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Der Mechanismus der Reaktionsbildung vermindert die Angst vor bestimmten Triebwünschen dadurch, dass das Gegenteil (über-)betont wird. Eine Mutter beispielsweise lehnt ihr Kind ab und möchte es hassen. Dieser Impuls wird vom Ich nicht akzeptiert. Die Abwehr kann nun darin bestehen, dass das Kind mit Liebesbeweisen überschüttet wird. Das Ich verhält sich nach dem Motto: »Es stimmt doch gar nicht, dass ich mein Kind ablehne. Seht alle her, wie ich es liebe!« Bei übersteigerten Haltungen kann daher gefragt werden, ob sie nicht als Abwehr des gegenteiligen (inakzeptablen) Impulses dienen. Da die Reaktionsbildung unbewusst geschieht, darf sie nicht mit dem bewussten Verhalten der Heuchelei verwechselt werden.

Regression

Die Regression bedeutet die Abwehr von Es-Impulsen durch den Rückzug in frühere Entwicklungsphasen, in denen die Triebbefriedigung ungefährlich und akzeptabel erscheint. Rauchen und Trinken können so als eine Regression in die orale Phase, Pedanterie und das Betonen von Sauberkeit als eine Regression in die anale Phase interpretiert werden.

Sublimierung

Eine Sonderstellung in den Abwehrmechanismen nimmt die Sublimierung ein. Sie ist eine »normale« und gewünschte Abwehr von Triebimpulsen. Freud unterstellt, dass bei allen Kindern in der analen Phase der Wunsch besteht, mit dem Kot zu spielen. Dieser Wunsch wird in unserer Gesellschaft nicht toleriert und das Kind formt ihn um. Es backt Sandkuchen, malt mit Fingerfarben, spielt mit Knete und könnte schließlich anfangen zu töpfern. Auf diese Weise kann der inakzeptable Wunsch in eine akzeptable und wertvolle Tätigkeit umgewandet werden. Allgemein werden auf diese Weise sexuelle Wünsche in künstlerischen Aktivitäten befriedigt. Kunst wird so als »Ersatz« (Sublimierung) für Sexualität gesehen.

Bewertung

Die Bewertung von Freuds Theorie ist uneinheitlich und kontrovers. Handelt es sich dabei um »das vielleicht größte Ereignis der bisherigen Geschichte der Psychologie« (Flammer 2009, S. 74) oder um einen »Tiefenschwindel«, eine »Tollhauspsychologie« und einen »Jahrhundertirrtum« (Zimmer 1990)?

Mit seinen Denkansätzen hat Freud zweifellos neue Perspektiven eröffnet. Indem er Neurosen als Symptome psychischer Konflikte interpretierte, die Tragweite frühkindlicher Traumata offen legte und die Bedeutung der Sexualität betonte, schuf er veränderte Möglichkeiten, Entwicklungsprozesse und psychische Prozesse zu interpretieren. Diese neuen Perspektiven wurden vielfach aufgegriffen und in unterschiedlichen Richtungen weiterentwickelt. Betrachtet man Popularität und Anregungsgehalt als Maßstäbe für die Bedeutung einer Theorie, dann ist die psychoanalytische Theorie sicherlich sehr bedeutsam.

Kritik

Nach den Kriterien der gegenwärtigen empirischen Psychologie müssen gegen die Theorie Freuds einige kritische Einwände erhoben werden (in Anlehnung an Gerrig/Zimbardo 2008):

Wichtige (Teil-)Konzepte sind nur verschwommen definiert und lassen sich daher nicht empirisch prüfen.

Das Verhalten wird stets im nachhinein erklärt. Es wurden keine Vorhersagen getroffen, deren Richtigkeit geprüft werden könnte.

Die Datenbasis ist gering und bezieht sich auf »gestörte« Personen. Die Übertragbarkeit der theoretischen Aussagen auf »gesunde« Personen ist nicht belegt.

Die Betonung der frühkindlichen Ereignisse vernachlässigt die Bedeutung aktueller Bedingungen für das Verhalten.

Die Bedeutung einer Theorie ist jedoch nicht nur an ihrer Richtigkeit oder am Umfang ihrer Anwendungsmöglichkeiten zu bewerten, sondern auch an der Initiierung neuer Forschung. Freuds Ansätze waren in dieser Hinsicht äußerst fruchtbar. Seine Gedanken über die Bedeutung der frühen Kindheit wurden vielfach aufgegriffen und weiterentwickelt (z. B. Spitz 2005), manchmal dann auch im Widerspruch zu ihnen (z. B. Bowlby 2006).

