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3 DIE ZWEITE PHASE DES DSCHIHADISMUS: AL-QAIDA GEGEN DEN »WEIT ENTFERNTEN FEIND« (1998–2005)

Osama bin Laden und al-Qaida

Nach seiner Flucht aus Saudi-Arabien 1991 versteckte sich bin Laden zunächst in Afghanistan. Doch die gewalttätigen Konflikte zwischen den Mudschaheddin-Kommandanten ließen die Gegend gefährlich für ihn werden. Er setzte sich daher im Jahr darauf in den Sudan ab, wo die Islamisten seit der Machtübernahme von General Umar al-Baschir im Juni 1989 und seiner grauen Eminenz Hasan at-Turabi den Ton angaben. Ihm folgten sehr viele Dschihadisten, die in Afghanistan gekämpft hatten und nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Zunächst bemühte sich bin Laden zu erklären, warum er mit Saudi-Arabien gebrochen hatte, und auf autonome Art und Weise das aufzubauen, was zum »dschihadistischen Salafismus« werden sollte und sich vom Riad treu ergebenen »scheichischen Salafismus« abgrenzte. Dieses interne Schisma im sunnitischen Salafismus erlaubte es nun, die Zweideutigkeiten aufzulösen, die sich durch die Allianzen während des afghanischen Dschihad ergeben hatten: In Afghanistan hatte ein großes Spektrum an strange bedfellows zusammengearbeitet, das angefangen bei der CIA über al-Qaida bis hin zu den Ölmonarchien reichte. Der Dschihad in Algerien, Ägypten und Bosnien hingegen hatte kaum von amerikanischer Unterstützung profitiert. In Algerien war die staatliche Militärführung gar an die Großen Ulemas Saudi-Arabiens mit der Bitte um Fatwas herangetreten, mit denen die Generäle als gute Muslime bezeichnet wurden. Diese Rechtsauskünfte erklärten es zudem für illegitim, den Anmaßungen der GIA zu folgen und einen sowohl vom Unabhängigkeitskrieg gegen die Franzosen als auch vom afghanischen Dschihad inspirierten, bewaffneten Kampf gegen das algerische Regime zu führen. In Bosnien wiederum hatten sich Spezialkräfte und westliche Geheimdienste direkt zusammengeschlossen, um nach 1995 die bärtigen »ausländischen Freiwilligen« aus dem Land zu vertreiben.

Im verfeinerten Dschihadismus der 1990er-Jahre galt nicht mehr die inzwischen besiegte Ex-Sowjetunion als Hauptfeind, sondern die Vereinigten Staaten. Der ehemalige antisozialistische Verbündete wurde zum neuen Ziel, und in Hinblick darauf schmiedete man neue Bündnisse. Die Zeit von bin Ladens Exil im Sudan – zwischen 1992 und 1996 – stellte sich als günstig für diese bedeutende Kehrtwende heraus. Am 25. April 1991 lud Turabi, der Saddam Hussein applaudiert hatte, zur ersten von vier »arabischen und islamischen Volkskonferenzen« ein, bei denen sich bis 1995 alle Besiegten und Ausgestoßenen der Operation »Desert Storm« wiederfanden. Hier trafen die salafistischen Dschihadisten nicht mehr auf wohlgesinnte Geheimdienstmitarbeiter des CIA, sondern auf antizionistische, arabische Nationalisten, Antiimperialisten und Dritte-Welt-Aktivisten jeglicher Couleur – eine kulturelle Gemengelage, aus der sich der »Islamo-Linksradikalismus« der kommenden Jahrzehnte entwickelte. Der islamistische Terrorismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen profitierte von der Milde gewisser Teile der extremen Linken. Carlos stand beispielhaft für diese neue, paradoxe Allianz: Der ehemalige Marxist, der durch das Verschwinden seiner Unterstützer beim Untergang der UdSSR in den Ruhestand gezwungen worden war, hatte eine neue Rolle gefunden und strandete 1993 in Khartum. 1994 ergriffen ihn die französischen Behörden und verurteilten ihn zu lebenslanger Haft. Von seinem Gefängnis in der Nähe von Paris aus entwickelte er eine Theorie für den dschihadistischen Kampf, den er einst im Namen der Diktatur des Proletariats bekämpft hatte.

