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I/6

»Erschlagen? Wer is’ erschlagen worden?«

»Der Gotthelf.«

»Wer?«

»Der Stanislaus Gotthelf. Der Planetenverkäufer61.«

Fraczyk, der vor zwei Jahren, nach Nechybas Beförderung zum Oberinspector, dessen Polizeiagentengruppe als Inspector übernommen hatte, kratzte seinen Vollbart und fügte hinzu:

»Den kennen S’ doch. Oder täusch’ ich mich?«

»Der Planetenverkäufer is’ tot …«, murmelte Nechyba betroffen.

»Wie is’ denn das passiert?«

»Genaues wissen wir noch nicht. Gestern in der Früh is’ es passiert. Zeugen gibt’s keine.«

»Wer hat ihn g’funden?«

»Sein Sohn, Josef Gotthelf. Genauer gesagt ist das sein Ziehsohn. 1904 hat er ihn adoptiert.«

»Der hat ihn also g’funden. Und wann?«

»Gestern am Vormittag.«

»Und wo?«

»Na, in seiner Hütte da, im zweiten Hof hinten, in der Rechten Wienzeile.«

Nechyba nickte und starrte vor sich hin. Vor seinem geistigen Auge sah er den Planetenverkäufer, wie er sich am Naschmarkt herumgetrieben und den Hausfrauen, Dienstmädeln und Köchinnen schöne Augen gemacht hatte. Er erinnerte sich, wie er seinerzeit im Zuge der Naschmarkt-Morde den Gotthelf als Verdächtigen verhaftet und wie dieser sich später dann als liebevoller Ziehvater des obdachlosen kleinen Pepi angenommen hatte.

»Sie leiten die Untersuchung?«

Fraczyk nickte.

»Der Oberkommissär Niederschönbichler vom Kommissariat an der Wieden hat uns gebeten, den Fall zu übernehmen.«

Nechyba gab sich einen Ruck und pumperte mit der Faust an die Wand. Augenblicke später klopfte es und sein Assistent betrat das Dienstzimmer.

»Pospischil! Bring’ Er uns zwei Krügeln Bier und zwei Slibowitz vom Wirt unten.«

»Und wenn’s keinen Slibowitz ham?«

»Dann bring’ Er uns einen anderen Schnaps.«

»Einen oder zwei?«

»Wie viele Leute sind hier im Raum?«

»Drei, Herr Oberinspector.«

»Falsch. Es sind nur zwei. Er, Pospischil, zööht öfe62. Also, wie viel Schnaps wird Er bringen?«

»Zwei, Herr Oberinspector.«

»Ausgezeichnet. Er kann gehen.«

Pospischil knallte die Hacken zusammen, salutierte und verschwand. Fraczyk schüttelte den Kopf.

»Macht er das immer noch?«

»Freilich. Um mich zu ärgern. Verbieten nutzt nix.«

»Ich kenn’ das«, seufzte Fraczyk, und Nechyba grinste. Ja, so ist das, dachte er. So ist das, wenn man Vorgesetzter ist.

Fraczyk zog eine silberne Tabatiere hervor, öffnete sie und bot Nechyba eine Zigarette an. Der lehnte dankend ab.

»Nein. Das Rauchen haben mir die Ärzte schon im 14er Jahr verboten.«

Fraczyk zündete sich eine Zigarette an und blies kunstvolle Rauchkringel in die Luft. Nechyba stierte ins Leere. Als Pospischil den beiden Vorgesetzten Bier und Schnaps serviert und sich danach wieder zurückgezogen hatte, erhob Nechyba sein Stamperl.

»Auf den Stanislaus Gotthelf. Der Herr möge seiner Seele gnädig sein.«

61 fliegender Händler, der aus einem Bauchkasten heraus Horoskopzettel verkauft

62 zählt nicht

I/7

Kürbisse! Nechyba stapfte über den Naschmarkt und sah am Stand der Naschmarkt-Roserl eine Pyramide dieser orangefarbenen Feldfrüchte aufgetürmt. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Auch deshalb, weil sich in dem mit Spagat verschnürten Papierpackerl, das er liebevoll in der Hand heimtransportierte, ein Kranz Knackwürste und ein dickes Stück weißer Bauchspeck befanden. Beides hatte er vor einer Stunde um horrendes Geld dem Guadn, den er wie immer in seinem Stammcafé in der Praterstraße getroffen hatte, abgekauft. Eine Menschenschlange stellte sich vor dem Stand mit den Kürbissen an, um das nicht sonderlich beliebte, aber derzeit immerhin erhältliche Gemüse zu erwerben. Nechyba strich sich über den Schnauzer, überlegte kurz und ging dann zum Hintereingang des Standes. Dort pumperte er mit der Faust an die versperrte Tür. Es dauerte etwas, bis der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde und die Naschmarkt-Roserl durch einen Spalt herauslugte.