Bild der Frau

Für das Bild der Frau in der Gesellschaft und für die Bewertung sexueller Übergriffe hatte Freuds Triebtheorie fatale Folgen. Sexueller Missbrauch, Ausgangspunkt seiner Theoriebildung, konnte im Lichte der Triebtheorie uminterpretiert werden. Nicht Väter (Männer) misshandeln die Kinder, sondern diese phantasieren Vergewaltigungen oder – wenn die Realität nicht geleugnet werden kann – lassen sich ihre geheimen Wünsche erfüllen. Die Opfer werden so zu Komplizinnen der Täter.

Im Bericht über den »Fall Dora« interpretierte Freud (1905 a) den Ekel, den ein vierzehnjähriges Mädchen empfand, als es von einem älteren Mann überrumpelt und gegen seinen Willen geküsst wurde, als hysterisches Symptom. Das Mädchen hätte, seiner Ansicht nach, angenehme sexuelle Empfindungen haben müssen. Das Leiden an sexuellen Übergriffen wird als krankhaft eingestuft. Damit wird eine Legitimation für sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen geliefert.

Die Darstellung der Frau als Mängelwesen und die Zuschreibung negativer Eigenschaften boten eine vermeintlich wissenschaftliche Begründung für die Abwertung von Frauen. Allen, die ein Interesse an ihrer sexuellen Verfügbarkeit hatten und denen ihre Autonomiebestrebungen suspekt waren, mussten Freuds Theorien willkommen sein. Ihre Popularität kann auch unter diesem Aspekt bewertet werden.

3.2.3. Carl R. Rogers: Eine Theorie der Psychotherapie, Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen

Als die entscheidende Triebfeder zur Entwicklung seines theoretischen Konzepts sieht Rogers selbst seine jahrzehntelange therapeutische Arbeit mit Menschen, die persönliche Hilfe brauchen. »Sie stellen für mich den wesentlichen Anreiz meiner psychologischen Überlegungen dar. Aus dieser Arbeit, aus meiner Beziehung zu diesen Menschen, habe ich beinahe all das Wissen bezogen, das ich über die Bedeutung von Therapie, die Dynamik der interpersonellen Beziehungen und der Struktur und Funktion der Persönlichkeit besitze« (Rogers 2009, S. 13).

Carl Rogers, geboren 1902 in einem Vorort von Chicago, wuchs in einer Familie auf, in der »harte Arbeit und ein sehr konservativer (fast fundamentalistischer) Protestantismus ... gleichermaßen geschätzt [wurden]« (Rogers 2009, S. 11). Als Carl zwölf Jahre alt war, zog seine Familie auf eine Farm. Er entwickelte ein starkes Interesse für Agrarwissenschaft, für die er sich später an der University of Wisconsin einschrieb. Später wechselte er zur Theologie, um Pfarrer zu werden, ein Berufsziel, das er zugunsten der Klinischen Psychologie aufgab. Zwölf Jahre lang arbeitete er an einer heilpädagogischen Beratungsstelle für Kinder in Rochester, New York. 1940 wurde er Professor an der Ohio State University. Seine weitere akademische Karriere führte ihn an die Universitäten von Chicago, Wisconsin und La Jolla, California. Er ist der Begründer der Klientzentrierten Psychotherapie. Während seiner Laufbahn hat er stets intensiv als Psychotherapeut gearbeitet. Carl Rogers starb 1987.

Da jede Intervention und Therapie (zumindest implizit) mit theoretischen Vorstellungen wenigstens über Psychotherapie speziell, über Personen allgemein und über Interaktionen getränkt ist, war es nur konsequent, dass diese Vorstellungen nach und nach expliziert wurden. Obwohl es sich um eine integrale Theorie über Therapie, Personen und Interaktionen handelt, wird in diesem Abschnitt nur die Facette »Theorie der Persönlichkeit« behandelt. Die Aspekte der Psychotherapie werden dagegen im Rahmen der klientenzentrierten Therapie ausführlicher dargestellt (7.4.).