Die Wende des antiamerikanischen Dschihadismus zeigte sich in der simultanen Eröffnung zweier Fronten. Da keine geeigneten Geheiminformationen vorliegen, bleibt unklar, ob dies eine koordinierte Maßnahme oder reiner Zufall war: Angesichts der chaotischen Situation in Somalia entschieden sich die Vereinten Nationen im Dezember 1992, Truppen in das Land zu entsenden, die die Ordnung wiederherstellen und die Hungersnot bekämpfen sollten – darunter waren vor allem US-amerikanische Soldaten. Die ursprünglich »Restore Hope« (»Wiederherstellung der Hoffnung«) getaufte Operation wurde vom islamistischen Widerstand als Versuch verstanden, einen Brückenkopf am Horn von Afrika zu errichten, um anschließend in den Sudan Turabis einmarschieren zu können. In Afghanistan ausgebildete Dschihadisten griffen aufseiten der somalischen Aufständischen von General Aidid ein und töteten bei Kämpfen am 3. und 4. Oktober 1993 18 US-Marines, als zwei Hubschrauber abgeschossen wurden. Präsident Bill Clinton entschied sich daraufhin für den Rückzug der Truppen, da er sich zu Hause einem »Vietmalia-Syndrom« gegenübersah (bei dem die traumatischen Ereignisse in Vietnam auf Somalia übertragen wurden).

Diesem ersten Auftritt des bewaffneten Dschihadismus gegen die Vereinigten Staaten in Ostafrika (dem die Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 folgten) ging der erste Angriff auf das World Trade Center am 26. Februar 1993 voraus (der wiederum die Skizze für die Anschläge vom 11. September war). Die näheren Umstände dieser Attacke auf das World Trade Center bleiben durchaus verworren, auch wenn der Prozess mit der Verurteilung des Hauptangeklagten, Scheich Umar Abd ar-Rahman, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe endete (er starb 2017 in US-amerikanischer Haft). Rahman war einer der wichtigsten Imame des ägyptischen Dschihadismus in den 1970er- und 1980er-Jahren, hatte in einer Fatwa das Töten von Kopten und die Beschlagnahmung ihres Besitzes für rechtmäßig erklärt, saß nach der Ermordung Sadats von Oktober 1981 bis 1984 im Gefängnis und erhielt 1986 auf Vermittlung der CIA ein Visum für die Vereinigten Staaten. Von dort reiste er nach Peschawar, wo er durch seine Bemühungen, weltweit Kämpfer für den afghanischen Dschihad zu gewinnen, zu einer der großen charismatischen Figuren wurde. Zurück in seinem Heimatland, entwickelte sich ein angespanntes Verhältnis zum Mubarak-Regime, da er zum Emir der ägyptischen al-Dschamaa al-islamiyya geworden war. Im April 1990 ging er in den von Turabi geprägten Sudan. Hier erhielt er auf dem gleichen Wege wie zuvor ein Visum für die Vereinigten Staaten, reiste am 18. Juli ein und nahm mit verblüffender Geschwindigkeit bereits im Jahr darauf seine »Green Card« als Kultus-Beauftragter der Moschee in Jersey City entgegen. Auch wenn ihm ab Juni 1991, als er bei einer seiner zahlreichen Auslandsreisen die Pilgerfahrt nach Mekka absolvierte, dieser Status unter dem Vorwand einer verheimlichten Bigamie wieder aberkannt wurde, konnte er mit dem Antrag auf politisches Asyl im Juni 1992 seine Abschiebung verhindern.

