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Die schrittweise Islamisierung der Gesellschaften

Durch die weltweite Verbreitung der wahhabitischen und konservativen sunnitischen Glaubensrichtung trat die saudische Außenpolitik jenen Missionaren der al-Azhar-Universität Kairo entgegen, die Nasser in alle Winkel der Erde ausgesandt hatte, um die Vereinbarkeit von Islam und Sozialismus zu verkünden – ein Nebenprodukt des Kalten Kriegs, in dessen Verlauf sich jede Seite bemühte, den Islam für eigene Zwecke einzuspannen. Kronprinz Faisal gründete dazu am 15. Dezember 1962 in Mekka die Islamische Weltliga, just in dem Moment, in dem die von der Sowjetunion trainierten ägyptischen Truppen im Jemen eintrafen und die Grenze zu Saudi-Arabien bedrohten. Bis 1973 spielte die Islamische Weltliga im großen ideologischen Kampf zwischen Moskau und Washington und ihren jeweiligen Verbündeten jedoch nur eine untergeordnete Rolle, als in der Auseinandersetzung ein sprachliches Register gezogen wurde, das der Religion nur einen nachrangigen Platz zuwies. Nach dem Untergang des Nasserismus erhielt die Islamische Weltliga dank des gestiegenen Ölpreises bedeutende Geldmittel zu ihrer Verfügung, um den saudischen Einfluss weltweit zu verbreiten. Saudi-Arabien wurde, regional wie international, zum Herz des neuen, islamischen Raums, der auf der arabischen Halbinsel sein Zentrum hatte. Fortan kam es darauf an, die entstehende Hegemonie zu festigen und durch ein karitatives und zielgerichtetes Mäzenatentum die Rechtfertigung dafür zu schaffen, dass die Ölrente von den radikalsten Sunniten als Lohn für ihren strengen Glaubenseifer vereinnahmt wurde. Die Liga ließ sich jedoch nicht in die internen Streitigkeiten hineinziehen, die ihren Glanz beschädigt hätten: Sie beschränkte sich auf das Ziel, gegen die »Neuerungen« zu kämpfen, die die »reine und authentische Botschaft des ursprünglichen Islam« entstellten – was vor allem auf den mystischen Sufismus abzielte –, und überließ den Muslimbrüdern ihren Platz. Damals galten diese als Verbündete im globalen Bemühen um die Islamisierung der Gesellschaften und als Akteure, welche die zu bekehrende moderne Welt besser kannten als die etablierten saudischen Ulemas.

In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, als viele Muslime in Europa, vor allem Gastarbeiter, massiv von der Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit betroffen waren, zu denen die Vervierfachung des Ölpreises maßgeblich beigetragen hatte, eröffnete die Liga erste Büros und Moscheen auf dem alten Kontinent. Ziel war es, die entstehende Islamisierungsbewegung in diesen von einer Identitätskrise erschütterten Milieus zu flankieren, also bei Millionen von eher zufällig sesshaft gewordenen Individuen, die sich dafür entschieden hatten, in ihren Aufnahmeländern zu bleiben, auch wenn dort die unqualifizierten Arbeitsplätze immer weniger wurden.

Ägypten war zwar durch seine enormen Militärausgaben und das demografische Gewicht gehemmt, blieb aber dennoch weiterhin ein potenzieller Gegenpol zur Ausbreitung des Wahhabismus, vor allem dank der langen glanzvollen Geschichte der al-Azhar-Universität, in der die von den Salafisten verabscheute Sufi-Bruderschaft stark vertreten war. So blieb Ägypten ebenfalls im Visier der Liga. Ägypten musste stabil, aber auch in ständiger Abhängigkeit gehalten werden, damit es nie auf die Idee käme, sich der neuen saudischen Führungsrolle entgegenzustemmen. Bevor Sadat wegen seiner Reise nach Jerusalem und seiner Rede vor der Knesset am 20. November 1977 von der arabischen Welt mit einem Bann belegt wurde, hatte er selbst das Spiel der Islamisierung gespielt. Er trug die berühmte zabiba (»Rosine«), wie man in Ägypten den Gebetsfleck auf der Stirn eines Gläubigen nennt, der sich fünf Mal am Tag zum Gebet auf den Boden niederwirft. Auch ergänzte er seinen offiziellen Titel um den vormals nicht verwendeten Vornamen Mohamed und verfügte, dieser müsse vor dem offiziellen Titel des »gläubigen Präsidenten« (al rais al moumin) genannt werden. In Ägypten entstanden zahlreiche neue Moscheen, riesige, neongrün gestrichene Bauten, deren aufgedrehte Lautsprecher die städtische Kakofonie übertönten. Auf sämtlichen Flügen von Egypt Air wurde Alkohol verboten, und bald investierten die unter Nasser an den Golf emigrierten Muslimbrüder ihre Petrodollar wieder in islamische Banken, die schariakonforme Geschäfte betrieben. Das Jahrzehnt von Sadats Präsidentschaft veränderte auch das Erscheinungsbild der Menschen im Land, denn immer mehr Ägypterinnen trugen nun einen Schleier.