»Herr Inspector!«

»Oberinspector.«

»Is was? Hab’ ich was verbrochen?«

»Das musst selber wissen. Komm, lass mich rein.«

»Aber ich hab’ zu tun. Vorm G’schäft steht a elendslange Schlange …«

Eine mächtige Wolkenbank schob sich vor die Sonne. Der Himmel verfinsterte sich und Nechybas Gemüt auch. Er knurrte:

»Lass mich rein!«

»Na gut. Wenn’s sein muss. Was werfen S’ mir vor?«

Der Oberinspector trat ein. Ein Windstoß fegte über den Markt und rüttelte an allem, was nicht niet- und nagelfest war. Von ferne erklang dumpfes Donnergrollen.

»Dass du mich so lang vor der Tür steh’n hast lassen, das werf’ ich dir vor.«

»Ich bitt’ um Entschuldigung.«

»Nur, wenn du mir auf der Stelle einen Kürbis verkaufst.«

»Aber da müssen S’ Ihnen anstellen.«

Nechyba sah die Fratschlerin böse an. Es donnerte, und die ersten fetten Regentropfen klatschten auf das Pflaster. Die Naschmarkt-Roserl huschte nach kurzem Zögern vor zur Kürbispyramide, holte einen und drückte ihn dem Oberinspector in die Hand. Nechyba zahlte und ging grußlos. Da es gerade heftig zu regnen anfing, eilte er schleunigst heim.

Er hatte die nassen Schuhe und die feuchten Socken ausgezogen. Seine dicken Füße standen nackt auf dem kühlen Linoleumfußboden, und er schnaufte. Dieses verdammte feucht-schwüle Wetter machte ihm zu schaffen. Draußen blitzte und donnerte es. Regen rauschte. Seufzend stand Nechyba auf und ging zu dem Holzstoß, der im Eck der Küche gelagert war. Mein Gott! Er war heilfroh, dass er mit dem Hofrat Schmerda auf gutem Fuß stand. Ohne dessen Hilfe hätten er und seine Frau keinerlei Brennmaterial, um den Herd anzuheizen. Ein Kürbisgemüse mit knusprigen Knackwürsten könnte er in diesem Fall vergessen. Tja, wer in diesen lausigen Kriegszeiten keine Verbindungen hatte, der war ein armer Hund. Hofrat Schmerda hatte zum Glück die Schulbank mit Georg Zellner von Zellendorf gedrückt, der nun Oberverwalter des Kaiserlichen Thiergartens in Hietzing war. Da es sich dabei nicht um einen Zoo, sondern um ein riesiges waldreiches Jagdrevier handelte, bezogen der Hofrat Schmerda und seine über alles geschätzte Köchin Aurelia nun schon seit dem Herbst 1916 ihr Brennholz aus dem Kaiserlichen Thiergarten. Als Nechyba massive Buchenscheiter in die Brennkammer des Herdes schichtete, Papier unterschob und Feuer entfachte, war ihm, als ob er Bündel von Geldscheinen anzünden würde. Denn das kostbare Buchenholz hatte einen stolzen Preis.

»Sauteuer …«, murmelte Nechyba, »sauteuer is’ das Holz. Und warum? Weil alles sauteuer is’.«

