellen“ ohne Chromosom entstehen.9

MinC, der Gegenspieler (Antagonist) von FtsZ, unterbindet die Polymerisation von FtsZ – die Bildung von FtsZ-Filamenten – abseits der Zellmitte. Die fluoreszenzmikroskopischen Untersuchungen des Min-Systems in lebenden Zellen lieferten mit Hilfe von GFP ein überraschendes Ergebnis: Die GFP-fusionierten Proteine MinC und MinD zeigten zeitlich oszillierende Konzentrationsmuster in den beiden Zellhälften. Im Zeitmittel ergeben sich hieraus Konzentrationsgefälle von MinC und MinD, mit höheren Konzentrationen an den Zellpolen und einem Minimum in der Zellmitte. Die komplexen Oszillationsmuster sind anschauliche Beispiele für intrazelluläre Selbstorganisation. Sie wurden sowohl durch etablierte Modelle der Musterbildung – Reaktions-Diffusions-Modelle , deren Anfänge bis zu einer theoretischen Arbeit von Alan Turing (1912 - 1954) aus dem Jahr 1952 zurückreichen, nachgebildet, als auch durch stochastische Diffusionsmodelle.10

Weiterhin konnte die Dynamik und Bildung des Z-Ringes aus FtsZ in einzelnen E. coli-Zellen in Echtzeit verfolgt werden. Dazu wurde FtsZ ebenfalls mit GFP fusioniert. So wurden scharfe Fluoreszenzbilder der FtsZ-Strukturen erhalten.11

Gefälle (Gradienten) von sogenannten Morphogenen spielen eine essentielle Rolle in der frühen Embryonalentwicklung der schwarzbäuchigen Taufliege (Drosophila melanogaster). Diese Morphogene sind Transkriptionsfaktoren, also Proteine, die abhängig von ihrer lokalen Konzentration eine Aktivierung oder Reprimierung nachgeschalteter zygotischer Entwicklungsgene bewirken. Nach dem bahnbrechenden experimentellen Nachweis eines Morphogengradienten – des Konzentrationsgefälles des Transkriptionsfaktors Bicoid vom Vorderpol in Richtung Mitte des frühen Embryos der Taufliege – wurde es eines der vorrangigen Ziele, die Bedeutung solcher Gradienten für die Entstehung embryonaler Entwicklungsmuster zu verstehen.12 Das grün fluoreszierende Protein ermöglichte auch hier, die Entstehung und Dynamik von Morphogengradienten in vivo im molekularen Detail zu untersuchen. Ein wichtiger Aspekt bestand darin, herauszufinden, wie reproduzierbar sich der Bicoid-Gradient bildet. Mit Hilfe von Bicoid-EGFP konnte diese Fragestellung in Angriff genommen werden: Der Bicoid-Gradient entsteht innerhalb von zwei Stunden nach der Befruchtung der Eizelle; in dieser Zeit durchläuft der Embryo 13 schnelle mitotische Zyklen ohne Zellwandbildung. Bemerkenswert: Die Variabilität des Gradienten ist vergleichsweise gering, der exponentiell abnehmende Proteingradient (vom Vorder- zum Hinterpol des Embryos) wird mit einer Genauigkeit von etwa 10 % von Embryo zu Embryo reproduziert. Dieser Genauigkeitsgrad zeigte sich auch für die maximalen Bicoid-Konzentrationen nach den aufeinanderfolgenden Kernteilungen, obwohl sich die Zahl der Kerne jeweils verdoppelte und sich das Kernvolumen während der frühen Embryogenese generell vergrößert. Eine ähnliche Genauigkeit der Embryo-zu-Embryo-Reproduzierbarkeit (8 %) wurde nachfolgend für die Zahl der bicoid-mRNA-Moleküle festgestellt. Eine Reproduzierbarkeit von 8 bis 10 % erscheint auf den ersten Blick nicht sonderlich beeindruckend; doch es war eine Überraschung. Erklärbar wird dieser Genauigkeitsgrad durch die große Zahl der bicoid-mRNA-Moleküle von knapp einer Million und die etwa hundertfach höhere Anzahl der Bicoid-Proteinmoleküle in zwei Stunden jungen Embryos, welche die stochastische Variabilität der Genexpression durch das statistisch-physikalisches Prinzip der zeitlichen und räumlichen Mittelung begrenzen und ausgleichen.13

In diesem Fall, wie im vorhergehend behandelten Min-System, interessieren natürlich die den geschilderten Mustern zugrunde liegenden dynamischen Prozesse. An dieser Stelle wollen wir uns nur die Rolle der Diffusion für die Bildung und Erhaltung des Bicoid-Gradienten näher ansehen. Neuere Untersuchungen bestätigten frühere Befunde, dass sich die bicoid-mRNA vorwiegend (> 90 %) und stabil innerhalb von 20 % des anterioren (vorderen) Embryovolumens lokalisiert, und dass dort das Bicoid-Protein synthetisiert wird. Somit ist es erforderlich, dass sich das Bicoid-Protein vom Syntheseort aus verteilen muss, damit sich der Gradient innerhalb des Embryos ausbilden kann; dies geschieht höchstwahrscheinlich durch einfache Diffusion.14

Nicht nur die Dynamik und Lokalisation von Proteinen, sondern auch die von mRNA-Molekülen, konnte durch die Verwendung von GFP-Varianten untersucht werden. Von besonderer Bedeutung: Wie finden einzelne exportfähige mRNA-Komplexe – Boten-Ribonukleoprotein (mRNP)-Komplexe – eine der Kernporen in der Kernmembran? Die Antwort ermöglichte wiederum der Einsatz von fluoreszierenden „Sonden“. Eindrucksvolle Ergebnisse erbrachte die Bindung einer mRNA (ß-Actin-mRNA) an multiple Moleküle einer gelb fluoreszierenden GFP-Variante (YFP). Die hierdurch erzielte Fluoreszenzverstärkung ermöglichte es, das Diffusionsverhalten einzelner mRNPs in Zellkernen lebender Zellen zu untersuchen. Diese Experimente demonstrierten in Übereinstimmung mit früheren Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen, dass mRNP-Komplexe sich mehrheitlich durch „einfache“ Diffusion, ohne Richtungsbevorzugung (isotrop), im Kernplasma bewegen. Diese Komplexe finden also eine der Kernporen, durch welche sie ins Zytoplasma gelangen, durch eine Brown’sche Irrfahrt (Abbildung 4).15

Die bakterielle Zytokinese und die frühe embryonale Entwicklung von Drosphila verdeutlichen, dass in der „Mittelwelt“ mesoskopischer Größenordnung Diffusionsprozesse wesentliche Zellfunktionen erfüllen. Hierzu zählen auch intrazelluläre Transportfunktionen – wie im Falle der mRNPs in eukaryotischen Zellkernen.


ABBILDUNG 4: Zweidimensionale Irrfahrt (Monte-Carlo-Simulation). Die Schrittlängen und –richtungen wurden nach dem Zufallsprinzip bestimmt.

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23 декабря 2023
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9783960082057
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