All diese Maßnahmen hatten prophylaktische Funktion: Das mit antizionistischer Propaganda übersättigte Volk sollte die Kehrtwende akzeptieren, die 1979 mit dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag eingeleitet wurde. Sie konnten freilich nicht verhindern, dass sich die islamistische Protestbewegung radikalisierte, im Gegenteil. Diese fand einen fruchtbaren Boden vor, in dem sie tiefe Wurzeln schlagen konnte. Und sie sollte dem »gläubigen Präsidenten« zum Verhängnis werden: Am 6. Oktober 1981 wurde Sadat während einer Militärparade zu Ehren der »Helden der Überquerung« des Sueskanals von der »Organisation al-Dschihad« ermordet. Dass dem unbeliebten ägyptischen Pharao in seinem Heimatland kaum jemand eine Träne nachweinte, habe ich in Kairo, meinem damaligen Wohnort, selbst miterleben können. Unter den für den ägyptischen Humor so typischen zynischen Witzen gehörte die Geschichte eines Straßenfegers zu den bekanntesten. Dieser säubert am Tag nach dem Attentat auf Sadat den Boden vor der Ehrentribüne und findet eine Art Rosine auf dem Boden: »Was ist denn das? Ach so, ja, die zabiba des Präsidenten!« Der Gebetsfleck auf der Mitte der Stirn, mit dem Sadat seine Frömmigkeit zur Schau stellte, war also nur aufgeklebt.

Ein weiterer Meilenstein in der schrittweisen Islamisierung des Nahen und Mittleren Ostens war der libanesische Bürgerkrieg, der das Repertoire der politischen Mobilisierung in religiöse Kategorien überführte. Die politische Mobilisierung war bis dahin vom Nationalismus bestimmt gewesen, angestachelt von der zentralen Bedeutung des »palästinensischen Widerstands« gegen den »zionistischen Feind«, und hatte sich in die globale Auseinandersetzung zwischen dem sowjetischen und dem US-amerikanischen Block eingefügt. Die palästinensische Militärpräsenz im Libanon war durch eine am 3. November 1969 in Kairo unterschriebene, geheime Vereinbarung zwischen dem Chef der libanesischen Armee und Jassir Arafat zustande gekommen. Mit ihr wurde im Süden des Landes, an der Grenze zu Israel, eine Art Staat im Staate geschaffen, dem sich nach den Massakern des »Schwarzen Septembers« 1970 immer mehr Kämpfer aus Jordanien anschlossen, die mit Unterstützung der arabischen Staaten schrittweise in den Libanon umgesiedelt wurden. Für die arabischen Staaten ging es darum, gegenüber ihrer Bevölkerung eine gesichtswahrende Lösung zu finden, indem sie nahe der »zionistischen Einheit« ein Zentrum errichteten, von wo aus sie den nötigen Druck eines Guerillakampfes mittlerer Intensität aufrechterhalten konnten. Die Vorstellungswelt des Widerstands hatte damit ihren Zenit erreicht, verstärkt noch durch das jämmerliche Bild, das die arabischen Armeen während des Sechs-Tage-Kriegs geboten hatten. Die linken Zeitungen im Quartier Latin, wo ich Schüler gewesen war, lieferten in diesen Tagen Überschriften wie »Der palästinensische Widerstand wird den Vertrag von Kairo hinwegfegen« oder »Der Weg nach Jerusalem geht über Amman, Beirut und Kairo«. Im weltweiten Kampf für die Durchsetzung des Sozialismus wurde hier die »zionistische Einheit« mit der »arabischen Bourgeoisie« gleichgesetzt.