Grundlegende Konstrukte: Organismus

Für Rogers Theorie der Persönlichkeit sind zwei Konstrukte und deren Beziehung zueinander grundlegend: Organismus und Selbst. Der Organismus ist der Ort allen Erlebens und aller Erfahrung. Dazu gehört alles, was im Körper vor sich geht, sofern es (wenigstens potentiell) bewusst wahrgenommen (»symbolisiert«) werden kann. Dies ist das Wahrnehmungsfeld, das nur die Person selbst wahrnimmt und von Außenstehenden niemals in gleicher Form wahrgenommen, allenfalls mehr oder weniger angenähert erschlossen werden kann. Das Wahrnehmungsfeld ist das individuelle Bezugssystem der Person; es ist die Realität für die Person. Auf diese Realität reagiert der Organismus als »organisiertes Ganzes«.

In einer »Fallgeschichte eines Konstruktes« schildert Rogers (1987, S. 26 – 29), wie sich das Selbst vom vagen wissenschaftlich bedeutungslosen zum zunehmend präziser definierten Begriff (Begriffssystem) wandelte. Unter Selbst Selbst, Selbstkonzept, Selbststruktur bzw. Selbstideal versteht Rogers (1987, S. 26):

»Diese Begriffe beziehen sich auf die organisierte, in sich geschlossene Gestalt. Diese beinhaltet die Wahrnehmungscharakteristiken des Ich, die Wahrnehmungen der Beziehungen zwischen dem Ich und anderen und verschiedenen Lebensaspekten, einschließlich der mit diesen Erfahrungen verbundenen Werte. Dieser Gestalt kann man gewahr werden, sie ist jedoch nicht notwendigerweise gewahr. Es handelt sich um eine fließende, eine wechselnde Gestalt, um einen Prozeß, der zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine spezifische Wesenheit ist, zumindest teilweise durch operationale Begriffe erfaßbar ...«

Selbstideal

»Selbstideal (oder Ideal-Selbst) bezeichnet das Selbstkonzept, das eine Person am liebsten besäße, worauf sie für sich selbst den höchsten Wert legt.«

Kongruenz

Die Beziehungen zwischen Organismus und Selbst sind durch Kongruenz bzw. Inkongruenz gekennzeichnet. Wenn die Erfahrungen, die das Selbst bilden, die tatsächlichen Erfahrungen des Organismus unverfälscht und unverzerrt abbilden, dann ist eine Person kongruent (oder reif, integriert, ausgeglichen, psychisch gesund). Inkongruenz liegt vor, wenn die Erfahrungen von Selbst und Organismus nicht übereinstimmen.

Ein populäres Beispiel ist der Junge, der wahrnimmt, dass es ihm Spaß macht, seine kleine Schwester zu ärgern. Wahrscheinlich haben seine Eltern dies aber verboten. Er wird sich vielleicht sagen, dass er ein braver Sohn ist, der seine Schwester nicht ärgert. Es besteht eine Inkongruenz zwischen Selbstkonzept (»Ich selbst bin ein braver Junge, der keinen Spaß darin findet, kleine Mädchen zu ärgern«) und der organismischen Erfahrung (»Es macht Spaß, kleine Mädchen zu ärgern«). Inkongruenz führt langfristig zu psychischer Fehlentwicklung der Person.

Aktualisierungstendenz

Die Entwicklungsdynamik der Person ergibt sich aus der Aktualisierungstendenz, d. h. der Tendenz des Organismus, sich zu entfalten und sich zu erhöhen. Als ein Beispiel für diese Tendenz kann das Bemühen des Kleinkindes interpretiert werden, unter Mühen und Anstrengung den aufrechten Gang zu lernen, obwohl das Krabbeln (zunächst) eine leichtere und effektivere Art der Fortbewegung darstellt.

Die Aktualisierungstendenz kann durch das Bedürfnis nach Zuwendung einerseits und/oder nach Schutz des Selbst andererseits beeinträchtigt werden. Wenn etwa eine Person versucht, so zu sein, wie man es von ihr erwartet, statt so zu sein wie sie selbst, dann tut sie das möglicherweise, um Zuwendung zu erhalten. Es entsteht eine entwicklungsbeeinträchtigende Inkongruenz. Personen haben auch das Motiv, ihr Selbst vor Veränderung oder Instabilität zu schützen. Erfahrungen, die mit dem Selbst nicht kongruent sind, werden als bedrohlich erlebt und dementsprechend abgewehrt (vermieden, verleugnet, verfälscht, usw.). Auch in diesem Fall entsteht eine entwicklungsschädigende Inkongruenz.