Bis heute wurden die Umstände nicht aufgeklärt, wie es zur Verschlechterung des einstmals vertrauensvollen Verhältnisses zwischen dem Scheich und der amerikanischen Geheimdienstwelt kommen konnte. Allerdings führte sie zum ersten Attentat auf das World Trade Center, das als Projekt im von Spitzeln durchsetzten Milieu ägyptischer Migranten entstand. Am 26. Februar 1993 explodierte ein Lieferwagen in der Tiefgarage der Zwillingstürme. Der Drahtzieher der Operation, ein Mann, dessen irakischer Reisepass auf den Namen Ramzi Youssef ausgestellt war und der Umar Abd ar-Rahman nahestand, wurde schließlich in Pakistan verhaftet und in den USA verurteilt. Dass man dabei die genauen Umstände der Tat nicht klärte, öffnete einer Reihe von Verschwörungstheorien Tür und Tor. Im Nachhinein erscheint der Angriff vom 26. Februar 1993 (und noch viel mehr, seit genau das Ziel am 11. September 2001 endgültig zerstört wurde) als deutlichstes Zeichen des Bruchs in der Allianz zwischen Dschihadisten und amerikanischen Geheimdiensten – einer Allianz, die den Afghanistan-Krieg erst möglich gemacht hatte.

Bin Laden wiederum konnte sich in Khartum nicht mehr völlig sicher fühlen: Das Regime von General Baschir und seines Mentors Hassan at-Turabi war von vielen Seiten unter internationalen Druck geraten, vor allem nach dem Anschlag auf Mubarak während des Gipfels in Addis Abeba im Juni 1995, das man ägyptischen Dschihadisten im benachbarten Sudan zur Last legte. Auch die Verhaftung von Carlos durch den französischen Geheimdienst im Jahr zuvor, bei der die Führung Sudans nicht eingeschritten war, durfte bin Laden als böses Vorzeichen deuten. Am 13. November 1995 tötete eine Autobombe vor dem Gebäude der Nationalgarde in Riad fünf amerikanische Militärberater, und am 25. Juni ging ein mit Sprengstoff beladener Tanklaster in Khobar, in der Ölförderregion im Osten des Landes, in die Luft und riss 19 amerikanische Militärangehörige in den Tod. Bin Laden bekannte sich nicht zu den Anschlägen, so wie auch nicht zu denen am 11. September, um die Panik bei seinen Gegnern zu steigern und eine Gegenreaktion zu erschweren. Die amerikanische Justiz machte eine »saudi-arabische Hisbollah« für das zweite Attentat verantwortlich, es sei auf Anregung Irans durchgeführt worden. Der Hauptverdächtige, Ahmed al-Mughassil, wurde in Beirut verhaftet und im August 2015 nach Saudi-Arabien gebracht. Die Abreise bin Ladens in den sichereren Hafen des Taliban-Territoriums macht die Verfolgung seiner Spur schwieriger: Er kehrte im Sommer 1996 nach Afghanistan zurück und lebte dort unter dem Schutz der von Mullah Mohammed Omar geführten Bewegung. Diese kontrollierte zunächst den Süden des Landes, bevor sie im September die Hauptstadt Kabul eroberte und, anders als der Sudan, keinerlei Beziehung zur internationalen Staatengemeinschaft unterhielt. Die Verantwortlichen dieser »Religionsschüler« erklärten im Nachhinein, der Ortswechsel habe nach einer amerikanisch-sudanesischen Absprache stattgefunden. Die Vereinigten Staaten wünschten wohl nicht, dass bin Laden, nach Carlos’ Vorbild in Frankreich, inhaftiert und in den USA angeklagt würde, da er sonst unangenehme Wahrheiten über seine ehemaligen Beschützer von der CIA mitteilen könnte. Und der Sudan wollte den weltweit gesuchten Mann loswerden, um die Beziehungen zum Westen wieder zu normalisieren. In Washington dürfte man vermutet haben, dass im eingeschlossenen und isolierten Afghanistan die Gefährlichkeit bin Ladens auf ein Minimum reduziert werden könnte …