Die grandiosen Projekte eines marxistischen Messianismus führten nirgendwohin; im Gegenteil, das zerbrechliche konfessionelle Gleichgewicht des Libanon wurde durch den Aufbau einer bewaffneten Bewegung durcheinandergebracht. Die nach ihrer nationalen Identität ganz und gar palästinensische Bewegung war eine muslimische und sunnitische Kraft – also weder christlich noch schiitisch. Im Mosaik des Zedernstaats wurde der Bevölkerungsanteil der Maroniten stetig kleiner, dabei war doch für sie 1920 unter französischem Völkerbundmandat der Libanon gegründet worden, und ihm verdankten viele Maroniten ihren Wohlstand und Aufstieg in die Mittelschicht. Im Gegenzug wuchs die Bedeutung der verarmten und marginalisierten schiitischen Bevölkerung deutlich an, was zu einer Landflucht und dem Entstehen eines gigantischen »Vororts« (dahiye) im Süden Beiruts führte. In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre – also vor der iranischen Revolution 1978–1979, die die besondere Identität dieser Gruppe herausstellte – betrachtete man die Schiiten im Libanon eher undifferenziert als Muslime und zählte sie damit zur Klientel der sunnitischen Würdenträger, aus deren Mitte der Ministerpräsident bestimmt wird (der Staatspräsident, der die Regierungskontrolle in Händen hielt, muss laut Verfassung maronitischer Christ sein). Parallel dazu verstärkte die Ansiedlung der bewaffneten palästinensischen Organisationen die Muslime im Land insgesamt, die auf eine Reform des politischen Systems zu ihren Gunsten und auf Kosten der Christen drangen. In der Tat entwickelten die Palästinenser, die nahe der Grenze zu Israel im Süden des Libanon lebten, zur dort vorherrschenden schiitischen Bevölkerung eine ganz besondere Beziehung. Abu Dschihad, ein Stellvertreter Arafats, half Mitte der 1970er-Jahre dabei, die ersten schiitischen Parteien zu gründen wie etwa Amal oder die »Bewegung der Entrechteten« des Imam Musa as-Sadr. Wegen Gebietsstreitigkeiten und den vom Libanon aus abgeschossenen palästinensischen Katjuscha-Raketen, die israelische Bombardements auf den ganzen Süden des Landes nach sich zogen, traten nun allerdings Spannungen zutage. Während der Iranischen Revolution bot Arafat Chomeini 1978 organisatorische Mitarbeit an und erbat später Fatwas zugunsten der »palästinensischen Revolution«, um die Feindseligkeiten mit der schiitischen Bevölkerung zu verringern. Mit der Ausweitung der israelischen Angriffe nach 1972 verschlechterte sich insgesamt das Verhältnis zwischen dem libanesischen Staat, insbesondere dem christlichen Bevölkerungsanteil, und den Palästinensern.

All diese Gründe erklären den Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs am 13. April 1975, als ein Angriff von Phalange-Milizionären (Maroniten) auf einen Bus mit Palästinensern 27 Todesopfer forderte. Mit seiner Reaktion sicherte sich das »islamisch-progressive« Lager, dem die Palästinenserorganisationen die entscheidende Feuerkraft verliehen, die militärische Überlegenheit, und zwar zunächst mit syrischer Billigung. Im Juni 1976 jedoch ließ Hafiz al-Assad seine Armee in den Libanon einmarschieren, um das Gleichgewicht wiederherzustellen und Kapital daraus zu schlagen. Die syrische Besetzung eines Großteils des Landes dauerte fast drei Jahrzehnte und endete erst im April 2005. Von den vielen Wendungen des Bürgerkriegs, zu denen unter anderem der Einmarsch Israels im Südlibanon 1978 und zwischen 1982 und 1985 dann im gesamten Land bis an die Grenzen der Hauptstadt gehören, aber auch die Entführung westlicher Geiseln sowie die Bruderkriege zwischen christlichen Fraktionen, sind für meine Betrachtungen zwei Ereignisse entscheidend. Erstens die Gründung der Hisbollah Ende 1982, die seit 1985 offiziell existiert. Auf Betreiben von Chomeinis Iran gegründet, sollte diese schiitische Partei drei Jahrzehnte später das politische Leben des Libanon bestimmen, nachdem sie den Widerstand gegen Israel von der PLO übernommen hatte. Zweitens besiegelte das 1989 im saudi-arabischen Taif geschlossene Abkommen die Niederlage der Christen, indem es die politische Macht vom maronitischen Staatspräsidenten auf den sunnitischen Ministerpräsidenten übertrug. Der bedeutendste Profiteur dieser Regelung war der libanesisch-saudische Milliardär Rafiq al-Hariri, der ab 1992 wiederholt den Posten des Ministerpräsidenten einnahm und die zerstörte Innenstadt von Beirut wiederaufbauen ließ. Dieses »Solidere« genannte Projekt sollte die Wirtschaft des Landes ankurbeln – bis zu Hariris Ermordung am 14. Februar 2005 durch einen Anschlag auf seine Fahrzeugkolonne in eben dem Stadtteil, dem er so sehr seinen Stempel aufgedrückt hatte.