An dieser Stelle lässt sich der fließende Übergang zur Theorie der Psychotherapie beschreiben. In der Therapie muss es möglich sein, die Aktualisierungstendenz zu fördern, indem das Bedürfnis nach Zuwendung angemessen verwirklicht wird und inkongruente Erfahrungen nicht länger abgewehrt werden. Insgesamt geht es darum, Kongruenz herzustellen.

Die bereits zitierte Veröffentlichung (Rogers 1987) gilt als die authentische, grundlegende Darstellung der Theorie von Rogers selbst. Bereits vorher hatte er seine Theorie in Form von neunzehn Thesen beschrieben (Rogers 1973, S. 417 – 449).


»I.19 Thesen Jedes Individuum existiert in einer ständig sich ändernden Welt der Erfahrung, deren Mittelpunkt es ist.«
»II.Der Organismus reagiert auf das Feld, wie es erfahren und wahrgenommen wird. Dieses Wahrnehmungsfeld ist für das Individuum ›Realität‹.«
»III.Der Organismus reagiert auf das Wahrnehmungsfeld als ein organisiertes Ganzes.«
»IV.Der Organismus hat eine grundlegende Tendenz, den Erfahrungen machenden Organismus zu aktualisieren, zu erhalten und zu erhöhen.«
»V.Verhalten ist grundsätzlich der zielgerichtete Versuch des Organismus, seine Bedürfnisse, wie sie in dem so wahrgenommenen Feld erfahren wurden, zu befriedigen.«
»VI.Dieses zielgerichtete Verhalten wird begleitet und im allgemeinen gefördert durch Emotion, eine Emotion, die in Beziehung steht zu dem Suchen aller vollziehenden Aspekte des Verhaltens, und die Intensität der Emotion steht in Beziehung zu der wahrgenommenen Bedeutung des Verhaltens für die Erhaltung und Erhöhung des Organismus.«
»VII.Der beste Ausgangspunkt zum Verständnis des Verhaltens ist das innere Bezugssystem des Individuums selbst.«
»VIII.Ein Teil des gesamten Wahrnehmungsfeldes entwickelt sich nach und nach zum Selbst.«
»IX.
»X.Die den Erfahrungen zugehörigen Werte und die Werte, die ein Teil der Selbst-Struktur sind, sind in manchen Fällen Werte, die vom Organismus direkt erfahren werden, und in anderen Fällen Werte, die von anderen introjiziert oder übernommen, aber in verzerrter Form wahrgenommen werden, so als wären sie direkt erfahren worden.«
»XI.Wenn Erfahrungen im Leben des Individuums auftreten, werden sie entweder a) symbolisiert wahrgenommen und in eine Beziehung zum Selbst organisiert, b) ignoriert, weil es keine wahrgenommene Beziehung zur Selbst-Struktur gibt, oder c) geleugnet oder verzerrt symbolisiert, weil die Erfahrung mit der Struktur des Selbst nicht übereinstimmt.«
»XII.Die vom Organismus angenommenen Verhaltensweisen sind meistens die, die mit dem Konzept vom Selbst übereinstimmen.«
»XIII.Verhalten kann in manchen Fällen durch organische Bedürfnisse und Erfahrungen verursacht werden, die nicht symbolisiert wurden. Solches Verhalten kann im Widerspruch zur Struktur des Selbst stehen, aber in diesen Fällen ist das Verhalten dem Individuum nicht ›zu eigen‹.«
»XIV.Psychische Fehlanpassung liegt vor, wenn der Organismus vor dem Bewußtsein wichtige Körper- und Sinnes-Erfahrungen leugnet, die demzufolge nicht symbolisiert und in Gestalt der Selbst-Struktur organisiert werden. Wenn diese Situation vorliegt, gibt es eine grundlegende oder potentielle psychische Spannung.«
»XV.Psychische Anpassung besteht, wenn das Selbst-Konzept dergestalt ist, daß alle Körper- und Sinnes-Erfahrungen des Organismus auf einer symbolischen Ebene in eine übereinstimmende Beziehung mit dem Konzept vom Selbst assimiliert werden oder assimiliert werden können.«
»XVI.Jede Erfahrung, die nicht mit der Organisation oder der Struktur des Selbst übereinstimmt, kann als Bedrohung wahrgenommen werden, und je häufiger diese Wahrnehmungen sind, desto starrer wird die Selbst-Struktur organisiert, um sich zu erhalten.«
»XVII.Unter bestimmten Bedingungen, zu denen in erster Linie ein völliges Fehlen jedweder Bedrohung für die Selbst-Struktur gehört, können Erfahrungen, die nicht mit ihr übereinstimmen, wahrgenommen und überprüft und die Struktur des Selbst revidiert werden, um derartige Erfahrungen zu assimilieren und einzuschließen.«
»XVIII.Wenn das Individuum all seine Körper- und Sinneserfahrungen wahr- und in ein konsistentes und integriertes System aufnimmt, dann hat es notwendigerweise mehr Verständnis für andere und verhält sich gegenüber anderen als Individuen akzeptierender.«
»XIX.Wenn das Individuum mehr von seinen organischen Erfahrungen in seiner Selbst-Struktur wahrnimmt und akzeptiert, merkt es, daß es sein gegenwärtiges Wert-System, das weitgehend auf verzerrt symbolisierten Introjektionen beruht, durch einen fortlaufenden, organismischen Wertungsprozeß ersetzt.«