Dennoch gab bin Laden am 26. August die »Erklärung des Dschihad gegen die Amerikaner, die den Boden der zwei Heiligen Stätten [Mekka und Medina] besetzen« heraus, bekannter unter dem Kurztitel, jenem berühmten Spruch (hadith) des Propheten: »Vertreibt die Juden und Christen von der arabischen Halbinsel«. Dieser elfseitige Text ist das Gründungsmanifest der Organisation, zu der al-Qaida im Laufe der folgenden Jahre werden sollte. In diesem Stadium ist die »Befreiung« Saudi-Arabiens ihr wichtigstes Ziel: Bin Laden begeistert sich in seinem Text für den Anschlag von Khobar zwei Monate zuvor, gratuliert sich aber auch zum »Sieg« in Somalia – ohne die beiden Operationen ausdrücklich auf sich zu nehmen. Damit beansprucht er, in die wahrhafte Kontinuität des afghanischen Dschihad eingefügt zu werden: Das saudische Königreich werde von den gottlosen Armeen der Vereinigten Staaten besetzt wie zuvor Afghanistan durch die Sowjets. Und er greift den Aufruf von Abdallah Azzam auf, der von jedem Muslim weltweit fordert, sich seiner »individuellen Pflicht« (fard ayn) zu stellen und in den »Verteidigungsdschihad« zu ziehen, um das besetzte islamische Land zu befreien. Während der Aufruf zum Dschihad in Afghanistan von einem breiten Konsens unter den salafistischen Ulemas und der Muslimbrüder profitiert hatte und von der Mehrheit der Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz getragen worden war, konnte sich bin Laden nur auf Azzam – der, wie beschrieben, bereits 1989 getötet worden war – sowie auf den palästinensischen Gründer der Hamas, Scheich Ahmad Yassin, seinen ägyptischen Kollegen, den in den USA inhaftierten Umar Abd ar-Rahman, und deren saudische Nacheiferer Salman al-Auda und Safar al-Hawali berufen, ebenfalls in ihrem Heimatland hinter Schloss und Riegel. Mit derart schwacher Unterstützung im Rücken, erzielte bin Ladens Schrift keine Wirkung (die US-amerikanischen Truppen wurden von den Basen in Saudi-Arabien abgezogen und nach Katar verlegt, allerdings erst sieben Jahre darauf, im Sommer 2003).

Zwei Jahre später gelang tatsächlich der Übergang zu einem internationalen Dschihad, dessen universelles Aushängeschild al-Qaida werden sollte. Am 23. Februar 1998 unterzeichneten bin Laden und Aiman az-Zawahiri gemeinsam mit weniger bekannten Aktivisten aus Ägypten und dem indischen Subkontinent das Gründungsmanifest einer weltweiten Islamischen Front gegen die Juden und Kreuzfahrer. Seit der »Deklaration« vom 26. August 1996 hatte sich die von Afghanistan inspirierte Situation des Dschihadismus deutlich verschlechtert: Im Herbst 1997 waren die Kämpfer in Algerien und Ägypten nach fünfjährigem Kampf besiegt. Der neue Text umfasste nun eine Fatwa, der zufolge »es für jeden Muslim, der sich dazu in der Lage sieht, eine individuelle Verpflichtung [fard ayn] ist, Amerikaner zu töten, und zwar sowohl Militärs wie auch Zivilisten und in jedem Land, in dem es möglich ist«. Diese wurde rasch umgesetzt: Am 7. August 1998 fanden simultan zwei Anschläge statt, die die amerikanischen Botschaften in Nairobi (Kenia, mit 213 Toten, darunter 12 US-Amerikaner, und mehr als 4500 Verletzte) und Daressalam (Tansania, 11 Tote, darunter kein US-Amerikaner, und 85 Verletzte) zerstörten. Die hierbei angewandte Methode entwickelte sich zur Signatur von al-Qaida: an einem symbolischen Datum (der achte Jahrestag des Aufrufs von König Fahd an die amerikanischen Truppen, in das von Saddam Hussein bedrohte Saudi-Arabien zu kommen) gleichzeitig mehrere Anschläge an unterschiedlichen Orten durchführen. Ersteres wies auf eine Kausalität hin – die nicht weiter explizit erklärt werden musste (und bin Laden reklamierte in den folgenden Pressegesprächen die Anschläge nicht für sich, auch wenn er sich dazu gratulierte); Letzteres sollte den Feind lähmen und das Gefühl einer allgegenwärtig erhöhten Gefahr erzeugen.