Die deutliche Umgestaltung des Libanon in einen sunnitischen Raum spiegelte sich an der Demarkationslinie zwischen der christlichen und der muslimischen Zone der Hauptstadt, im zerstörten Suq-Viertel und sichtbar im Bau der »Hariri-Moschee« wider, die so gewaltig ist, dass sie die benachbarte maronitische Kathedrale beinahe erdrückt. Paradoxerweise stellte das Abkommen von Taif, obwohl es ausdrücklich darauf abzielte, Muslime auf Kosten der Christen zu stärken, in Wirklichkeit doch einen schwachen Versuch der Sunniten dar, dem unaufhaltsamen Aufstieg der schiitischen Gemeinschaft einen Riegel vorzuschieben. Diese war zur inzwischen größten Bevölkerungsgruppe des Landes herangewachsen und wurde über den Umweg der Hisbollah vom Iran unterstützt und bewaffnet. Um die Logik des Aufstiegs einer schiitischen Macht in Konkurrenz zu Saudi-Arabien im islamischen Raum zu verstehen – aus dem sich letzten Endes auch der syrische Bürgerkrieg 2018 als Konsequenz ergab –, müssen wir uns in die Perspektive der Ereignisse des Schlüsseljahrs 1979 begeben. Es begann mit der Rückkehr Chomeinis nach Teheran im Februar und endete am Weihnachtstag mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan sowie dem dortigen Beginn des sunnitischen Dschihad. Unterdessen hatten im März Israel und Ägypten in Washington auch ihren Friedensvertrag unterzeichnet.

Das Schlüsseljahr 1979: Überbietungswettbewerb zwischen Schiiten und Sunniten

Wie alle Erdöl exportierenden Länder hatte auch der Iran in großem Umfang vom Anstieg des Barrelpreises profitiert – selbst wenn er, als nicht-arabischer Staat, zu keinem Zeitpunkt an der Entscheidung für das Embargo im Oktober 1973 beteiligt gewesen war. Doch Schah Mohammad Reza Pahlavi setzte in der Folge einen Überbietungswettbewerb in Gang. In der Vervierfachung des Ölpreises erkannte er die Möglichkeit, sein Land zu einem der führenden Staaten weltweit zu machen, und gab seine überdimensionierten Pläne durch große Anzeigen in der internationalen Presse bekannt. Der Schah stieg in die europäische Firma zur Urananreicherung Eurodif ein und beunruhigte damit seine Nachbarstaaten am Golf, die eine iranische Vorherrschaft in der Region befürchteten. Seine Megalomanie zeigte sich beispielsweise in den prunkvollen Feierlichkeiten in Persepolis, wo im Oktober 1971 für mehrere Milliarden US-Dollar die 2500-Jahr-Feier der Gründung des Perserreiches begangen wurde. Ansonsten profitierten von den enormen Erdöl-Einnahmen vor allem seine Vertrauten, die Armee und der Staatsapparat, wohingegen die Zivilgesellschaft gewalttätigen Repressionen durch die Polizei ausgesetzt war. Der Abstieg der Mittelschicht, verkörpert durch die Basarhändler oder die schiitischen Kleriker, die aus ihr hervorgegangen waren, förderte die soziale Krise. Verschlimmert wurde sie noch durch den Zustrom von Menschen aus ländlichen Gebieten in die Städte, wo ihre Hoffnung enttäuscht wurde, vom Geldsegen der Ölerträge zu profitieren; sie bildeten ein riesiges Proletariat der »Entrechteten«. Vor diesem Hintergrund wandten sich zahlreiche Empfänger großzügiger Stipendien, die zu Zigtausenden zum Studium in den Westen entsandt worden waren, um den Iran der Zukunft aufzubauen, schließlich gegen das autokratische und korrupte Herrscherregime.

