Читать книгу: «Schönbrunner Finale», страница 2

Шрифт:

19. Jänner 1918

Der Oberinspector genoss mit Bedacht sein Gabelfrühstücksbier, als das Telefon läutete.

»Himmelherrgott!«

Er wischte sich den Bierschaum aus dem mächtigen, aufgezwirbelten Schnurrbart, hob den Hörer ab und brummte:

»Ja?«

»Nechyba, guten Morgen! Schober spricht.«

»Guten Morgen, Herr Doktor.«

»Ich bräuchte Sie dringend bei mir in der Polizeidirektion. Könnten Sie herüberkommen?«

»Wann, Herr Doktor?«

»Sofort. Wenn es sich bei Ihnen einrichten lässt …«

»In zehn Minuten? Ist das in Ordnung?«

»Wunderbar. Bis gleich.«

Nechyba legte den Hörer auf und starrte das Telefon feindselig an. Wenn er irgendwas in dieser Welt ändern könnte, dann würde er zuallererst das Telefon abschaffen. Diese Telefonie war wie eine Krankheit, die sich immer mehr ausbreitete. Monat um Monat gab es mehr Apparate und damit mehr Möglichkeiten zu telefonieren. Diese neumodische Art zu kommunizieren wuchs sich zu einer Manie aus. Krethi und Plethi griffen zum Telefon und tratschten miteinander. Unablässig klingelte der Apparat. Niemals gab er Ruhe. »Abschaffen!«, brummte Nechyba. »Dieser Blödsinn gehört abgeschafft!« Mit zwei langen Zügen trank er das Bier aus und rülpste lautstark. Sofort wurde die Bureautür geöffnet und sein Assistent Pospischil trat ein.

»Darf ich abservieren?«

»Ich muss rüber in die Polizeidirektion. Wahrscheinlich komm ich erst wieder nach Mittag zurück.«

»Jawohl, Herr Oberinspector.«

Nechyba schlüpfte in den schwarzen Überzieher, setzte die Melone auf und verließ seine Arbeitsstätte, während Pospischil hinter ihm leise die Bureautür schloss. Nechybas Magen grummelte. Er hatte das Bier zu schnell getrunken. Noch dazu ohne Gabelfrühstück. Heute hatte die Landerl, die Greislerin, bei der er seit Jahren einkaufte, nicht einmal ein Stückerl Brot oder einen Zipfel Wurst für ihn gehabt. Keinen Käse, keine Russen21, einfach gar nichts. Das hatte er auch noch nie erlebt. Sein Magen knurrte, und Nechyba war grantig. Erstmals seit Jahrzehnten kein Gabelfrühstück. Selbst als junger Sicherheitswachmann hatte er immer ein Gabelfrühstück zu sich genommen. So viel Zeit musste sein. Allerdings: Zeit war ja nicht das Problem. Zeit hatte er im Dienst mehr als genug. Wie das aber mit der Lebensmittelversorgung weitergehen würde, stand in den Sternen. Ganz Wien hungerte. Es war ein Jammer. Mit grimmiger Miene betrat er die Polizeidirektion. Die zwei Uniformierten, die hier Wache hielten und normalerweise alle Eintretenden streng kontrollierten, zuckten zusammen. Einer der beiden zog es vor, schnell in die Gegenrichtung zu schauen und so zu tun, als ob er Nechyba nicht bemerkt hätte. Der andere schlug die Hacken zusammen und salutierte:

»Habe die Ehre, Herr Oberinspector!«

Nechyba nickte brummelnd und ging, ohne eine Erklärung abzugeben, schnurstracks zu der Stiege, die zu Schobers Bureau führte. Keiner der beiden Wachleute hatte sich zu fragen getraut, wohin er wolle. Wenn der Oberinspector diesen Gesichtsausdruck hatte, war es ratsam, auszuweichen oder am besten gar nicht da zu sein. Schließlich hatte er im Polizeikorps den Ruf, ein veritabler Grantscherm22 zu sein. Schnaufend marschierte Nechyba zu den Räumlichkeiten des Polizeipräsidenten. Wer immer ihm auf seinem Weg begegnete, wich ihm aus und war froh, dass er mit dem Oberinspector aus dem benachbarten Polizeiagenteninstitut nichts zu tun hatte. Nechyba trat, ohne anzuklopfen, in das Vorzimmer des Polizeipräsidenten ein. Er grüßte den Adjutanten des Präsidenten mit einem Kopfnicken und brummte:

»Der Herr Dr. Schober hat mich gerufen. Es pressiert.«

Der Adjutant nickte, sprang auf, eilte zur Tür von Schobers Bureau, öffnete diese und sagte:

»Oberinspector Nechyba ist da.«

»Er soll bitte reinkommen!«

Der Adjutant nickte und Nechyba betrat Schobers Bureau. Zu seiner Überraschung war er nicht alleine. Hofrat Dr. Roderich Schmerda war ebenfalls anwesend. Was zum Teufel machte Aurelias Dienstgeber hier?

»Darf ich die Herren einander vorstellen? Hofrat Dr. Schmerda vom Innenministerium. Oberinspector Nechyba vom Polizeiagenteninstitut.«

Schmerda war aufgestanden, winkte ab und raunzte:

»Mein lieber Schober, lassen Sie’s gut sein. Wir kennen einander bereits. Herr Oberinspector, ich begrüße Sie.«

»Meine Hochachtung, Herr Hofrat.«

»Nechyba, nehmen S’ bitte Platz. Ich hab’ Sie hergerufen, weil es um eine äußerst heikle Angelegenheit geht …«

»Heikel ist eine Untertreibung!«, unterbrach Schmerda den Leiter der Wiener Polizei. »Faktum ist, dass es um Wohl und Wehe unserer Armee, der Monarchie und auch unseres geliebten Kaiserhauses geht!«

»Um Gottes willen! Was ist passiert?«

Schmerda lehnte sich in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander, holte tief Luft und begann zu dozieren:

»Am Montag dieser Woche hat in Wiener Neustadt um halb acht in der Früh die Belegschaft der Daimler-Motorenwerke die Arbeit niedergelegt und ist geschlossen zum Wiener Neustädter Rathaus marschiert. Diesem Marsch haben sich die Arbeiter der Lokomotivfabrik, der Radiatorenwerke, der Flugzeugfabrik und der Munitionswerke Rath angeschlossen. Bis zum Nachmittag hatten sich 10.000 Demonstranten am Rathausplatz versammelt. Am Dienstag hat sich dieser lokale Streik zu einer politischen Massenbewegung gewandelt. An diesem Morgen legte in Ternitz die Belegschaft der Schoeller-Werke die Arbeit nieder und marschierte ins benachbarte Wimpassing, wo sich ihr die Beschäftigten der Gummifabrik und aller anderen dort ansässigen Unternehmen anschlossen. Der Marsch führte weiter nach Neunkirchen, wo sich ebenfalls sämtliche Betriebe an dem Ausstand beteiligten. Weiters schlossen sich alle Arbeiter in Enzesfeld-Hirtenberg, in Leobersdorf, in Wöllersdorf sowie im ziemlich weit weg liegenden Sankt Pölten dem Streik an. Am Mittwochmorgen erreichte die Streikbewegung Wien. Im Arsenal legten 15.000 Arbeiter die Arbeit nieder, in den Fiat-Werken in Floridsdorf waren es 2.000. Im Laufe des Tages wuchs dann die Zahl der Streikenden auf über 80.000 an. Bemerkenswert war, dass es den Streikenden nun in erster Linie nicht mehr nur um eine bessere Lebensmittelversorgung ging, sondern um ein politisches Ziel …«

Schober nickte und warf ein:

»Nun ging es den Streikkomitees um die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk23.«

Schmerda fügte hinzu:

»In der Brigittenau forderten Kundgebungsteilnehmer, dass die Regierung einer Arbeiterdelegation Zutritt zu den Friedensverhandlungen gewähren sollte.«

Nechybas Magen grummelte laut und vernehmbar. Um diese Geräusche zu übertönen, fragte er:

»Und was sagt Unsere Allerhöchste Majestät dazu?«

Schmerda zog ein Stück Papier aus der Innentasche seines Sakkos und antwortete flüsternd:

»Er ist in höchstem Ausmaß besorgt. Ich zitiere aus einem Telegramm, das Seine Majestät gestern an unseren Außenminister, den Grafen Czernin, in Brest-Litowsk gesandt hat:

Ich muß nochmals eindringlichst versichern, daß das ganze Schicksal der Monarchie und der Dynastie von dem möglichst baldigen Friedensschluß in Brest-Litowsk abhängt …

und ich zitiere weiter:

Kommt der Friede nicht zustande, so ist hier die Revolution, wenn auch noch so viel zu essen ist. Dies ist eine ernste Warnung in ernster Zeit …

Meine Herren, diese Information ist streng vertraulich und bleibt unter uns, gell?«

Nechyba und Schober nickten. Der Hofrat räusperte sich und fuhr mit dem Lagebericht fort:

»Im Laufe des Mittwochs konnte der Parteivorstand der Sozialdemokraten mit Müh und Not einen Streik der Eisenbahner verhindern. Trotzdem befanden sich in Wien und Niederösterreich am Ende des Tages gut und gerne 150.000 Arbeiter im Streik. Es gab unzählige Versammlungen in Arbeiterheimen und Gastwirtschaften, und es kam zu Demonstrationen auf den Straßen. Aus Favoriten sind einige Tausend Arbeiter in Richtung Stadtmitte marschiert und haben den Verkehr zum Stillstand gebracht. Diese Demonstration wurde von berittener Polizei aufgelöst.«

Nechyba bemühte sich, durch eine andere Sitzposition seinen unruhigen Magen zur Ruhe zu bringen. Gleichzeitig bemerkte er:

»Davon hab’ ich gehört. Mir ist auch zugetragen worden, dass sich in den Betrieben Arbeiterräte gebildet haben.«

Schmerda nickte und fuhr fort:

»Zum Glück haben die Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei rasch reagiert und waren im Laufe des Donnerstags zu Hunderten von Versammlungen gegangen und haben dort die Situation so weit unter Kontrolle bekommen, dass Bezirksarbeiterräte gewählt wurden. In diesen Räten saßen als kooptierte Mitglieder wiederum gestandene Funktionäre der Sozialdemokraten. Damit wurde versucht, die linksradikale umstürzlerische Grundtendenz der Rätebewegung in den Griff zu bekommen. Am Donnerstagmorgen ist außerdem in der ›Arbeiter-Zeitung‹ eine Erklärung des Parteivorstandes veröffentlicht worden …«

Schober schaltete sich ein:

»… in der vier Forderungen formuliert wurden. Und zwar: Friede, Verbesserung der Ernährungssituation, Demokratisierung des Gemeindewahlrechts sowie Aufhebung der Militarisierung der Betriebe. Darüber will die Parteiführung der Sozialdemokraten mit der kaiserlichen Regierung verhandeln.«

Schmerda nickte und fuhr fort:

»Allerdings weitete sich am Donnerstag die Bewegung neuerlich aus, erstmals wurde auch in einem Kronland, nämlich in Krakau, gestreikt. Donnerstagabend befanden sich in Wien, Niederösterreich und der Steiermark über 200.000 Arbeiter im Ausstand. Gestern hat dann der österreichische Außenminister aus Brest-Litowsk eine Erklärung verlautbaren lassen …«

Schmerda kramte neuerlich in seinen Taschen und zog einen weiteren Zettel heraus, von dem er vorlas:

»Ich hafte und bürge … äh … dafür, daß der Friede unsererseits nicht an Eroberungsabsichten scheitern wird …

und weiter:

… Wir wollen von Rußland weder Gebietsabtretungen noch Kriegsentschädigungen. Wir wollen nur ein freundnachbarliches, auf sicherer Grundlage beruhendes Verhältnis, das von Dauer ist und auf gegenseitigem Vertrauen ruht.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Schmerda fort:

»Trotzdem hat sich die Bewegung im Laufe des gestrigen Tages weiter ausgebreitet. Das betraf sowohl Betriebe im Mur- und Mürztal, in Linz und Steyr als auch in Brünn, Mährisch Ostrau, Triest und Budapest.«

Schober runzelte die Stirn und blätterte in den Unterlagen.