Am Knistern im Herd merkte Nechyba, dass die Buchenscheiter allmählich Feuer fingen. Fröhlich vor sich hin pfeifend, schnitt er den Bauchspeck in kleine Würfel. Das würde ein wunderbares Schmalz und köstliche Grammeln63 geben. Er griff kurz auf die metallenen Herdplatten, aber die waren noch nicht warm. Er nahm den Kürbis sowie ein großes Messer und schnitt den Plutzer in vier gleiche Teile. Dann kratzte er die Kerne und das sie umgebende faserige Fleisch heraus und überlegte, was er wohl damit machen könnte. Ihm fiel nichts ein. Vielleicht würde seine Frau Aurelia eine Idee haben. Nachdem er die Kürbisviertel geschält hatte, rieb er sie auf der groben Küchenreibe. Dann schnitt er Zwiebeln. Wehmütig erinnerte er sich, wie er sich in früheren Zeiten beim Kochen immer ein Gläschen Wein gegönnt hatte. Aber Wein war mittlerweile ebenfalls Mangelware. Ein Liter kostete 16 Kronen oder mehr. Ein Wahnsinn! Nechyba ging hinaus zur Bassena64 und füllte den Wasserkrug. Er blickte in den heftigen Sommerregen und seufzte. Zurück in der Küche, registrierte er mit Genugtuung, dass die Buchenscheiter nun munter brannten und die Herdplatten sich allmählich erwärmten. Nach einem kräftigen Schluck Wasser holte er die gusseiserne Pfanne hervor, stellte sie auf den Herd und gab die Speckstückchen hinein. Alsbald fingen sie munter zu brutzeln an und ein See von glasklarem Fett bildete sich. Nechyba leckte sich die Lippen. Endlich wieder einmal Schmalz. Wochenlang hatten er und seine Frau darauf verzichten müssen. Vorsichtig schöpfte er die braunen Grammeln aus der Pfanne und platzierte sie liebevoll auf einem runden Porzellanteller. Er griff ins Salzfass, ließ feine weiße Kristalle darüberrieseln und steckte dann voll Gier gleich mehrere hintereinander in den Mund. Grammeln! Wunderbar! Nun verlor er jegliche Beherrschung. Er stapfte zur Speisekammer und holte die vorletzte Flasche Wein heraus, die ganz hinten im kühlen Dunkel lagerte. Grammeln ohne einen Schluck reschen Grünen Veltliner waren nur das halbe Vergnügen. Er entkorkte die Flasche, schenkte sich ein Glaserl ein und nahm einen kräftigen Schluck. Der pfeffrige Wein und der salzige Geschmack der Grammeln verbanden sich auf seinem Gaumen zu einem lange entbehrten Genusserlebnis. Liebevoll fischte er alle Grammeln aus dem Fett, schob dann die Pfanne zur Seite und holte den Schmalztopf, der seit Wochen sauber ausgewaschen und unbenützt in der Kredenz gestanden hatte. Mit ruhiger Hand goss er das flüssige Schmalz in den Topf. Danach nahm er eine der größeren Grammeln in den Mund, zerbiss sie und goss mit einem Schluck Veltliner nach. Mit dem Zeigefinger wischte er nun aus der nicht mehr brennheißen Pfanne die letzten Reste Schmalz heraus und lutschte ihn genussvoll ab. So ließ es sich leben!

63 Grieben

64 gemeinsame Wasserentnahmestelle

I/8

»Das riecht himmlisch!«

Nechyba nahm seine Frau, die abgearbeitet und müde heimgekommen war, in die Arme.

»Heut pfeif ma auf die neue Zeit. Heut ess ma so wie früher.«

»Das sind ja gebratene Knackwürste, und das riecht nach Schmalz. Nechyba, wo hast denn das Schmalz her?«

»Selber ausgelassen.«

»Und woher hast den Speck?«

»Vom Guadn.«

»Hast mit dem Gauner schon wieder Geschäfte gemacht?«

»Auf Anweisung aus dem Innenministerium.«

»Was? Der Herr Hofrat hat schon wieder eine Bestellung aufgegeben?«

Nechyba nickte und schob seiner Frau zwei Grammeln in den Mund. Aurelia schloss die Augen und zerkaute die leicht knusprigen und gleichzeitig cremig milden Fettstücke behutsam. Sie registrierte, dass sie von Nechyba ein klein wenig gesalzen worden waren. Ein wollüstiger Schauer überrieselte sie.

»Komm, trink ein Schluckerl Wein!«

»Aber …«

Sie nippte an dem ihr vor die Nase gehaltenen Weinglas, ließ den Rebensaft über den Gaumen rollen und seufzte dann:

»Ach, Nechyba …«

I/9

Als er über den Naschmarkt stapfte und die Tristesse des mangelhaften Warenangebots sah, erinnerte er sich an das wunderbare Kürbisgemüse, das er gestern zubereitet hatte. War das ein Fest gewesen! Nechyba dachte mit großem Vergnügen an den vergangenen Abend, als er und seine Frau das Kürbisgemüse und in Schmalz herausgebratene Knackwürste verspeist hatten. Die geschnittenen Zwiebeln hatte er im Schmalz glasig angeröstet, danach war in das heiße Fett zischend der fein gerissene Kürbis gekommen. Das Ganze hatte er mit Paprikapulver, Salz und Kümmel gewürzt und mit Hesperiden-Essig65 abgelöscht. Danach hatte er etwas Wasser dazugegossen, sodass der Kürbis leise vor sich hin geköchelt hatte. Früher hätte er als krönenden Abschluss eine Portion Rahm in das Gemüse gerührt, doch Rahm gab es schon lange nicht mehr. Bei seinen Reminiszenzen an den vergangenen Abend lief Nechyba das Wasser im Mund zusammen. Auch die Knackwürste, die er enthäutet, der Länge nach halbiert und kreuzweise eingeschnitten hatte, waren ein Gedicht gewesen. Wie gebratene Igel hatten die knusprigen, etwas eingerollten Würste ausgesehen. Und dazu der Grüne Veltliner! Nechyba seufzte. Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich beim Überqueren der Rechten Wienzeile auf den Verkehr. Dass er jetzt zur Behausung des verblichenen Gotthelf unterwegs war, war ebenfalls ein Ergebnis des gestrigen Abends.