Im November 1977 löste der Schah mit seinem Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten, in denen sich der demokratische Präsident Jimmy Carter gerade von seinem Vorgänger Richard Nixon abzusetzen und die US-Außenpolitik zu »moralisieren« versuchte, gewalttätige Gegendemonstrationen aus. Das Tränengas, das die Polizei einsetzte, um die vor allem marxistischen oder linken Studenten und Aktivisten von der Mall in Washington zu vertreiben, wurde vom Wind in den Rosengarten des Weißen Hauses geweht, sodass Mohammad Reza Pahlavi seine Radio- und TV-Ansprache unter Tränen abbrechen musste. Die symbolische Wirkung dieser Bilder setzte dem Regime zu und ermutigte die iranische Opposition, zumal die US-amerikanischen Forderungen nach einer Anerkennung der Menschenrechte zu einer Mäßigung der Repression führten. Wie dann in Algerien 1988 und bei dem »arabischen Aufstand« zu Beginn der 2010er-Jahre wässerten die religiösen Kräfte die schon gelegte revolutionäre Saat, um damit die Bewegung für sich zu vereinnahmen und nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Wie in den benachbarten arabischen Staaten, in denen modernisierende Autokraten den Laizismus im Dienste ihrer Diktatur missbrauchten und die Legitimität einer demokratischen Opposition, die ebenfalls diese Ideale vertrat, damit kompromittierten, hatte auch der Iran unter Pahlavi eine solche Polarisierung bevorzugt. Auf der einen Seite stand noch die kommunistische Partei, auf der anderen standen die am stärksten politisierten Gruppen der schiitischen Kleriker.

Trotz des von den Marxisten behaupteten Atheismus existierte zwischen diesen beiden Gruppierungen eine Art struktureller Affinität: Wie bei den leninistischen Organisationen ist der schiitische Klerus hierarchisch aufgebaut und immer in der Lage, effektiv für die Verbreitung von Slogans und die Mobilisierung der Anhänger zu sorgen (was sie von der sunnitischen Welt unterscheidet, in der durch die verschiedenen, zueinander in Konkurrenz tretenden Ulemas die religiöse Autorität zersplittert ist). Dank dieses kostbaren Werkzeugs kann unablässig die revolutionäre Bewegung im Kampf gegen die Herrschenden angetrieben werden. Diese Ähnlichkeit manifestierte sich in zahlreichen islamisch-marxistischen oder islamisch-linksgerichteten hybriden Gruppierungen. Zu den bekanntesten gehören die Volksmudschaheddin, die bereits im Namen die Ideale des Dschihad und des Populismus kombinieren. Diese Verbindung geht zurück auf den Intellektuellen Ali Schariati, der aus einer Klerikerfamilie stammte und seine letztgültige Ausbildung im Quartier Latin erhalten hatte. Er übersetzte Frantz Fanons Werk Die Verdammten dieser Erde ins Farsi und formulierte die berühmte marxistische Gegenüberstellung von »Unterdrückten« und »Unterdrückern« in korankonformes Vokabular um, wenn er von »Entrechteten« (mostadafin) und »Selbstgefälligen« (mostakbirin) sprach. Diese Neuformulierung griff jedoch nicht die gleichen Kategorien auf wie das Original: Indem sie den Begriffen eine starke religiös-moralische Bedeutung mitgab, ermöglichte sie es, die Grenzen des Klassenkampfs zu verschieben. Damit gehörten zur großen Gruppe der »Entrechteten« nun alle Gegner des Schahs, vom Kaufmann im Basar bis hin zum nach der Landflucht gebildeten Proletariat. In diesem Verständnis vereinigten sich im revolutionären Prozess und unter der Führung eines Klerus, der für eine ähnliche Ideologie gewonnen wurde, die fromme Mittelschicht und die arme, städtische Jugend, die, streng sozial betrachtet, eigentlich Gegenspieler hätten sein müssen.