Bewertung

Die damit kurz skizzierte Persönlichkeitstheorie von Rogers erhält ihre volle Bedeutung nur in ihrer Verzahnung mit der Theorie zur Psychotherapie und der zwischenmenschlichen Beziehungen (Kap. 7.4.). Das von ihm entwickelte Konzeptder Therapie war bahnbrechend und beeinflusste nicht nur die zeitgenössische klinische Psychologie. Seine Denkweise hat in vielen Bereichen der Praxis von der Pädagogik bis hin zur Betriebspsychologie einen weiten Eingang gefunden. »Selbstverwirklichung« ist auch eines der Themen im alltäglichen Leben. Die von Rogers und Kolleginnen und Kollegen begründete und geförderte »humanistische Psychologie« ist eine der großen psychologischen Schulen der Gegenwart, deren Attraktivität sich auch an dem andauernden publizistischen Erfolg der hier zitierten Werke ablesen lässt (Rogers 2009, 2012).

3.2.4. Kenneth J. Gergen: Persönlichkeit als soziale Konstruktion

Die beiden bisher vorgestellten Persönlichkeitstheorien hatten – bei aller Unterschiedlichkeit – einen gemeinsamen Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, nämlich, dass jeder Mensch eine ihm eigene, unverwechselbare, beständige, stabile Persönlichkeit besitzt. Der im Folgenden vorgestellte Ansatz unterscheidet sich von diesen und anderen Persönlichkeitstheorien radikal dadurch, dass er den Gegenstand solcher Theorien, die Idee von Persönlichkeit selbst, kritisch hinterfragt und in ganz anderer Weise als die bisher vorgestellten Theorien psychologisch ausdeutet.

Kenneth Gergen ist Professor für Psychologie am Swarthmore College in Pennsylvania, USA. Einer seiner Vorgänger dort war Kurt Lewin. Aus umfangreichen Forschungsarbeiten zur Selbstwahrnehmung in der Rogers-Tradition heraus entwickelte er eine zunehmend kritische Haltung dem Selbst-Konzept gegenüber. Durch zahlreiche Gastaufenthalte in Europa, u. a. in Marburg und Heidelberg, hat er europäische, philosophische Denkhaltungen in seine Arbeiten integriert. Er gilt als einer der führenden Vertreter konstruktivistischen Denkens in der Psychologie. Gergen ist Mitbegründer des Taos Institute, New Mexico, zur Förderung sozialkonstruktivistischen Denkens in der Praxis.

»Wer bin ich?«, »Wer bin ich im Kern meines Wesens?«, »Welches ist mein wahrer Charakter?«, »Was ist mein eigentliches Ich?«, »Wer bin ich im Grunde meiner Persönlichkeit?«, »Durch welche Persönlichkeitsmerkmale bin ich bestimmt?« – Bevor Gergen sich mit solchen Fragen auseinandersetzt, beschäftigt er sich zunächst mit den Rahmenbedingungen, unter denen das Nachdenken über Persönlichkeit aus seiner Perspektive Sinn macht. Zwei dieser Rahmenbedingungen sind ihm besonders wichtig:

Psychologische Beschreibungsvokabulare für Persönlichkeit

Soziokulturelle Rahmenbedingungen für Persönlichkeit

Traditionen:

Bei der Sichtung des psychologischen Beschreibungsvokabulars stellt Gergen zwei unterschiedliche Traditionen der Auffassung von Persönlichkeit fest – er nennt diese Traditionen die romantische und die modernistische.

romantisch

Die romantische Tradition bestimmte die Persönlichkeitspsychologie des frühen 19. Jahrhunderts. Persönlichkeit wurde als im tiefsten Inneren des Menschen versenkte, irrationale, geheimnisvolle Innenwelt betrachtet, zu der allenfalls »Seelenverwandte« Zugang gewinnen konnten. Das Vokabular, in dem in dieser Tradition über Persönlichkeit gesprochen wurde, enthielt Begriffe wie »Leidenschaft«, »Inspiration«, »Genie«, »Impuls«, »Kraft«, etc. Diese romantische Tradition findet sich v. a. in der Literatur des 19. Jahrhunderts, aber auch Freud mit seiner Theorie des Unbewussten gehört noch zu dieser romantischen Tradition.

modernistisch

In der modernistischen Tradition wird der Mensch als beobachtbares, durchschaubares, kalkulierbares, zuverlässiges, authentisches, beständiges Wesen betrachtet, das auf der Grundlage von psychologischen Regelhaftigkeiten und Gesetzen agiert. Gergen vergleicht diese Betrachtung mit der Auffassung einer Maschine. Deutlich wird diese Auffassung z. B. in der Lerntheorie, in der »Lerngesetze« formuliert werden; deutlich wird die Auffassung aber auch in der kognitiven Wende in der Psychologie (vgl. Kapitel 2.1.), in der der Mensch als »informationsverarbeitender Apparat« betrachtet wird. Das Vokabular, in dem der Mensch beschrieben wird, ist dem Vokabular der entwickeltsten Maschine, dem Computer, entlehnt. Die modernistische Auffassung reaktiviert Grundgedanken der Aufklärung, z. B. die große Bedeutung von Vernunft. Sie führt zu der optimistischen Haltung, dass es mit Hilfe wissenschaftlicher Beobachtung und Theoriebildung möglich sein könne, Menschen planmäßig nach vorgegebenen Kriterien (zu ihrem Besten) zu verändern, z. B. auszubilden, zu schulen, oder weiterzuentwickeln.

postmodern

Diesen beiden Traditionen stellt Gergen eine dritte Beschreibungsweise gegenüber; diese nennt er »postmodern«. In dieser Beschreibungsweise werden Zweifel formuliert, ob es überhaupt (noch) Sinn macht, von einer einheitlichen Persönlichkeit oder einer Person-wie-sie-wirklich-ist zu sprechen. Diese Zweifel werden aus einer ganzen Reihe von Quellen gespeist; zum einen aus einer zunehmenden Kritik am Anspruch der Objektivität wissenschaftlicher Aussagen, d. h. dem Anspruch, zu sagen, »wie es ist«, und zum anderen aus der Vielzahl unterschiedlicher Theorien über »die Persönlichkeit«. »Es gibt heute keine Stimme, der zugetraut wird, die ›wahre Person‹ aus dem Meer der Portraitierungen retten zu können« (Gergen 1996, S. 232). Die Zweifel an der Gültigkeit der Vorstellung einer einheitlichen Persönlichkeit werden aber auch aus einer Betrachtung der soziokulturellen Entwicklung unserer Gesellschaft genährt. Damit kommen wir zum zweiten Punkt von Gergens Betrachtung – der Analyse aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen.