»Tot? Der Gotthelf is’ tot? I glaub’s net.«

Nechyba hatte einen Schluck Wein genommen und traurig genickt.

»Das hat mir der Fraczyk heut erzählt.«

»Und wie is’ er g’storben?«

»Derschlagen. Angeblich is’ er derschlagen worden.«

»Wieso angeblich?«

»Nix Genaues weiß man nicht.«

Aurelia hatte ebenfalls einen Schluck Wein genommen, dann das Glas energisch auf den Tisch gestellt, ihren Mann streng angesehen und gesagt:

»Nechyba, bist du a Kiberer oder a alter Krauderer66?«

Nechyba hatte geschluckt und geschwiegen. Dann war Aurelia mit ihrem Sessel so nah zu ihm hingerückt, dass er die Wärme ihres Körpers gespürt hatte.

»Nechyba, der arme Gotthelf! Dem schuldest du sowieso noch was. Also was wirst du morgen tun?«

»Was?«

»Du wirst morgen mit dem Nachwassern67 beginnen. Und seinen Tod aufklären.«

»Na geh!«

»Nix, na geh. Du gehst morgen gleich in der Früh rüber über den Naschmarkt und fangst mit den Nachforschungen an. Versprichst du mir das?«

Die Wärme ihres Busens und ihres Schenkels hatten in Nechyba Gelüste geweckt. Aber nicht auf ein Streitgespräch. Also hatte er ihr ein dickes Busserl gegeben und gebrummt:

»Versprochen.«

65 Tafelessig

66 alter, unfähiger Kerl

67 hier: ermitteln

I/10

15 Jahre ist es her. Vor 15 Jahren war ich das letzte Mal in diesem Hinterhof. Als das Dienstmädel der Familie Schmerda − wie hieß sie nur? Mizzi, glaub’ ich − als die Mizzi ermordet worden war. Damals hab’ ich den Gotthelf verdächtigt. Jetzt ist er tot. Und nun sitzt mir meine Frau im Genick, dass ich die Sache aufklären soll. Obwohl das überhaupt nicht meine Zuständigkeit ist! Nechyba schüttelte sich vor Unwillen und klopfte an die Tür des Salettls, in dem der Verblichene gewohnt hatte. Zuerst leise, dann lauter, schließlich pumperte der Oberinspector mit seiner Faust gegen das ächzende Holz.

»Was is’ denn das für a Wirbel da? A Ruh is’! Ruheee!«

Nechyba drehte sich um und sah einen fetten alten Kerl, der aus einem Fenster im Erdgeschoss schaute.

»Schreien S’ net umadum. Wenn einer schreit, dann bin i das.«

»Und wer sind Sie?«

»Oberinspector Nechyba. K. k. Polizeiagenteninstitut.«

»Oha! A Großkopferter.«

»Werden S’ net frech, Sie! Wer sind Sie überhaupt?«

»I? I bin der Hausmasta da.«

»Name!«

»Hirnigl. Eusebius Hirnigl.«

»Also Hirnigl, passen S’ auf: Sie bewegen jetzt Ihren Hintern heraus und sperren mir die Behausung vom Herrn Gotthelf auf.«

»Herr Gotthelf? Der Gotthelf is’ ka Herr. Sie sind a Herr. Unser Hausherr is’ a Herr. Aber der Gotthelf war a Pfeifenstierer68.«

»I brauch’ den Schlüssel.«

»I hab’ aber kan Schlüssel.«

»Das gibt’s net!«

»Wann ich Ihnen sag, dass i kan Schlüssel hab’.«

»Und warum net?«

»Weil mir der Pepi Gotthelf, der was der Adoptivsohn vom verblichenen Gotthelf is’, den Schlüssel abgenommen hat.«

»Derf er denn das?«

»Die Hausfrau hat’s ihm erlaubt.«

»Und warum?«

»Weil’s mit ihm unter einer Decke steckt.«

»Und was sagt der Hausherr dazu?«

»Nix. Der is’ an der Front in Italien.«

»Wollen Sie andeuten, dass die Hausfrau a Gspusi mit dem jungen Gotthelf hat?«

»Das haben Sie jetzt gesagt, Herr Oberinspector.«

»Und wo find’ i den jungen Gotthelf?«

»Oben. Bei der Hausfrau. In der Hausherrnwohnung.«

»Die zwei haben also keinen Genierer.«

»Das haben wiederum Sie gesagt, Herr Oberinspector. Von mir hören S’ dazu keinen Ton. Was wollen S’ denn vom Pepi Gotthelf?«

»Befragen will ich ihn. Zum Tod seines Vaters.«

»Da werden S’ net viel erfahren. Den haben die anderen Kiberer schon ausg’fratschelt69. Das bringt nix.«

Nechyba sah Hirnigl nachdenklich an und zupfte dabei an seinem Schnauzbart.