Ajatollah Chomeini verbrachte von 1964 bis 1978 sein Exil in der den Schiiten heiligen irakischen Stadt Nadschaf und ging anschließend in den Pariser Vorort Neauphle-le-Château. Bei seiner triumphalen Rückkehr nach Teheran am 1. Februar 1979 bewies er das politische Genie, die eben beschriebene Möglichkeit aufzugreifen und sich für die Sache der »Entrechteten« einzusetzen. Es gelang ihm, den Klerus, der ihm anfangs nicht wohlgesinnt war, zu kontrollieren und die linken Bewegungen zu instrumentalisieren, bevor er sie dann nach seinem Sieg und der Verkündung der »Islamischen Republik« aus dem Weg räumte. Dazu griff er, ganz ähnlich wie es der Salafismus in der sunnitischen Welt tat, auf eine fundamentalistische und von jedem Dogma »gereinigte« Form zurück, die sich deutlich von den im Laufe der Geschichte entwickelten Kompromissen zwischen den Ajatollahs und den Herrschern absetzte. Nach Chomeinis Auffassung repräsentiert der Imam Hussein, als Märtyrer im Oktober 680 im Kampf gegen Soldaten des sunnitischen Kalifen Yazid gestorben, die erhabene Inkarnation der »Entrechteten«, während der Schah den »selbstgefälligen« Yazid personifizierte. Indem er so die Grundlagen des durch seine Ideologie neu interpretierten Glaubens mit den Gegebenheiten der Gegenwart zusammenführte, gelang Chomeini eine beachtliche Mobilisierung, die die Oberhand über alle übrigen Anhänger der Opposition und auch des Königshauses gewann.

Folglich entwickelte sich Chomeini, der an Bord einer Air-France-Maschine nach Teheran zurückgekehrt war und sich fortan »Revolutionsführer« nennen ließ, nun im Kontext der Islamisierung des Nahen und Mittleren Ostens, die sechs Jahre zuvor vom saudischen Königshaus und seinen Alliierten mit dem Ramadan-Krieg und der Vervielfachung des Ölpreises begonnen worden war, zu einer besonders starken, konkurrierenden schiitischen Kraft. Der Antagonismus zwischen Sunniten und Schiiten sollte zur wichtigsten Triebfeder der Kriege und Krisen werden, die die Region in den folgenden vier Jahrzehnten heimsuchten. Er reichte sogar darüber hinaus und traf durch den wiederkehrenden Export des islamistischen Terrors besonders Europa, wo er die hier lebenden muslimischen Migranten zu seinen Geiseln machte. Infolge der schwankenden Ölpreise sollte dieser Gegensatz schließlich sogar jene Bruchlinie relativieren, die der arabische Nationalismus nach den Unabhängigkeitsbewegungen herausgebildet hatte – den israelisch-palästinensischen Konflikt –, bis er schließlich Teil der bestehenden Logik der Auseinandersetzungen wurde (wie seine Vereinnahmung durch die libanesische Hisbollah und die palästinensische Hamas zeigt, die beide unter dem Einfluss Teherans stehen). Die Dynamik dieses Konflikts wurde durch den unablässigen Überbietungswettbewerb geschürt und vollzog sich auf Kosten einer ständigen Verschlimmerung des Chaos inmitten der Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens. Was vor allem an einer unverantwortlichen Politik lag, die durch die Öleinnahmen möglich geworden war und bis in die Mitte der 2010er-Jahre als endlos weiterführbar angesehen wurde.