»Wir haben leider keine konkreten Zahlen mehr, weil das Ganze nicht mehr überschaubar ist. Unserer Schätzung nach befinden sich allein in Cisleithanien24 derzeit zwischen 700.000 und einer Million Arbeiter im Ausstand.«

Schmerda schnaufte und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirnglatze:

»In Wien hat sich gestern Abend ein 14-köpfiger zentraler Arbeiterrat konstituiert, der die bereits erwähnten vier Forderungen mit der Regierung verhandeln soll. Diese Verhandlungen laufen derzeit. Hoffen wir, dass dabei was Vernünftiges herauskommt.«

Nechybas Magen revoltierte neuerlich und er versuchte, ihn mit lauter Stimme zu übertönen:

»Ich danke recht schön für diesen informativen Überblick. Aber was hat das mit uns, mit dem Polizeiagenteninstitut, zu tun? Faktum ist, dass wir bemüht sind, unsere Leute in die größeren Streikversammlungen einzuschleusen und die linksradikalen Aufwiegler zu identifizieren und vorzumerken. Mehr können wir im Moment nicht tun.«

Schmerda nickte:

»Genau um diese Kräfte geht es. Um die linksextremen Aufwiegler. Ich habe da eine Liste der besonders gefährlichen Agitatoren …«

Er holte einen weiteren Zettel hervor und begann vorzulesen:

»Also, das wären die Herren Baral, Beer, Hexmann, Hübl, Kodanich, Kohn-Eber, Koritschoner, Kulcsar, Pjatiorski, Rothziegel und Wertheim.«

Schober sah Nechyba an und sagte in sanftem Befehlston:

»Diese Herrschaften, Nechyba, werden Sie und Ihre Leute am Montag verhaften. Ausnahmslos. Das ist unser Beitrag zur Deeskalation dieser unerfreulichen Geschichte. Sehen Sie zu, dass Ihre Agenten bei diesen Einsätzen bewaffnet sind. Falls nötig, sorgen Sie für ausreichend Unterstützung durch die Sicherheitswache.«

Nechybas Magen brummte und grummelte. Abrupt stand er auf und sagte laut und deutlich:

»Jawohl, Herr Doktor. Am Montag werden wir die Subversiven aus dem Verkehr ziehen. Herr Hofrat, darf ich Sie um die Liste bitten?«

Schmerda stand ebenfalls auf und übergab den Zettel. Schober erhob sich, schüttelte beiden Männern die Hand und bedankte sich für ihr Kommen.

Auf der Stiege ergriff Hofrat Schmerda plötzlich Nechybas Arm, sodass dieser stehen bleiben musste. Schmerda beugte sich zu dem Inspector und flüsterte:

»Ich hab’ noch a Bitte an Sie: Ihre Frau Gemahlin hat erwähnt, dass Sie … dass Sie Verbindungen hätten … zum Schwarzmarkt. Ich bitt’ Sie, könnten Sie mir net a ordentliches Stück Rindfleisch verschaffen? Einen ganzen Rücken oder einen Haxen. Mit Knochen und allem. Ich hab’ solche Zähne25 auf a Rindfleisch. Ich bitt’ Sie inständig. Ich zahl jeden Preis.«

21 eingelegter, marinierter Hering

22 grantiger Mensch

23 Friedensverhandlungen zwischen der neuen Sowjetführung Russlands und Österreich-Ungarn

24 die österreichischen Kronländer (Transleithanien = die ungarischen Kronländer)

25 ich habe so ein großes Verlangen

22. Jänner 1918

»Ja da schau her! Der Herr Oberinspector. Wollen S’ nicht Platz nehmen?«

Nechyba setzte sich an den Kaffeehaustisch und brummte:

»Das hätt’ i sowieso g’macht. Da brauch’ ich ka Einladung.«

Zygmunt Karminsky sah Nechyba fragend an und fuhr dann etwas verunsichert fort:

»Es ist mir eine Freude, Herr Oberinspector. Wünsche einen guten Tag! Geh, Herr Ober, bringen S’ dem Herrn Oberpolizeirat einen Schwarzen mit einem ordentlichen Schuss Trebern drinnen. Was? Sie haben keinen Trebern? Na gut, dann nehmen S’ halt einen Cogn… äh … einen Weinbrand!«

Nechyba war irritiert. Karminsky kannte seine persönlichen Vorlieben recht gut. Dieser fuhr in leutseligem Tonfall fort:

»Also, wie geht’s denn so immer?«

»Dir bald nicht mehr so gut …«

»Um Himmels willen! Was liegt denn gegen mich vor? Hab’ ich was ang’stellt? Ich bin doch ganz brav.«

»Du bist ein Hurentreiber, ein Strizzi26 und ein Stoßspieler27.«

Karminskys Mund verzog sich zu einem verbindlichen Grinsen:

»Aber Herr Oberinspector, ich bitt’ Sie! Das muss ich doch entschieden in Abrede stellen. Ich bin der Guade, ein Wohltäter. Ich geb’ obdachlosen Mädeln ein Dach über dem Kopf und füttere sie durch. Was bei Gott keine leichte Aufgabe ist in diesen Zeiten. Und was das Spielen betrifft, so tu’ ich halt gern ein bisserl dippln28. Aber das mach’ ich ausschließlich aus Spaß an der Freud’.«

»Ein Schleichhändler bist obendrein.«

»Ich bin a kleiner Gewerbetreibender. Das hab’ ich amtlich mit Brief und Siegel. Wie Sie wissen, gehört mir die Fleischhauerei Trnka. Der Witwe des gefallenen Fleischers hab’ ich einen ordentlichen Batzen Geld gezahlt. Seitdem führt sie das Geschäft für mich und verdient ein anständiges Gehalt. Wenn ich ihr mit meinen Beziehungen und meinem Geld nicht geholfen hätt’, hätt’ sie zusperren müssen und wär’ verhungert. Da sehen Sie, was ich für ein sozialer Mensch bin und warum man mich den Guadn nennt.«

»Vorn im G’schäft verkaufst du das bisserl Fleisch, das dir zugeteilt wird. Und hinten im Hof verkaufst du die Schwarzmarktware, du Falott29, du!«

»Geh bitte! Wer hat jetzt im Krieg nix mit dem Schleichhandel zu tun? Das macht doch a jeder! Ohne Schleichhandel würd’ ma alle verhungern. Also sind S’ nicht so streng, Herr Oberinspector. Außerdem haben Sie ja auch schon öfters von meiner Schwarzmarkttätigkeit profitiert.«

Der Ober servierte Nechyba den Kaffee. Es handelte sich um grauslichen Ersatzkaffee aus Eicheln und Zichorien. Nur dem heißen Weinbrand war es zu verdanken, dass das Gebräu einigermaßen angenehm duftete. Nechyba nahm vorsichtig einen Schluck und achtete darauf, sich nicht die Lippen zu verbrennen.

»Werd net frech. Weil, sonst geht’s dir gleich wirklich nimmer guad. Wennst mich reizt, verhafte ich dich auf der Stelle. Du Pülcher30, du. Also horch zu: Ich brauch’ ein Knöpfel31, und wenn du es auftreiben kannst, auch ein Englisches32.«

Nechyba nahm neuerlich einen Schluck und fuhr ungerührt fort:

»Und zwar gestern. Das Fleisch will ich zerlegt und pariert haben. Die Knochen zerhackt als Zuwaag. Na? Jetzt geht dir der Schmäh aus, was? Jetzt schaust ganz kariert.«

Der Guade nahm einen Schluck Weinbrand und flüsterte:

»Aber das kostet a kleines Vermögen …«

»Hab’ i g’sagt, dass ich was gratis will?«

»Haben S’ Geld unterschlagen oder geerbt?«

»Noch so eine depperte Bemerkung und du verbringst die Nacht in der Liesl33.«

»’tschuldigung. War nicht so gemeint. Also wann ich a Knöpfel auftreiben kann, wird das Kilo beiläufig um die 20 Kronen kosten.«

»Und das Englische?«

»Marantjosef34! Ich weiß net, ob ich des krieg. Aber unter 25 Kronen das Kilo wird sich da nix abspielen.«

»In Ordnung. Wann lieferst?«

»Das Knöpfel können S’ in zwei bis drei Tagen in meiner Fleischerei abholen. Das Englische braucht länger.«

»Ich hol gar nix ab. Übermorgen treff’ ma uns wieder hier im Café. Dann bekommst von mir die Lieferadresse.«