Die Vereinigten Staaten brauchten nicht lange, um ihren Gegner zu identifizieren: Am 20. August feuerte ein Flugzeugträger im Indischen Ozean Raketen auf eine Chemiefabrik in Khartum und auf ein Trainingslager pakistanischer Dschihadisten in Afghanistan, die sich auf einen Kampf im indischen Kaschmir vorbereiten wollten. Weder bin Laden noch ein ihm nahestehender Kommandant wurde getroffen – stattdessen entstand eine große Solidaritätsbewegung mit den »Märtyrern« in Pakistan. Mir fielen auf den Basaren des Landes in den folgenden Monaten die vielen T-Shirts mit dem Konterfei des berühmt gewordenen Saudis auf, der zu einem der Anführer der islamistischen Sache geworden war. Eine neue Art des asymmetrischen Kriegs gegen den Westen war erfunden: Auch wenn er einige der vom Iran und der Hisbollah im Libanon eingesetzten Mittel übernahm, wie etwa den Angriff auf Botschaften oder Selbstmordanschläge, so verfolgte er doch einen anderen Zweck. Dieser Typus von Terrorismus gehörte letztendlich nicht zu einem Staat, der versuchte, quantifizierbare und detaillierte Ziele zu erreichen – um im Fall Irans den militärischen Druck gegen das eigene Land während des Konflikts mit dem Irak zu senken. Die Auftraggeber blieben hinter einem Nebel verborgen, man konnte sie weder genau identifizieren noch mit Sicherheit benennen, ihre Konturen blieben unscharf, ihre Ziele aber waren maximale und nicht verhandelbare Forderungen. Dem gegenüber zeigte sich das westliche Arsenal ungeeignet, vor allem operativ und was den obsolet gewordenen Konfrontationsrahmen mit der UdSSR betraf. Es war dafür gedacht, »harte« Ziele wie Städte oder Infrastruktur zu treffen. So waren die Raketenschläge des Flugzeugträgers vom 20. August erstaunlich präzise, was die Ballistik anging, aber recht unwirksam, was die Politik anging. Im Oktober 2000 zielte ein weiterer Angriff auf den amerikanischen Zerstörer USS Cole, der Aden versorgte: Ein mit Sprengstoff beladenes Schlauchboot rammte das Schiff und tötete damit 17 Matrosen. Von nun an hatte der Feind keine feste Gestalt mehr und war nicht zu fassen – es brauchte gigantische Anstrengungen, bis die »Software« von al-Qaida verstanden und bin Laden schließlich, 13 Jahre nach Verkündung der weltweiten Islamischen Front, von amerikanischen Spezialkräften am 2. Mai 2011 in Pakistan getötet wurde.