Gesellschaftliche Entwicklung

Gergens These ist, dass die Vorstellung einer einheitlichen, echten, authentischen, beständigen, zeitlich konstanten Persönlichkeit eines Menschen heutzutage nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Diese Vorstellung wird von einem zivilisatorischen Prozess zerstört, den er »soziale Sättigung« nennt (Gergen 1996, S. 94 ff.). Soziale Sättigung bedeutet v. a. eine dramatische Erweiterung des Beziehungsspektrums des modernen Menschen. Traditionelle Gesellschaftsformen zeichneten sich durch Konstanz und Begrenztheit der Sozialbeziehungen aus – man kannte nur die Leute aus dem eigenen Dorf. Demgegenüber ist es dem modernen Menschen möglich, mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakt zu treten und zu bleiben. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung haben die »Technologien der sozialen Sättigung« geleistet: moderne Verkehrssysteme (v. a. Flugzeug), Kommunikationstechnologien (Telefon, E-Mail, soziale Netzwerke) und Medien (Film, Fernsehen, Radio) und Computer. Die Technologie brachte »die Menschen in immer unmittelbarere Nähe zueinander, setzte sie einem immer größer werdenden Kreis anderer Menschen aus und förderte eine Spannbreite von Beziehungen, wie sie vorher niemals möglich gewesen wäre.« (Gergen 1996, S. 100). So ermöglichen es diese Technologien z. B., Beziehungen weiter zu führen, auch wenn man mittlerweile räumlich getrennt ist (z. B. in eine andere Stadt gezogen ist) und sie beschleunigen die Beziehungsentwicklung (z. B. von der Beziehungsqualität der Bekanntschaft zur intimen Beziehung).

Gergens These ist, dass das Vokabular unserer Selbstverständigung unter diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr funktioniert. Dies Krisen der Selbstverständigung führt zu einer Vielzahl praktischer Krisen der Selbstverständigung, auf die Gergen aufmerksam macht. Beispiele sind:

man fühlt sich überfordert, all die Beziehungen, die man eingehen konnte, auch zu pflegen und zu wahren;

man entwickelt Schuldgefühle dem eigenen Selbst gegenüber, weil man laufend in bestimmten Rollen agiert, die mit der Selbstwahrnehmung in Konflikt stehen. Man empfindet, dass man dem eigenen Selbst gegenüber »untreu« wird;

man empfindet Unbehagen angesichts der Oberflächlichkeit, mit der man sich in Interaktion bewegt, man beklagt die fehlende Tiefe von Kontakten und Beziehungen;

man ist irritiert, weil die Vorstellung von Aufrichtigkeit, die für die traditionelle Selbstbeschreibung zentral ist, angesichts aktueller gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht mehr gewahrt werden kann, weil Beziehungen zu Anderen immer auch aus strategischen Gründen oder zweckgerichteten Absichten geknüpft und aufrechterhalten werden;

man ist befremdet angesichts der Vermarktung von Persönlichkeiten, z. B. in Wahlkämpfen; und spürt die Ohnmacht, angesichts des öffentlichen Bildes eines Menschen seinen wahren Charakter zu erfassen.

Beziehungs-Selbst

Diese zunehmende Trennung von der Vorstellung eines stabilen Persönlichkeitskerns bzw. einer wahren Identität oder eines inneren Wesens macht den Weg frei für eine andere Auffassung des Selbst, eine Auffassung, in der man sich selbst als Ensemble der Sozialbeziehungen begreift, in die man involviert ist – das Selbst als Beziehungsgeflecht. Gergen spricht vom »Beziehungs-Selbst«. Während in den traditionellen Ansätzen das Primat stets auf dem Individuum lag und Sozialbeziehungen gleichsam als Komposition einzelner Individualitäten betrachtet wurden, dreht Gergen dieses Verhältnis um: Man ist jemand stets nur in Bezug auf jemanden anderes. »Wenn es nicht das individuelle ›Ich‹ ist, das Beziehungen schafft, sondern es Beziehungen sind, die das ›Ich‹-Gefühl schaffen, ist das ›Ich‹, das als gut oder schlecht usw. eingeschätzt wird, nicht mehr das Zentrum für Erfolg und Versagen. ›Ich‹ bin nur ein Ich durch die bestimmte Rolle, die ich in einer Beziehung spiele. Erfolge und Versagen, die Erweiterung des Potentials, Verantwortung usw. sind einfach Eigenschaften, die jedem Wesen zugewiesen sind, das einen bestimmten Platz in gewissen Beziehungsformen einnimmt« (Gergen 1996, S. 257).

Gergen betont, dass es töricht wäre, »zu behaupten, dass das Bewusstsein eines Beziehungs-Selbst in der westlichen Kultur weiträumig geteilt wird« (Gergen 1996, S. 257). Gleichwohl beobachtet er, dass sich in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen eine solche Auffassung tendenziell durchsetzt: in der Geschäftswelt wird das Leitbild des autonomen, sich durchsetzenden Selfmade-man zunehmend durch die Vorstellung des interpersonellen Systems ersetzt; in der Psychotherapie konzentriert man sich bei der Behandlung von Klienten zunehmend auf das soziale Netzwerk, innerhalb dessen der Klient eine Rolle spielt (v. a. Familientherapie); in Filmen und in der Literatur tritt die Rolle des großen oder einsamen Helden zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen werden Beziehungsgeflechte bzw. »Netze gegenseitiger Abhängigkeit« (Gergen 1996, S. 260) zum Thema gemacht.