»Und was würde was bringen?«

»Na, wenn S’ zum Beispiel die beiden Bettgeher befragen würden.«

»Was für Bettgeher?«

»Die, die der Gotthelf bei sich einquartiert g’habt hat.«

»Davon weiß i ja nix.«

»Davon weiß niemand was. Das hat der Gotthelf still und heimlich g’macht. Das hat er net an die große Glocke g’hängt.«

»Und wo find’ ich die beiden?«

»Untertags haben sie sich immer am Naschmarkt herumgetrieben.«

»Wissen Sie, wie die heißen?«

»Der eine war a Behm. Der hat den anderen einmal Zach gerufen.«

»Zach?«

»Ja.«

»Und der Behm?«

»Ka Ahnung, wie der heißt.«

»Und warum ham Sie das alles net meinen Kollegen erzählt?«

»Weil s’ mich net g’fragt ham.«

68 langer, dünner Mensch, der nicht viel zählt

69 befragt

I/11

Karel Husak schlenderte die Praterstraße entlang. Ein breiter Boulevard, auf dem an diesem Dienstagmorgen reger Verkehr herrschte. Bimmelnd fuhren Tramway-Garnituren, Pferdefuhrwerke klapperten und ratterten über das Kopfsteinpflaster. Flaneure, Dienstmädeln, Hausfrauen, ein paar Lausbuben sowie einige Männer in Zivil und unzählige in Uniform prägten das Straßenbild. Die Uniformierten bewegten sich wie Schlafwandler, die mit erstaunten Blicken registrierten, dass es jenseits der schmutzstarrenden Schützengräben auch noch Asphalt, Kaufläden, Spiegelflächen, gedeckte Tische und parfümierte Damen gab. Sie schlurften durch die Straßen und rochen nach Schlamm und Karbol. Gekleidet in Uniformen, die nichts mehr mit dem eleganten Hechtgrau der seinerzeitigen k. u. k. Armee-Uniformen gemein hatten, sondern in den Farben Erdgrau, Dreckgrau und Grabesgrau schillerten. Die Wienerinnen und Wiener empfanden die Uniformierten nicht mehr als heldenhafte Vaterlandsverteidiger, sondern als degoutante Pechvögel. Jeder war bemüht, möglichst nicht an diese schmutzstarrenden Bazillenträger anzustreifen.

Husak ließ sich treiben. Da er sich in der fremden Stadt nicht auskannte, hatte er mehrmals Einheimische fragen müssen, wo es denn da zum Wurstelprater ginge. Dieses Wiener Freizeit- und Vergnügungsviertel war sein Ziel. Viel hatte er schon davon gehört, jetzt wollte er es auf eigene Faust erkunden. Ohne Zach. Denn den verstand er im Moment überhaupt nicht. Wie konnte ein Mensch bei seinen Handlungen und seinem Denken so sehr vom Sexualtrieb gesteuert werden? Zach war der Köchin, die ironischerweise Innozenzia hieß, obwohl sie alles andere als ein Unschuldslamm war, völlig verfallen. Er verbrachte die meiste Zeit in ihrem Bett, während Husak in der Küche gesessen und sich fadisiert70 hatte. Wenigstens kochte Zenzi Tschiritsch erstklassig. Und da Zach ihr ausreichend Geld zum Einkaufen gegeben hatte, konnten sich die beiden Kameraden in den letzten Tagen regelmäßig den Bauch vollschlagen. Dazwischen hatte Husak die Zeit mit viel Schlaf, gelegentlichen Spaziergängen über den Naschmarkt sowie Besuchen im Gasthof Zur Bärenmühle verbracht. Er hatte auf der Küchenbank geschlafen, während Zach drinnen in Zenzis Bett nächtigte. Was Zach an der Alten so anziehend fand, war ihm rätselhaft. Wie wild trieben es die beiden zu jeder Tages- und Nachtzeit. Für Husak, der die Vorstellung intimer Berührungen mit der schon etwas überwuzelten Zenzi so verlockend fand wie den Kontakt mit einem eiskalten nassen Waschlappen, ging das in Ordnung. Als sich aber heute Morgen die Zenzi neben ihn auf die Küchenbank gesetzt und ihren vom Nachthemd unverhüllten Schenkel an den seinen gepresst hatte, war er äußerst unangenehm berührt gewesen. Völlig verschlafen hatte er es einfach geschehen lassen. Auch deshalb, weil er sich nicht sicher war, ob es ein Annäherungsversuch oder morgendliche Unbekümmertheit war. Dumpf vor sich hin stierend hatte er seinen Kaffee geschlürft. Plötzlich war sie aufgestanden und zur Brotlade gegangen. Dort hatte sie ein Stück Brot abgeschnitten, es mit Butter bestrichen und vor ihn hingestellt. Dabei hatte sie sich so weit vorgebeugt, dass − bedingt durch den weiten Ausschnitt ihres Nachthemds − ihre Brüste vor seiner Nase baumelten. Und das auf nüchternen Magen! Er war aufgesprungen und hatte gezischt:

»Kannst dir nicht anzieh’n was Anständiges?«

»Wieso, g’fallt dir nicht, was du da siehst?«

»Geh zum Zach!«

»Der Zach muss sich ausruh’n. Drum hab’ ich mir gedacht, dass wir zwei vielleicht ein bisserl …«

»Fahr ab! Mit dir möcht’ i nix zu tun ham!«

»Na geh! Sei net so! Ein bisserl pudern71 hat noch niemandem geschadet.«

Das war das Letzte, was Husak hören wollte. Voll Panik hatte er seine Jacke und seinen Hut gepackt und die Flucht ergriffen.

Er kam auf einen weiten Platz, in dessen Mitte sich eine riesige, mit Schiffen verzierte Säule befand. Auf ihr stand die Skulptur eines Mannes mit Rauschebart und Marschallstab in der Hand. »›Wilhelm von Tegetthoff‹«, las Husak am Sockel und zuckte mit den Achseln. Irgend so ein österreichischer Militär. Hinter dem Tegetthoff-Denkmal erstreckte sich ein gewaltiges Bauwerk im neugotischen Stil. Neugierig ging Husak darauf zu. Es herrschte reges Kommen und Gehen. Plötzlich pfiff eine Lokomotive. War das ein Bahnhof? Husak beschleunigte seinen Schritt. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals und es ging ein Zug nach Prag? Seine Hände wurden feucht, und im Laufschritt stürmte er in die riesige Halle. Er erstarrte. Ja, er war am Bahnhof. Am Nordbahnhof, wie er las. Von hier gingen Züge nach Prag. Was seine freudige Erregung aber augenblicklich abwürgte, war die Tatsache, dass sich in der Bahnhofshalle nicht nur zahlreiche Uniformträger, sondern auch eine Gruppe Feldgendarmen aufhielten. Ausgerechnet vor den Kassen! Er beobachtete sie eine Zeit lang, bis ihn plötzlich einer der Feldgendarmen scharf ansah. Husak wendete seinen Blick ab, machte auf dem Absatz kehrt und verließ gemächlichen Schrittes den Nordbahnhof. Sobald er draußen war, begann er zu rennen. Himmel! Herrgott! Hoffentlich verfolgte ihn der Feldgendarm nicht. Im Zickzack hastete er durch die Menschengruppen, die sich am Praterstern aufhielten. Erst bei den Vergnügungsbuden des Wurstelpraters verlangsamte er seinen Schritt. Nicht, ohne sich ständig umzudrehen und zu schauen, ob ihm jemand folgte. Schließlich atmete er tief durch und begann, entspannt zu schlendern. Er hatte gehört, dass es hier eine Dame ohne Unterleib gäbe. »Gehen S’, die gibt es schon lang nicht mehr«, grantelte ein alter Mann, den er fragte. »Die arbeitet jetzt wahrscheinlich in einer Munitionsfabrik.« Auch die berühmt-berüchtigten Ausrufer vor den Praterbuden waren verschwunden. Statt ihrer standen schwächliche, traurige Burlis vor den Attraktionen, denen es weder gelang, das Publikum zu animieren, noch zu unterhalten. Na ja, die Männer, die das einst gemacht haben, befinden sich wahrscheinlich in einem Schützengraben oder bereits im Grab, räsonierte Husak, während er durch einen melancholisch gewordenen Wurstelprater schlenderte. Lärm, Gedränge, Übermut und überschäumende Lebensfreude, von denen er so oft gehört hatte, waren nirgends zu finden. Ziellos wanderte er umher, doch die von ihm gesuchten Lustbarkeiten fand er nicht. Etliche Buden waren geschlossen, eigentlich hatte er sich den Wurstelprater amüsanter vorgestellt. Seine Enttäuschung reagierte er beim Watschenaff’72 ab. Mit voller Kraft verabreichte er ihm ein paar saftige böhmische Ohrfeigen. Dabei dachte er an den Oberleutnant Weissenbacher und den Major Novotny. Schließlich gelangte er zu einem Gastgarten, der rundum von einem Holzzaun umgeben war. Hinter der Abzäunung erklang laute Musik. Zwischen den Holzlatten war an einer Stelle eine Lücke, vor der sich eine Schar zerlumpter Kinder drängte, die neugierig hineinspähte. Na bitte! Musik, Spektakel, Attraktionen. Endlich hatte Husak einen Ort gefunden, wo er sich amüsieren konnte. Er zahlte Eintritt und schlenderte in den weitläufigen Gastgarten, in dem unzählige Holztische mit Bänken standen. Etwa die Hälfte war besetzt. Vor allem vor der Bühne des Etablissements drängten sich die Menschen. Husak suchte sich einen Platz, von dem aus er eine gute Sicht hatte. Auf der Bühne klimperte ein verhungert aussehendes Mädchen auf Klaviertasten herum. Husak bestellte ein Krügel Bier, sie führten hier Pilsner Urquell, und lauschte der Pianistin. Na ja. Er hatte in seinem Leben schon virtuoseres Klavierspiel gehört. Aber nach über vier Jahren Krieg war er mittlerweile gewohnt, sich mit dem zu begnügen, was er vorgesetzt bekam. Das Bier wurde serviert und Husak nahm einen großen Schluck. Nach seiner Flucht aus dem Nordbahnhof, bei der er beträchtlich ins Schwitzen gekommen war, war es ein besonderer Genuss.