Die Herausforderung der Iranischen Revolution für Saudi-Arabien und seine Verbündeten war beachtlich, denn der Iran beschränkte nun die Reichweite einer Islamisierung unter sunnitischer Führung und nahm ihr die soziale und heroische Anmutung. Die über die Emire der arabischen Halbinsel laufende, lockere Verknüpfung eines weltweiten salafistischen Netzes und die finanzielle Unterstützung, die zu dieser Zeit ein Großteil von ihnen der internationalen Muslimbruderschaft zukommen ließ, entzündeten keinen solchen Enthusiasmus, wie ihn die Ereignisse im Iran bei der muslimischen Bevölkerung weltweit spontan auslösten. Umso mehr, als der Diskurs Chomeinis gleichzeitig zwei globale Feinde ins Visier nahm: den »großen Satan« Amerika (sowie in dessen Begleitung den »kleinen Satan« Frankreich, trotz aller in Neauphle-le-Château gewährten Gastfreundschaft), aber auch die Ölmonarchien, die er schlicht als Lakaien der Vereinigten Staaten darstellte. Indem Chomeini sich den Ideen Schariatis und damit einer weltweiten Dritte-Welt-Bewegung anschloss und die Vereinigten Staaten attackierte, ging er über die einfache religiöse Dimension hinaus. Das wiederum trug ihm Sympathien bis nach Lateinamerika ein. Und durch die Kritik an den Ölmonarchien versuchte er, über die rein persische und schiitische Identität (die nur etwa 15 Prozent der Muslime weltweit bilden) hinauszuwirken, um die Führung des universellen Islam durch die wahhabitischen Herrscher, »die Wächter der zwei Heiligen Stätten«, infrage zu stellen.

Die amerikanisch-saudische Antwort auf die Iranische Revolution bestand zum einen im Dschihad in Afghanistan. Die Gelegenheit dazu war die Vergeltung für den Einmarsch der Roten Armee an Weihnachten 1979. Im selben Jahr wurde am 26. März auch der ägyptisch-israelische Friedensvertrag unterzeichnet – ein Zeichen für die Verschiebung der Hauptkonfliktlinie vom Nahen Osten und der Mittelmeerregion hin zum Persischen Golf und nach Zentralasien. Anders noch als bei den sowjetischen Interventionen in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968, die im Rahmen der Jalta-Verträge stattfanden und keinerlei militärische Reaktion der »freien Welt« nach sich zogen, verstieß die Ankunft von Fallschirmjägern und Panzern in Kabul gegen die Regeln, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aufgestellt worden waren. Breschnew sah sich zum Handeln gezwungen, um die örtlichen Kommunisten an der Macht zu halten, die in ihrem atheistischen Bekehrungseifer auf den allgemeinen Widerstand einer in Volksgruppen und dem ländlichen Leben äußerst verhafteten Gesellschaft mit starken traditionellen Normen gestoßen waren. Das Weiße Haus konnte eine erneute Schmach nicht einfach hinnehmen, war es vier Jahre zuvor doch bereits in Vietnam unterlegen und hatte Anfang 1979 mit dem Iran einen Verbündeten verloren. Letzteres war ein durchaus relevantes geopolitisches Problem, da der Schah zuvor die Rolle eines »Polizisten am Golf« übernommen und die unermesslichen Ölvorräte des Landes damit dem sowjetischen Zugriff entzogen hatte. Darüber hinaus mussten die Vereinigten Staaten eine beispiellose Demütigung erleiden, nachdem »Studenten von der Linie des Imam« am 4. November Geiseln in der US-Botschaft in Teheran genommen hatten und der Versuch ihrer Befreiung gescheitert war. Die sowjetische Militärpräsenz in Afghanistan, einem Nachbarland des Iran, dessen eigene kommunistische Partei Tudeh zu den revolutionären Kräften gehörte (Chomeini ging erst in seinen letzten Jahren gegen sie vor), frischte, über den Verstoß gegen den Pakt von Jalta hinaus, die amerikanische Angst vor Moskaus Durchbruch in Richtung der »warmen«, d.h. eisfreien Weltmeere auf. Man darf dies als zeitgenössische Variation des anglo-russischen »Großen Spiels« in Zentral- und Südwestasien seit dem 19. Jahrhundert verstehen.