Gergen zeigt an zwei Bereichen dessen, was wir gemeinhin zum Kernbereich unserer Individualität zählen, wie stark diese Bereiche durch die Beziehungsmuster, in denen wir leben, durchdrungen sind: individuelle Biographie und Gefühlswelt.

Biographie

Wir begreifen uns traditionell als mit einer persönlichen Geschichte ausgestattet (Biographie) und verstehen uns so, dass diese Geschichte mit all ihren Erinnerungen an Besonderheiten, Ereignisse, Empfindungen, mit Berufungen, Karriere und Schicksal unsere Individualität wesentlich ausmacht. Jeder Mensch – so sagt man – hat seine individuelle Geschichte. Aber man bildet sich seine Geschichte auf der Grundlage gesellschaftlich verbreiteter Erzählweisen, auf der Grundlage von Mustern wie (Miss-)Erfolgsgeschichte, Heldenepos, Tragödie, und die Inhalte unserer Biographie werden in Kommunikationsprozessen mit relevanten Anderen (Familie, Therapeut) entwickelt, formuliert, ausgehandelt, bestätigt oder verworfen.

Gefühlswelt

Wir begreifen uns traditionell (romantisch) am persönlichsten, privatesten und natürlichsten in unserer Gefühlswelt – aber was wir als natürliche Gefühle empfinden, ist geprägt von den gesellschaftlich vorgegebenen Emotionsmustern, mit denen wir Zustände physiologischer Erregung situativ angemessen deuten und etikettieren.

Individualität als Collage

Auf der Grundlage dieser Überlegungen nimmt für Gergen Individualität die Gestalt einer Collage an – eine Komposition unzusammenhängender, widersprüchlicher, konkurrierender, vorgefertigter Versatzstücke des kommunikativen Lebens eines Menschen. Gergen hebt drei Aspekte dieser Collage hervor (Gergen 1996, S. 289ff.):

Wir bestehen aus Fragmenten anderer Menschen, deren Auffassungen, Haltungen, Beurteilungskriterien, deren Gesten und Stimmen wir verinnerlicht haben.

Wir existieren als Teilnehmer in Sozialbeziehungen, d. h. wir begreifen uns als Teil solcher Beziehungen in Gestalt einer Rolle, die wir spielen möchten, wozu wir aber Mitspieler benötigen (»soziale Komplizenschaft«); diese Beziehungen sind aber aufgrund der sozialen Sättigung Teilbeziehungen, die voneinander abgegrenzt und in ihrer Geltung begrenzt sind; entsprechend bedürfen sie »nicht des vollen Selbstausdrucks«, sondern fordern uns nur in fragmentierter Weise.

Wir schlüpfen in Ersatzwesen, in Figuren und Rollen, die uns aus überlieferten Beziehungsmustern geläufig und vertraut sind und die wir gleichsam »nachspielen«. Film und Fernsehen sind unsere Hauptlieferanten, die uns Ersatzwesen zur Verfügung stellen.

Konsequenzen

Gergen ist sich bewusst, dass seine Auffassung Konsequenzen für das Selbstverständnis von Menschen haben kann, die beunruhigend und bedrohlich erscheinen. »An diesem Punkt der Analyse erscheinen die Alltagsverhältnisse der postmodernen Welt sehr problematisch. Tiefe Beziehungen sind am Aussterben, das Individuum ist wegen des Aufgebots an Teilbeziehungen gespalten, und man lebt sein Leben als eine Serie unzusammenhängender Posen. Da der konstruierte Charakter der Ersatzidentitäten immer offensichtlicher wird, verliert das Selbst sowohl für den Darsteller als auch für das Publikum seine Glaubwürdigkeit. Das Alltagsleben scheint sich in ein Spiel oberflächlicher Heuchelei zu verwandeln, in ein Scherzo der Trivialität« (Gergen 1996, S. 300 f.). Er entwickelt aus seinen Betrachtungen aber auch Konsequenzen, die ein anderes Bild zeichnen:

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