Nechyba trank aus, stand auf und wollte grußlos gehen. Doch der Guade war ebenfalls aufgesprungen und hatte seine Hand gepackt. Er schüttelte sie und versicherte mit treuherzigem Blick:

»Herr Oberinspector, es war mir ein Vergnügen. Auf den Kaffee mit Cogn… äh … Weinbrand sind Sie selbstverständlich eingeladen.«

Nechyba schüttelte dem Ganoven, obwohl ihm das peinlich war, die Hand. Dabei grantelte er:

»Den Kaffee hätt’ i sowieso net zahlt.«

26 Zuhälter

27 Spieler eines illegalen Kartenspiels

28 Karten spielen

29 Lump

30 Verbrecher

31 Knöpfel ist der Name des hinteren Teils des Rindes gemäß der Wiener Teilungsmethode: Schale, Fledermaus, Zapfen, Hieferschwanzel, Hieferscherzel, Tafelspitz, Tafelstück, schwarzes und weißes Scherzel, Gschnatter, hinterer Wadschunken, Bratzel, Ochsenschlepp

32 Lungenbraten, Beiried, Rostbraten

33 Polizeigefangenenhaus an der Elisabethpromenade

34 Maria und Josef!

6. Februar 1918

Schon wieder! Schon wieder läutete das Telefon auf des Oberinspectors Schreibtisch. Dieser hielt nach einem kargen Mittagessen im Gasthaus Zum Rebhuhn gerade sein Mittagsschläfchen. Entsprechend langsam und unwirsch war seine Reaktion.

»Haut’s euch über die Häuser und lasst’s mich in Ruh. Ihr Nebochanten35 …«

Da der Apparat partout keine Ruhe gab und unaufhörlich weiterläutete, hob Nechyba schließlich doch ab und raunzte:

»Ja …«

»Herr Oberinspector, sind Sie das? Bin ich richtig verbunden?«

»Wer spricht?«

»Schmerda hier. Hofrat Schmerda. Ich wollt’ mich nur bei Ihnen bedanken, Herr Oberinspector. Also die Fleischlieferung ist angekommen und Ihre Frau Gemahlin zaubert derzeit wunderbare Sachen in der Küche. Wie in der guten alten Zeit vor dem Krieg …«

»Das freut mich.«

»Als Zeichen meiner Dankbarkeit und Verbundenheit hab’ ich ihr heut beim Mittagessen aufgetragen, dass sie sich Fleischknochen und ein Suppenfleisch mit nach Hause nehmen soll. Es ist nur legitim, lieber Herr Oberinspector, dass Sie auch wieder einmal ein ordentliches Stück Fleisch und ein kräftiges Supperl bekommen.«

Nechyba, vom Schlaf noch immer benommen, war verdattert.

»Da … da … sag ich ein ganz herzliches Dankeschön. Da machen S’ mir eine Mordstrum Freud’.«

»Na, das freut mich dann umso mehr. Übrigens: Die Verhaftung der Aufwiegler haben Sie und Ihre Leute vorbildlich durchgeführt. Jetzt, wo die Rädelsführer alle eing’sperrt sind, ist wieder Ruhe in den Betrieben.«

»Ja, hoffen wir’s, dass es so bleibt. Wenn sich die allgemeine Verpflegungssituation aber nicht bessert, sehe ich schwarz. Da werden die Leut’ auch ohne die linksradikalen Rädelsführer neuerlich streiken. Weil a knurrender Magen ist wie ein bissiger Hund …«

»Korrekt, Nechyba. Das ist absolut korrekt. Hoff’ ma, dass sich alles zum Besseren wendet. Nicht wahr?«

»Hoffen kann man ja …«

»Apropos Hoffnung: Wissen S’, auf was ich hoffen täte? Auf einen schönen saftigen Schweinsbraten, eine Schweinsstelze, geselchte Ripperln, einen fesch durchzogenen Schopfbraten vom Schwein und natürlich auf Schweinsschnitzerln …«

Nechyba schwieg. Es knisterte in der Leitung. Schließlich murmelte er:

»Wer hätt’ das net gerne?«

»Freilich, Nechyba, freilich. Ich bitt’ Sie, denken S’ an mich. Vielleicht fällt Ihnen was ein. Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein.«

Nechyba dachte an einen Schweinsbraten mit einer knusprigen Kruste und bekam vor Aufregung feuchte Hände. Der Speichelfluss in seinem Mund war kaum zu bändigen, und er musste zweimal schlucken, bevor er antworten konnte.