Plötzlich überkam ihn Heimweh. Er dachte an Prag und an sein Lieblingsbeisl. Beim Gedanken an das dunkle Prager Bier, das dort gezapft wurde, traten ihm die Tränen in die Augen. Vor allzu großer Sentimentalität bewahrte ihn das Programm, das nun auf der Bühne begann. Es war dumm und derb, aber trotzdem eine willkommene Ablenkung. Husak trank sein Bier aus, und da ja laut Verordnung nur ein Krügel pro Gast ausgeschenkt werden durfte, bestellte er sich nun ein Viertel Wein. Der Wein schmeckte ihm, die Sonne blinzelte durch das Blätterdach der Bäume des Gastgartens, und plötzlich schien alles nicht mehr so schlimm zu sein. Er hatte noch immer genügend Geld in der Tasche und er wusste nun, von wo die Züge nach Prag abfuhren. Seine Gedanken schweiften ab, und er überlegte, wie lang er schon keine Frau mehr gehabt hatte. Er erinnerte sich an seinen letzten Besuch im Feldbordell. Eine ziemlich degoutante Angelegenheit! Und es wurde ihm klar, warum ihn die Zenzi so abstieß. Sie hatte nämlich Ähnlichkeit mit der Hure im Feldbordell. Husak lächelte versonnen. Sein Gehirn spielte ihm seltsame Streiche. Er nahm einen kräftigen Schluck Wein und merkte zu seiner Verwunderung eine gewisse Erregung, die sich bei all diesen Gedanken eingestellt hatte. Vielleicht sollte er doch noch auf Zenzis Angebot eingehen? Augen zu und durch. Nachher würde ihm sicher leichter sein. Er leerte sein Weinglas und bestellte beim Ober ein weiteres. Na servus, der hatte Plattler73! So was hatte er noch nie gesehen. Kein Wunder, dass der Kerl nicht an der Front war. Und während er auf sein Viertel Wein wartete, fiel ihm ein junges Mädel auf, das ganz am Rand alleine an einem Holztisch saß. Vor ihr stand ein Himbeerkracherl, von dem sie aber nicht trank. Ein zartes junges Ding mit blondem Haar und unendlich traurigem Gesicht. Je länger Husak sie beobachtete, desto mehr rührte ihn ihr Anblick. Ein junges Mädel! Sakra! Alleine an einem Tisch in einem Etablissement im Wurstelprater. Wie eine Dirne sah sie nicht aus. Eher wie ein Waisenkind. Ein zartes, elfengleiches Wesen. Kein g’stan­denes Weib, das mit allen Wassern gewaschen war. Diese Mischung aus Unschuld und Weiblichkeit zog ihn an. Als der Ober ihm sein Viertel brachte, bestellte er für sie ebenfalls ein Viertel. Ungeduldig wartete er, bis der Ober es ihr servierte. Sie wehrte zuerst ab. Der Ober erklärte ihr aber, dass das eine Einladung des Herrn sei, der da vis-à-vis sitze. Husak erhob sein Glas und prostete ihr zwinkernd zu. Kurz erhellte ein Lächeln ihr melancholisches Gesicht, sie ergriff das Glas, prostete Husak zu und nahm einen kräftigen Schluck. Als sie das Glas abstellte, lächelte sie neuerlich zu Husak hinüber. Nun konnte ihn nichts mehr halten. Er packte sein Weinglas und spazierte zu ihrem Tisch.