Ritter unter dem Banner des Propheten

Am 2. Dezember 2001, drei Monate nach dem »gesegneten zweifachen Angriff« des 11. September in New York und Washington, veröffentlichte eine arabische Zeitung Auszüge eines Werks von Aiman az-Zawahiri mit dem Titel Ritter unter dem Banner des Propheten, von dem bereits die Rede war. Auch wenn die Autorenschaft nie ganz geklärt werden konnte, haben weder Zawahiri noch Anhänger in seinem Gefolge die Herkunft dementiert. Da im ersten Absatz Afghanistan und Tschetschenien als die beiden im Namen des Dschihad befreiten Länder aufgeführt werden, lässt sich darauf schließen, dass der Text zwischen 1997 und 1999 verfasst wurde, nach der Wahl Aslan Maschadows zum tschetschenischen Präsidenten und vor der Rückeroberung Grosnys durch russische Truppen im Januar 2000. In diesen drei Jahren bestimmten dschihadistische Gruppen in großen Teilen des Territoriums das Geschehen. Zu dieser Zeit hielt sich auch Zawahiri mit bin Laden bei den Taliban in Afghanistan auf – dem anderen »befreiten« Gebiet. Die Schrift ist in gewisser Weise ein Spiegel des 1996 erschienenen Bestsellers Kampf der Kulturen von Samuel Huntington. Westliche liberale Intellektuelle hatten sich mit ihrer Kritik an Huntingtons Text nicht zurückgehalten, der in ihren Augen »Zivilisationen« auf ihre vorgebliche Essenz reduziere und die Hybridisierung postmoderner Gesellschaft verleugne. Zawahiri hingegen stimmte dem Harvard-Professor zu. Er sah in dem Werk die Bestätigung des Feindes, dass der Islam – und hier vor allem der dschihadistische – mit dem Westen grundsätzlich unvereinbar war. Es genügte ihm, die positiven und negativen Werte, die das Original in beiden Richtungen vorgab, umzukehren und darauf hinzuweisen, was es für den unausweichlichen Sieg von »Allahs Religion« auf der Erde brauche.

Ritter unter dem Banner des Propheten bezieht sich in seinem Titel auf die Siege der Armee Mohammeds und der ersten Kalifen, die damit den wahren Glauben in der Welt verbreiten wollten, bis »alles unterworfen« sei. Der Text reiht die Ziele der zeitgenössischen Dschihadisten in diese Traditionslinie ein, wie es auch der Fall war bei den schon erwähnten Manifesten von Sayyid Qutb (Zeichen auf dem Weg, 1956) und Abdallah Azzam (Folgt der Karawane!, etwa 1985). Der Schwerpunkt dieses Textes liegt jedoch auf der Bedeutung, die er der islamistischen Bewegung am Übergang zum neuen Jahrhundert beimaß. Zawahiri zog eine kritische Bilanz des vergangenen Jahrzehnts, zog aus diesen Erfahrungen seine Lehren und unternahm eine bedeutsame strategische Veränderung, um fortan den Krieg »auf dem Gebiet des Gegners« zu führen. Dieses neue Ziel wurde bereits in dem Moment anvisiert, in dem Zawahiri seinen Text zu Papier brachte: Nach dem Warnschuss der Attentate Ende 1995 gegen die in Saudi-Arabien stationierten US-amerikanischen Truppen zielten die folgenden drei Angriffe auf die Botschaft der Vereinigten Staaten in Kenia und Tansania, dann auf die USS Cole. Diese eindeutige Botschaft war das Vorspiel für den 11. September.