»Ich werd’ mich umhören, Herr Hofrat.«

»Ausgezeichnet, Nechyba. Ausgezeichnet. Also bis bald, gell? Beste Grüße, ich empfehle mich.«

Nechyba saß an seinem Schreibtisch und freute sich auf heute Abend. Fleischknochen und ein Suppenfleisch. Mein Gott! Wie lange hatte es das schon nicht mehr in seiner Küche gegeben? Ja, der Herr Hofrat ließ ihn nicht verkommen. Dafür musste er sich natürlich wiederum erkenntlich zeigen und den Guadn kontaktieren. Dass der dem Hofrat möglichst eine halbe Sau liefern würde. Da müsste dann ja auch wieder etwas für ihn selbst abfallen. Dieser Gedanke trieb seinen Blutdruck in die Höhe, sein Herz pochte schneller, und der Speichelfluss wollte weiterhin nicht versiegen. Nechyba sah auf seine Taschenuhr. Es war halb vier Uhr nachmittags. Im Polizeigebäude herrschte Totenstille und der Oberinspector hatte plötzlich Lust auf etwas Gesellschaft. Mit der Faust pumperte36 er an die Wand, sodass es im Nebenzimmer laut und deutlich zu hören war.

Augenblicke später trat sein Adjutant ein, der folgende Instruktionen empfing:

»Pospischil, Er hält die Stellung hier. Falls mein Telefon läutet, hebt Er ab und sagt, dass ich einen Auswärtstermin habe. Falls irgendwer persönlich nach mir fragen sollte, gibt Er die nämliche Auskunft. Anliegen dienstlicher Art werden notiert und mir morgen früh rapportiert. Hat Er verstanden?«

»Jawohl, Herr Oberinspector!«

»Gut. Ich geh jetzt.«

Nechyba setzte seine Melone auf, sein Assistent half ihm, in den Überzieher zu schlüpfen. Dann verließ der Oberinspector eiligen Schrittes seine Dienststätte. Draußen in der kalten Winterluft atmete er einige Male befreit durch und lenkte seine Schritte in Richtung Café Landtmann.

»Der Klimt is’ g’storben.«

»Kenn ich den?«

Leutnant Goldblatt sah seinen Freund Joseph Maria Nechyba irritiert an. Er rückte seine randlose Brille zurecht und replizierte:

»Also den wohl berühmtesten zeitgenössischen Maler werden Sie doch kennen.«

Nechyba gab Zucker in seinen schwarzen Kaffee, rührte um und murmelte:

»Sie meinen den Klimt … den … den … Gustav Klimt?«

Leo Goldblatt nickte und bestellte beim vorbeischlendernden Kellner:

»Gehn S’, bringen S’ mir einen ›Goldblatt‹ ohne Kaffee.«

Der Kellner stutzte, nickte dann und sagte:

»Der Herr Leutnant wünschen einen Trebern. Kommt sofort.«

Nechyba bemerkte amüsiert:

»Noch komplizierter kann man eine Bestellung wirklich net aufgeben.«

»Wieso? Ich hab’ Gusto auf einen ›Goldblatt‹. Da es keinen Bohnenkaffee gibt und der Türkische, der mit Ersatzkaffee zubereitet wird, noch grauslicher schmeckt, als wenn man ihn normal kocht, bestelle ich den ›Goldblatt‹ eben ohne Kaffee.«

»Und was bringt das?«

»Na, dass ich die Illusion hab’, auch in diesen Zeiten einen ›Goldblatt‹ bestellt zu haben.«

»Mein Gott, wann werden wir wieder eine Schale Bohnenkaffee bekommen?«

»Als Mitglied des Kriegspressequartiers antworte ich Ihnen: Sobald unsere glorreiche Armee den Feind besiegt hat. Inoffiziell, als Ihr Freund, sag ich nur: Lang kann das nicht mehr so weitergehen. An allen Ecken und Enden merken wir es jetzt auch bei der Armee. Die Mangelwirtschaft gibt den Ton an. Es ist schrecklich. Einfach nur schrecklich.«

Nechyba rückte ganz nahe zu Goldblatt und murmelte:

»Der Scheißkrieg muss endlich aufhören und …«

Er wurde von einer lauten Stimme unterbrochen:

»Leutnant Goldblatt, na, so eine Überraschung!«

Goldblatt erschrak, stand auf und salutierte.