»Gnediges Fräjlein, erlauben Sie, dass ich mich setze zu Ihnen?«

»Bittschön, der Herr. Nehmen S’ ruhig Platz.«

»Sehr zum Wohl, gnediges Fräjlein.«

»Sehr zum Wohl, der Herr.«

»Ich heiß’ Husak, Karel Husak.«

»Und i bin die Josefine Selewosky. Aber alle sagen nur Pepi zu mir.«

»I bin der Karel, servus.«

Sie stießen an, Husak rückte ein Stück näher und sagte dann mit treuherzigem Dackelblick:

»Sag Karel zu mir, scheenes Kind.«

Die Selewosky kicherte und replizierte:

»I bin net schön. Und a Kind bin i a nimmer. I bin schon 22.«

»Geh, Kinderl, 22 is doch ka Alter.«

»Meinen S’?«

»Darfst ruhig du zu mir sagen. So alt bin i ja a no net.«

»Und wie alt san Sie?«

»I bin 32. Drauf trink ma jetzt, ahoj!«

Josefine machte neuerlich einen großen Schluck. Ihr Glas war nun fast leer, auf ihren Wangen schimmerte eine zarte Röte. Husak war zufrieden. Der Alkohol zeigte Wirkung. Er entspannt, macht fröhlich und enthemmt. Hoffentlich, dachte Husak. Denn seine Erregung hatte sich nicht gelegt. Ganz im Gegenteil.

»I bin aus Prag. Und von wo bist du?«

»I bin aus Ottakring. Wissen S’, wo das ist?«

»Na. Ich bin a Behm und nur zu Gast in Wien.«

»Sind Sie auf der Durchreise?«

»Ja, kann man so sagen. Also, wo is’ Ottakring?«

»Ganz weit draußen, am Rand der Stadt.«

»Und warum bist da?«

Josefine zuckte mit den Schultern und trank ihr Glas leer.

»Herr Ober, bringen S’ dem Fräjlein noch ein Glasl Wein!«

Der Plattfuß nickte, und Husak versuchte, die nun wieder melancholisch dreinschauende Pepi Selewosky auf andere Gedanken zu bringen.

»Sprichst du tschechisch? Hast ja behmischen Namen.«

»I bin in Olmütz geboren, aber aufg’wachsen bin i in Ottakring draußen.«

»A echtes Wiener Kind also.«

Josefine nickte mit leisem Lächeln. Husak, dem nun wieder der Sinn nach einem Bier stand, fragte:

»Darf ich mir bestellen auf deinen Namen noch a Bier?«

»Ja sicher. Aber warum auf meinen Namen?«

»Wegen dem Krieg. Weil jedes Etablissement nur ein Bier pro Gast ausschenken darf. Ist Verordnung.«

»Haben Sie schon eins getrunken?«

»Vorhin. Hab’ gehabt großen Durst. War auf eins, zwei, drei weg.«

»Bier schmeckt mir net.«

»Macht nix. Kann ich bestellen zweites.«

Husak tat dies, als der Ober den Wein servierte. Unbeeindruckt nahm dieser die Bestellung auf und servierte es wenig später. Husak und die Selewosky plauderten, vom Alkohol animiert, über dies und das. Der Böhme machte kleine Späße, und die Pepi lachte. Sie tranken anschließend ein weiteres Viertel Wein, was zur Folge hatte, dass sich das Mädel an Husak anlehnte. Im Gegensatz zu der körperlichen Berührung am Morgen war ihm diese äußerst genehm. Und da seine neue Bekanntschaft allmählich zu lallen anfing und er ein starkes Hungergefühl verspürte, bestellte er für sich und das Mädel je ein Paar Würstel. Josefine verzehrte sie heißhungrig und schmiegte sich dann neuerlich an ihn. Er konnte nicht anders und gab ihr ein Busserl. Sie wehrte sich nicht, sondern umarmte ihn. Als Nächstes folgte ein Kuss, den sie heftig erwiderte. Für Husak gab es nun kein Halten mehr. Er zahlte, nahm Josefine bei der Hand und verließ mit ihr das Etablissement. Sie spazierten über den Praterstern, und plötzlich sah Husak das Hinweisschild auf ein Hotel. Ohne zu zögern, lenkte er die Schritte dorthin. Er gab dem Hotelportier ein ordentliches Trinkgeld, sodass dieser auf das Präsentieren von Ausweisen und das Ausfüllen eines Meldezettels verzichtete. In dem engen, aber sauberen Zimmer fiel nicht Husak über die Selewosky her, sondern umgekehrt.

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1 052,39 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
283 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839256121
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

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