Zawahiris Überlegungen stützten sich auf konkrete und aktuelle Ereignisse, vor allem die Niederlage des algerischen Islamismus, der schlussendlich von den Kämpfern »auf der Seite Frankreichs« geschlagen worden war. Von diesen Entwicklungen informierten ihn ausführlich Unterstützergruppen, die nach »Londonistan« geflohen waren und von Abu Musab as-Suri geleitet wurden, dem Herausgeber der Zeitschrift Al Ansar. Er führte die Niederlage auf die Unfähigkeit zurück, die Massen zu mobilisieren, da die Konzeption des Kampfes zu elitär gewesen war. Man müsse daher einen Weg finden, die Menschen für die Sache der Dschihadisten zu mobilisieren, indem man ihre Emotionen ansprach. Die arabische und muslimische Begeisterung schlug am höchsten für die palästinensische Sache, die zu lange von den Nationalisten für sich beansprucht worden war. Die Islamisierung des Palästina-Konflikts durch die Hamas und den Islamischen Dschihad sowie die Vervielfachung der »Märtyrer-Operationen« sorgten für kostbares symbolisches Kapital. Die politische Ökonomie der Selbstmordanschläge war durch das Verhältnis zwischen den geringen Kosten und der medialen Wirkung optimal – und durch die Imitation dieser Anschläge sollte der Krieg ins Herz der Vereinigten Staaten getragen werden. Diese ausdrückliche Gleichstellung von dem Territorium Israels als legitimem Ziel des Dschihad und dem des Westens, für das Israel als Synekdoche steht, wird konzeptuell durch eine Wortverbindung aus »Zionisten« und »Kreuzfahrern« (sahiou-salibi) erzielt, die Zawahiri ad hoc erschuf, um den Feind zu benennen und abzugrenzen. Und der Ausbruch der Zweiten Intifada ab September 2000, die zu einer Welle der Gewalt mit mehreren Tausend toten Palästinensern und Israelis anwuchs, bildete einen extrem fruchtbaren Kontext, um einen internationalen Dschihad zu entwerfen, der die »Märtyrer-Operationen« gegen Israel um den Angriff gegen das Pentagon und die Zwillingstürme des World Trade Center erweiterte.

Schließlich positioniert sich Zawahiri auch in Bezug auf eine schon lange geführte Diskussion innerhalb der islamistischen Bewegung: Ist der Kampf gegen den »nahen Feind« (al adou al qarib) oder der gegen den »weit entfernten Feind« (al adou al baid) wichtiger? Dass dem Kampf gegen Israel bislang Priorität eingeräumt wurde, hatte den Nationalisten auf Kosten der Islamisten geholfen, so hatte etwa Nasser die Stimmung der heiligen, antizionistischen Union genutzt, um seine absolute Macht zu sichern und die Islamisten ohne Gnade zu unterdrücken. Die dschihadistische Erweckung in den 1980er-Jahren zielte hingegen auf den »nahen Feind« – die Ermordung Sadats und der Dschihad in Algerien 1981 –, doch die Massen waren nicht gefolgt. Folglich strebte Zawahiri einen erneuerten Kampf gegen den »weit entfernten Feind« an, mit dem Israel und der Westen gemeint waren, und zwar nicht in der irrealen Hoffnung, diese augenblicklich vernichten zu können, sondern um die Gläubigen aufzustacheln, damit sie in den Dschihadisten ihre Helden finden und sich unter ihren Bannern versammeln, um die »abtrünnigen« Regime der muslimischen Welt zu stürzen. So lässt sich der 11. September verstehen.

Im Nachhinein kann dieser 23. Februar 1998, also die Veröffentlichung der Charta der weltweiten Islamischen Front gegen Juden und Kreuzfahrer, als Übergang von der ersten Phase – in der der »nahe Feind« das Ziel war, das heißt die Machthaber in Afghanistan, Algerien, Ägypten, Saudi-Arabien et cetera – zur zweiten Phase gelten, die von nun an vor allem den »weit entfernten Feind« in Amerika anvisiert. Dieser Wandel wird in Ritter unter dem Banner des Propheten theoretisiert und über den Umweg des Dschihad in Algerien und Ägypten im September und November 1997 mit den Angriffen auf die amerikanischen Botschaften am symbolträchtigen 7. August 1998 in die Tat umgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt verfügte man noch nicht über den nötigen Abstand, um den beschriebenen strategischen Bruch erkennen zu können, zumal Zawahiris Text noch nicht in Umlauf war. Und es erschien unvorstellbar, dass die Gruppe von Einzelpersonen, die am 23. Februar die Charta unterschrieben und isoliert im Hindukusch unter dem Schutz des »Emirats« der Taliban lebten, in der Lage sein würde, eine derart gewagte und unglaubliche Tat wie den 11. September zu planen.

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