»Ist schon gut, lieber Freund. Setz’ dich, setz’ dich …«

»Darf ich vorstellen? Oberst Eisner-Bubna, Leiter des Kriegspressequartiers. Oberinspector Nechyba, er arbeitet im Polizeiagenteninstitut.«

»Charmant, charmant! Da sitzen Vertreter der zwei wichtigsten Säulen unseres Staates beisammen: Armee und Polizei. Da setz’ ich mich doch glatt dazu. Meine Herren, was trink ma?«

»Ich hab’ gerade ein Stamperl37 Trebern bestellt.«

»Genial, Goldblatt! Einfach genial. Herr Ober!«

»Der Herr Oberst wünschen?«

»Der Herr Leutnant hat einen Trebern bestellt. Das geht net. Bringen S’ uns die ganze Flasche … und drei Gläser … weil ma da so charmant beisammensitzen, Armee und Polizei.«

Zwei Piccolos38 stellten einen Zusatztisch auf. Darauf kam in einem Eiskübel die Flasche Trebern. Der Oberkellner schenkte den drei Herren mit eleganter Geste ein. Der Oberst erhob sein Glas.

»Also servus, gell. Auf unsere siegreiche Armee und unsere tüchtige Polizei!«

Die drei Herren schütteten den Schnaps hinunter und stellten die Gläser mit klirrendem Geräusch zurück auf die marmorne Platte des Kaffeehaustisches. Der Oberst räusperte sich und sagte:

»Also, wo war ma vorher stehen geblieben? Wo hab’ ich euer Gespräch unterbrochen, meine Herren?«

Nechyba verdrehte die Augen und bemühte sich, keinen roten Kopf zu bekommen. Goldblatt antwortete kühl:

»Bei Klimt. Der is’ nämlich g’storben.«

»Klimt? Muss man den kennen?«

»Er war Präsident der Secession und Star der Kunstausstellungen in den Jahren 1908 und 1909. Sein Bild ›Der Kuss‹ wurde sogar vom Ärar39 erworben.«

»Ich erinner’ mich dunkel … viel Gold … viel Gold, nicht wahr?«

»Touché, Herr Oberst. Klimt liebte es, Gold in seinen Gemälden zu verwenden.«

»Auf das Gold! Auf das Gold dieser Welt trink ma jetzt, prost, meine Herren!«

Wieder kippten Nechyba, Goldblatt und Eisner-Bubna ihre Stamperln hinunter. Danach herrschte ergriffene Stille. Plötzlich kniff der Oberst die Augen zusammen und fragte Goldblatt leise:

»Sag, Herr Leutnant, hat dieser Kimt oder Zimt oder wie er g’heißen hat, hat der nicht auch Nackerte g’malt? Nackerte mit viel Gold?«

»Herr Oberst, du hast ein exzellentes Gedächtnis und einen ausgezeichneten Kunstgeschmack.«

»Jaja … meine Frau Mama hat immer wollen, dass ich Künstler werd’. Aber mein Herr Papa hat mich in die Militärunterrealschule gesteckt. Na ja … fotografieren … nicht wahr … tu’ ich schon gern, da sagt man mir auch ein gewisses Talent nach. Aber dieser Zimt … alle Achtung! Der hat was können, der hat Nackerte gemalt à la bonne heure.«

Der Oberkellner schenkte neuerlich die Stamperln voll. Eisner-Bubna ergriff seines, erhob es und sagte feierlich:

»Auf den alten Zimt und auf die Hunderttausende Braven, die in unserer glorreichen Zeit für Gott, Kaiser und Vaterland ihr Leben geben …«

Er hielt inne und fügte leise hinzu:

»… und auf die feschen nackerten Madln von Wien!«

35 minderwertige Menschen

36 lautstark klopfen

37 Schnapsglas

38 Kellnerlehrlinge

39 Staat

1 052,39 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
283 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839256121
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
177