Und schließlich wurde das Ende des Jahres 1979 von einem Drama beherrscht, das, aus Sicht der islamischen Welt, mit hoher Symbolkraft ausgestattet war: Der 20. November markierte den ersten Tag im 15. Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung. Unter Berufung auf die islamische Lehre, nach der in jedem Jahrhundert ein »Erneuerer« (mouhi) oder »Messias« (mahdi) auftritt, der nach vielen Abweichungen die Reinheit des Glaubens wiederherstellt, überfiel an diesem Tag eine radikale Dschihadistengruppe die Große Moschee in Mekka. Ihr Anführer, Dschuhaiman al-Utaibi, stammte aus einer bedeutenden Familie des Landes und wollte mit dem Überfall gegen die Korruption der vom Westen abhängigen Herrscherfamilie protestieren und seinen Schwager, Abdullah al-Qahtani, zum Messias ausrufen lassen. Dschuhaiman, der zu den Randgruppen der strengsten Verfechter des salafistischen Establishments Saudi-Arabiens gehörte, hatte »Briefe« in Umlauf gebracht, von denen sich 30 Jahre später der sogenannte »Islamische Staat« inspirieren ließ. Erst nach zwei Wochen konnte das Heiligtum in Mekka zurückerobert werden, auch dank des Eingreifens einer Truppe der nationalen französischen Gendarmerie (GIGN). Das allerdings wurde streng geheim gehalten, da es Nicht-Muslimen untersagt ist, heiligen Boden zu betreten (haram). Tausende Pilger wurden bis zur Befreiung in der Moschee festgehalten, und 244 Menschen starben beim Sturm auf die Moschee (darunter 117 Angreifer), obwohl jedes Blutvergießen dort verboten ist. Nachdem die saudische Staatsführung in den ersten Tagen vor Schreck wie gelähmt gewesen war, zeigte sie sich erschüttert, und zwar zum einen deshalb, da sie von noch strengeren Wahhabiten und Dschihadisten übertrumpft worden war, obwohl sie den Prozess der Islamisierung in der Region doch selbst angestoßen hatte. Und zum anderen, da ihre Unfähigkeit offensichtlich geworden war, Ordnung und Sicherheit an den Heiligen Stätten zu gewährleisten. Ihr Ansinnen, sich als Wächter der Heiligen Stätten auszugeben und, in logischer Folge, mit der Oberherrschaft über den Islam zu brüsten, hatte sich als Fehler herausgestellt.

Die Ankunft der Roten Armee in Kabul, kaum drei Wochen nach der unheilvollen Rückeroberung des als haram erklärten Gebiets in Mekka, entwickelte sich dann zu einer weiteren Herausforderung für die von Saudi-Arabien beanspruchte Führungsrolle. Denn nach islamischer Lesart der Geografie konnte dieser kriegerische Akt als das Eindringen von »Ungläubigen« (kouffar) auf »Islamischen Boden« (dar al islam) verstanden werden. Bei einer derartigen Aggression muss der muslimische Fürst den Heiligen Schriften nach unbedingt den militärischen Dschihad ausrufen und ihn augenblicklich beginnen. Die sowjetische Invasion ließ sich dementsprechend auf zweierlei, sich ergänzende Arten lesen: Für Washington war sie eine störende Episode des Kalten Kriegs, der es sich entgegenstellen musste, wollten die Vereinigten Staaten nicht ihre Position als Supermacht verlieren. Und da die saudische Monarchie die Hegemonie über den weltweiten Islam anstrebte, musste Riad den sowjetischen Einmarsch mit einem Dschihad beantworten. Folglich nannte man den nun ausbrechenden Aufstand der Guerilla – von der CIA ausgestattet und trainiert und mit den Petrodollars von der arabischen Halbinsel kofinanziert – auch Dschihad. Die jenseits des Atlantiks Freedom Fighters getauften Bärtigen waren allerdings Männer, für die »Freiheit« bedeutete, die Scharia einzuführen, sobald die kommunistischen Russen von islamischem Boden vertrieben worden waren. Diese Konfusion in der Wortwahl zeigt grundlegend die semantische Islamisierung dessen, was zugleich zum letzten blutigen Kampf des Kalten Kriegs und zum ersten islamischen Krieg der Gegenwart werden sollte – ganz gleich ob man ihn Dschihad, Raubzug (ghazou), zulässiger Terrorismus (irhab mashrou) oder Märtyrer-Operation (amaliyya istish hadiyya) nennt. Am Ende, nach dem sowjetischen Rückzug aus Kabul am 15. Februar 1989, dem wenig später der Fall der Berliner Mauer am 9. November folgte, wurde mit dem Untergang der UdSSR der Antagonismus zwischen dem kommunistischen Osten und dem kapitalistischen Westen ersetzt durch den Konflikt zwischen dem islamistischen Orient und dem (»gottlosen«, »jüdisch-kreuzritterlichen« et cetera) Westen.

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9783956143427
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